Rudel der Schuhgucker

Gender Das Patriarchat unterdrückt auch Männer. Aber warum wehren sie sich nicht?
Ausgabe 40/2018

Es gibt Männer, die wirklich unter dem Patriarchat leiden. Viele Männer. Denn richtige Obermacker gibt es nur wenige, die meisten beugen sich dem Terror, der von Ersteren ausgeht. Und leiden. Warum erheben sie sich nicht gegen das Patriarchat?

Letztens habe ich so einen Mann im Zug getroffen. Es war ein Regionalexpress nach Hannover. Ich landete in einem Wagen, der einem Rudel von fünf angetrunkenen jungen Männern gehörte, Borussia-Dortmund-Fans. Es war früher Nachmittag. Nach Fußballspielen werden alleinreisende Frauen von Zugbegleitern eingesammelt, damit ihnen die betrunkenen Männer nichts antun. Aber so spät war es noch nicht. Der Boss gibt sich schnell zu erkennen. Er nimmt drei Sitze ein: links und rechts von sich hat er Bierdosen, eine Bluetooth-Box und Zigaretten verteilt, auch seine Beine verteilt er über drei Sitze. Dicke Eier. Die anderen sitzen ihm gegenüber. „Ein scheiß spießiger Wagen ist das! Alle hier: keine Ahnung von Party!“, pöbelt er. Es ist eine Kampfansage. An uns. An die rund 20 Menschen, Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters, die mit mir im Wagen stehen. Wir alle verstehen die Ansage, mucksmäuschenstill, eine Fahrt von fast einer Stunde, ohne dass auch nur einer einen Ton von sich gibt.

Patriarchen halten den Blick

„Was ist denn eigentlich mit deinem Prozess?“, pöbelt er seinen Kumpel gegenüber an. Der lacht dreckig, „joa, muss nächste Woche aussagen“. „Was sachst‘n du? Dass du der Fotze nichts getan hast, kannste ja schlecht behaupten, so, wie die hinterher aussah.“ Brüllendes Lachen bei vier der fünf Typen. Vier? Ich schaue den an, der nicht so laut gelacht hat. Er ist der Jüngste, vielleicht 18 Jahre alt, und lacht nur leise vor sich hin. „Ich sach einfach: Ich fand die geil, deshalb hab‘ ich sie mir ordentlich vorgenommen!“ Der junge Typ lacht wieder unsicher mit, beim Umherschauen trifft er auf meinen Blick. Und senkt ihn sofort.

Wer den Blick senkt, ist kein Obermacker. Die echten Rudelführer senken ihn nicht, das ist ihr Ding: der zu sein, der den Blick hält. Der Junge ist der Unterwürfige in der Runde. Kann man also auf ihn bauen? Wenn die sich auf mich einschießen – ich passe zwar nicht in ihr Beuteschema, bin aber die jüngste Frau hier – kann ich dann auf ihn zählen?

Mein Blick wandert weiter herum und sucht die Augen der anderen. Der Mann vor mir, Mitte 30, blaue Regenjacke: starrt auf den Boden. Der große Mann neben mir, korpulent, rotes Gesicht: blickt auf den Boden, Schweiß auf der Stirn. Ich schaue die Frau mit den kurzen Haaren an, die hinter den Typen sitzt: Sie schaut zurück, ohne mit der Wimper zu zucken, und nickt leicht. Bingo. Verbündete. Schnell schauen wir wieder weg. Nicht, dass der Macker unseren Blick entdeckt.

„Das wievielte Verfahren ist das jetzt eigentlich?“ „Fünftes.“ Anerkennendes Nicken. Der Verfahrens-Typ ist Nummer zwei im Rudel. „Ey, Stephan!“, ruft der Rudelführer jetzt quer durch den Wagen, das Gesicht des jungen Typen schnellt hoch, die blauen Augen schauen stolz, angesprochen zu werden, „ja?“ „Hast‘n du jetzt schon gefickt?“

Es stimmt: Männer leiden auch unter dem Patriarchat. In der Hierarchie weit oben sind nur wenige, alle anderen buhlen um seine Anerkennung, und wer sie nicht bekommt, der wird fertiggemacht. In Mülltonnen gesteckt. Als Loser beschimpft. Gefragt, ob er schon gefickt hat.

Der arme Kerl windet sich nun auf seinem Klappsitz, unter den Augen all dieser Fahrgäste, die sich trauen, ihn anzustarren, weil er kein Patriarch ist und der Patriarch ihn unseren Blicken zum Fraß vorgeworfen hat. „Joa“, sagt der Jüngling, seine Augen wandern den Gang entlang, schließlich traut er sich, den Rudelführer flüchtig anzuschauen, „joa, ma‘ schau‘n, ne?“ „Gibt‘s doch nicht! Fick endlich mal!“ Sonst – was? Sonst wird er aus dem Rudel geschmissen?

Viele Männer leiden unter dem Patriarchat, können sich Feministinnen nicht mit ihnen verbünden? Sich solidarisieren? Erstaunlicherweise sind die meisten von ihnen außer Stande, etwas gegen dieses System zu unternehmen, das in der Lage ist, einen Wagen von 20 Personen unter die Kontrolle eines Angetrunkenen zu bringen. Es gibt nur eine Situation, in der diese Männer Kritik am Patriarchat äußern: nämlich dann, wenn Frauen sie dafür kritisieren, mitzumachen. „Halt, wir sind gar nicht alle Täter!“, protestieren sie dann, „wir leiden ja auch unter den bösen Patriarchen! Vielleicht sogar mehr als Frauen“.

