Reden wir über Gewalt

Ellwangen Nun wird diskutiert, wie der Staat Recht und Gesetz durchsetzen kann. Wir täten besser daran, die Gewaltförmigkeit dieses Rechts zu hinterfragen
Die Frage lautet, welche gewaltförmige Handlung legitimer ist. Der Widerstand von Geflüchteten gegen Abschiebung oder die Durchsetzung rechtlicher Ordnung, nach der es legal ist, Geflüchtete abzuschieben
Die Frage lautet, welche gewaltförmige Handlung legitimer ist. Der Widerstand von Geflüchteten gegen Abschiebung oder die Durchsetzung rechtlicher Ordnung, nach der es legal ist, Geflüchtete abzuschieben

Foto: Thomas Niedermueller/Getty Images

„Doch ob das, was in Ellwangen geschah, 'Angriff' und 'Gewalt' zu nennen ist, ist zweifelhaft“, schreibt Christian Jakob in der taz. Als Redakteur für Recherche machte er das, was die eigentliche Aufgabe von Journalist*innen ist: herausfinden, was in dem baden-württembergischen Flüchtlingslager seit Montagmorgen konkret passiert ist. Während Jakob recherchierte, ist aber längst die Debatte entbrannt: Was kann der Staat gegen Gewalt von Geflüchteten tun?

Der taz-Artikel zeigt, dass diese Frage falsch gestellt ist, weil sie von einer falschen Prämisse ausgeht – von der Prämisse nämlich, dass die Geflüchteten die vier Polizeibeamten angegriffen hätten, der nach genauer Schilderung des Hergangs widersprochen werden muss. Wie Jakob ausführt, wurden die Polizisten von 150 Bewohnern der Einrichtung derart bedrängt, dass sie den Togoer wieder laufen ließen und sich zurückzogen, die geplante Abschiebung also abbrachen. In einer Pressemitteilung der Polizei war dann am Mittwoch die Rede „aggressivem“ und „drohendem Verhalten“, außerdem sei durch das „Schlagen mit den Fäusten auf die zwei Streifenwagen ein Dienstfahrzeug beschädigt worden“.

Wo bleibt der Angriff? Bei linken Aktionen würde solch eine Verhinderung der Abschiebung wohl als „massenhafter ziviler Ungehorsam“ bezeichnet werden: Menschen entscheiden, dass das durch einen Staat durchgesetzte Recht aus humanitärer Perspektive ein derartiges Unrecht darstellt, dass es für sie zur Pflicht wird, sich diesem „Recht“ zu widersetzen. Widersetzen, so nennen Aktivist*innen Sitzblockaden gegen Naziaufmärsche, so wurden auch Castor-Transporte blockiert: Neonazis und Atomkraft werden als so gefährlich für die Gesellschaft wahrgenommen, dass der Widerstand gegen die eigentlich legalen Aufmärsche und Transporte legitim wird. Dabei wird keine Gewalt gegen Menschen ausgeübt, wohl aber entschieden Widerstand geleistet und versucht, den Staat an der Ausübung seiner Macht zu hindern, die darin besteht, das illegitime „Recht“ zu schützen. Als „ziviler Ungehorsam“ wurden auch die Proteste von Schülern in Nürnberg vergangenes Jahr bezeichnet, die einen Polizeiwagen übrigens ähnlich umringten wie die Geflüchteten in Ellwangen. War das keine Gewalt, weil die Schülerinnen weiß und lieb aussahen? Und aufgebrachte schwarze Männer viel bedrohlicher wirken?

Gewaltförmige Zustände führen zu gewalttätigen Handlungen

Die Frage, die nach den Geschehnissen in Ellwangen zu stellen ist, ist also nicht, was der Staat gegen Gewalt von Geflüchteten tun kann. Die Frage ist vielmehr: Welche gewaltförmige Handlung ist legitimer – der Widerstand von Geflüchteten gegen Abschiebung nach der Armut und Folter drohen, oder die Durchsetzung rechtlicher Ordnung, nach der es legal ist, Geflüchtete abzuschieben, und nach der es ebenso legal ist, Geflüchtete in Lagern einzupferchen?