Angst vor der Erniedrigung

Sie halten es nicht aus, dass Frauen offen über ihr Leid unter dem Patriarchat sprechen, aber ihr eigenes nie erwähnt wird. Warum tun sie es nicht selbst? Warum gibt es keine antipatriarchale Männerbewegung? Ich denke, ein Grund ist: Die meisten dieser Männer hoffen insgeheim, doch noch die Anerkennung des Obermackers zu erlangen. Ich glaube, ein Möchtegern-Patriarch will, dass all die Verletzungen, die das Patriarchat ihm angetan hat, endlich aufgewogen werden, indem seine Männlichkeit doch noch anerkannt wird, und das kann keine Feministin, das kann kein anderer Mann, der unter dem Patriarchat leidet – das kann nur einer: der Rudelführer.

Die Männer um mich herum haben irre Angst davor, von dem Patriarchen ein weiteres Mal erniedrigt zu werden. Von diesem betrunkenen Idioten! Statt über sein Dicke-Eier-Gehabe zu lachen, statt sich – zu zwanzigst! – den Raum zurückzuerobern, den dieser Macker hier sich gerade nimmt, unterwerfen sie sich, damit er sie nicht wieder in die Mülltonne steckt. Solche Männer lachen in einer großen Runde mit, wenn sich der Macker über Frauen lustig macht. Sie nutzen es aus, wenn eine Frau wieder und wieder unterbrochen wird, um selbst Redezeit zu bekommen. Sie sind Mit-Lacher, Mit-Täter, oder besser: Mit-Patriarchen. Ihre Männlichkeit ist ihnen wichtiger als unsere Rechte, sie sind fähig, uns dafür zu opfern, im Büro, auf der Straße, in der Familie.

Wie gern würden Möchtegern-Patriarchen alles rauslassen! Ihr ganzes Leid, vom Sandkasten bis zum Abschlussball, all die Verachtung, die ihnen entgegengebracht wurde! Ein #MeToo des gescheiterten Patriarchen, alle Welt soll endlich darüber sprechen, was Männer zu durchleiden haben! Aber sie trauen sich nicht. Wenn sie zugeben, wie sehr sie unter dem Zwang zur Stärke leiden, wenn sie öffentlich weinen, dann ist das Verrat am Patriarchat. Dann sind sie raus, für immer. Das riskieren sie nicht. Also hassen sie stattdessen die Feministin, die für ihr Leid Anerkennung bekommt, und die noch dazu ihn, den Möchtegern-Patriarchen, anprangert, als wäre er ein Patriarch. Wie ungerecht! Der Möchtegern-Patriarch hasst beide: den Patriarchen und die Feministin. Aber er liebt das Patriarchat, denn er liebt die Vorstellung von sich als erfolgreichem Macker.

Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid mit diesen Männern hätte. Das habe ich. Dicht gefolgt von Verachtung. Denn gleichzeitig über die Zwänge des Patriarchats zu jammern und weiter die Privilegien einzustecken, das ist lächerlich. Die Auf-ihre-Schuhe-Glotzer wissen das, sie winden sich in Scham. Wer unter dem Patriarchat leidet und es für falsch hält, soll sich gefälligst auflehnen. Warum tun sie es nicht? Feministinnen, Schwule, Transsexuelle riskieren dabei ihre körperliche Unversehrtheit, manchmal ihr Leben. Und heterosexuelle Männer? Was fürchten sie? Lebenslange Erniedrigung? Kastration? Dass Frauen am Ende doch den Macker vorziehen und sie als Loser fallen lassen? Ich würde es gern erfahren. Aber seit die #MeToo-Debatte abklingt, bleiben auch die verteidigenden Beiträge über das Leid der Männer aus.

Dabei gibt es sie, die nichtpatriarchalen Männer. Sie reagieren nicht auf patriarchale Provokationen. Sie lassen sich nicht erniedrigen: weil die Achtung von Patriarchen ihnen nichts wert ist. Sie verzichten auf Privilegien und unterstützen Frauen, ohne dafür eine Trophäe zu erwarten. Wenn sie traurig sind, dann weinen sie. Ganz selbstverständlich. Es sind leider (noch?) sehr wenige. Und keiner von ihnen ist hier bei uns im Wagen.

Der Obermacker schaut mich jetzt an, er will mich dafür bestrafen, dass ich nicht mehr demütig auf den Boden blicke. Ich starre zurück. „Scheiße, nur hässliche Fotzen hier im Zug!“, brüllt er unter dem Gegröle seiner Kumpels. Hinter mir blicken die Männer intensiv auf ihre Schuhe. Vor mir streckt sich meine Verbündete alarmiert vor. Ich schaue den Jüngling an, er lacht, jetzt traut er sich, mich anzusehen, er lacht mir die Überlegenheit seines Obermackers ins Gesicht. Mein Mitleid weicht der Verachtung. Wenn der Macker heute nach dem Spiel wieder eine Frau verprügelt, wird dieser Knilch hier dabei zusehen. Und er ihn auffordert, diese Frau endlich zu ficken, dann wird er es tun. Er wird jede Chance ergreifen, Frauen zu unterdrücken, um im Patriarchat aufzusteigen. Das trennt uns. Verbünden könnte uns nur eins: der kollektive Verrat am Patriarchat.

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