Gewaltförmige Zustände führen zu gewalttätigen Handlungen, das ist bekannt. Womöglich fing die Gewalt in Ellwangen viel früher an als am Montagmorgen, als die Polizisten kamen, um den jungen Mann nach Italien abzuschieben – wo ihm Lager und wiederum Abschiebung nach Togo drohen, wo die soziale Situationen von Geflüchteten eine Katastrophe ist. Womöglich fing sie schon dort an, wo die 500 jungen Geflüchteten in dem Lager in Ellwangen zusammengepfercht wurden. Womöglich fing sie schon dort an, wo der Staat ihnen mit Abschiebung drohte, mit einem Akt der Gewalt, der sie gegen ihren Willen in ein Land zwingt, aus dem sie häufig vor direkter Gewalt wie Krieg und Folter, mindestens aber gewaltförmigen Zuständen, vor Verzweiflung und Armut geflohen sind.

Denn dass Abschiebung Gewalt ist, das wissen auch die Polizisten. „Selbst im privaten Freundeskreis werden Kollegen, die an Abschiebungen teilnehmen, angefeindet", sagte etwa Ernst Walter, Vorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, in Bezug auf Proteste gegen Massenabschiebungen nach Afghanistan. Die Bundespolizei hat Probleme, Freiwillige zu finden, die die Abschiebung durchzuführen bereit sind.

Ähnlich äußerte sich nach dem Vorfall in Ellwangen auch der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow. „Wir sind keine Wachbataillone“, sagte er im Bayerischen Rundfunk. Den Plan Seehofers, die sogenannten „Anker-Zentren“ einzurichten, in denen Geflüchtete gegen ihren Willen – wieder gewalttätig – festgehalten werden sollen, kritisierte Malchow scharf: „Das sind Menschen, die sich heute frei in der Bundesrepublik Deutschland bewegen dürfen, dann sollen sie auf einmal eingesperrt werden. Ob das die neue Willkommenskultur ist, weiß ich nicht."

Ellwangen zeigt: Diese Migrationspolitik ist gewaltförmig

Was Zivilgesellschaft und selbst die Polizei offensichtlich als Gewalt wahrnehmen, ist für den baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobel (CDU) jedoch „Recht und Gesetz“, das von dem Rechtsstaat „konsequent umgesetzt“ werden muss. Auch Innenminister Seehofer sieht die Gewalt nicht in den Lagerbedingungen oder in der Abschiebung, sondern in dem widerständigen Akt der Geflüchteten, die er als "Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung" bezeichnet – als Gewalt. Und selbst Deutschland-Sprecher des UN-Flüchtlingswerks UNHCR, Dominik Bartsch, sagte, eine Abschiebung rechtfertige „keinen aggressiven Widerstand“ und „erst recht keine Gewalt“.

Was also ist Recht, was ist Gewalt? Zu dieser Frage gesellt sich eine dritte, übergeordnete: was ist legitim? Die Internierung von Geflüchteten in Lagern, Abschiebung, der Widerstand gegen Abschiebung, die Verteidigung des Bleiberechts? Um diese Fragen entbrennt ein Kampf in der Gesellschaft, und das ist gut so. Die Entladung von Gewalt, die diese Woche in Ellwangen beobachtet werden konnte, ist nur das Sichtbarwerden der Gewalt, die als „Anker-Zentren“ und „Rückführung“ verharmlost stattfindet und verschärft stattfinden soll.

Die Diskussion darüber, welche Migrationspolitik in einer Demokratie legitim ist und welche nicht, muss dringend geführt werden; denn Seehofer ist schon längst dabei, seine Vision durchzusetzen. Im Wesentlichen besteht diese darin, Geflüchtete und Migrant*innen durch Internierung von der Integration abzuhalten und möglichst schnell wieder los zu werden – auch mittels Gewalt. Bei der martialischen Abschiebung in Ellwangen sind am Donnerstag übrigens elf Bewohner verletzt worden. Zwei sind aus dem Fenster gesprungen. Ist diese Politik legitim? Was Ellwangen zumindest zeigt: Diese Politik ist gewaltförmig. Und gewaltförmige Zustände bringen stets neue Gewalt hervor.

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