„Come on! Im Ernst? Damit kommst du niemals durch!“ Es ist dieser Satz, der mir nach dem Lesen der Spiegel-Enthüllung über die Betrugsfälle von Claas Relotius am meisten nachgehangen hat. Weil Relotius damit durchgekommen ist. Genauer: weil er damit durchgekommen ist, obwohl er selbst gesehen hat, wie dick aufgetragen seine erfundenen Storys waren. Weil es ihm aufgefallen ist, aber nicht den Redaktionen, nicht den Kolleginnen, nicht den Jurys. Es steckt mehr in diesem Satz als die Angst, entdeckt zu werden. Darin steckt eine stille Übereinkunft. Die unausgesprochene Übereinkunft, dass zwar jeder sehen kann, dass Relotius hier so dick aufgetragen hat – dass seine Story hier zu glatt ist, als dass es hätte genau so passiert sein können. Und trotzdem niemand etwas sagt. Weil alle diese Story wollen, in der alles so perfekt zusammen passt, wie Relotius, aber auch wie viele Leserinnen sie sich vorstellen. Relotius gab, was im Journalismus derzeit gewollt wird, was erfolgreich ist, und er gab es auch dann, wenn die Realität diese Story nicht mehr hergab. Was ist nun das Problem? Dass die Realität die Story nicht hergab – oder dass alle es so haben wollten, wie sie es sich ohnehin schon gedacht haben?
Ersteres scheint die Gemüter gerade mehr aufzuregen. Das liegt natürlich am Ruf, den der Spiegel vor sich herträgt. Dass ausgerechnet dem Spiegel das passiert! Dem Spiegel mit seiner riesigen Rechercheabteilung, mit seinem Anspruch, alles Angaben und Fakten ganz genau zu überprüfen und nachzurecherchieren. Kann man überhaupt alles genau nachprüfen? Diese Frage stellt Ullrich Fichtner in seiner „Story“ über Relotius. Wo endet die Realität, wo fängt die Fiktion an? Hätte man herausfinden können, dass Gayle Gladdis nur erfunden ist, die Frau, die sich die Ausführung von Todesstrafen ansieht? Wieso ist es dem Spiegel nicht gelungen, diese Fakten zu prüfen?
Natürlich sind all dies wichtige Fragen für den Journalismus, insbesondere in Zeiten von Fake News. Vertrauen entsteht über gute Recherche und genaue Prüfung der Fakten, das ist die Basis des Journalismus, das ist auch die Basis jeder Reportage. Aber was, wenn Gayle Gladdis wirklich existiert hätte? Wenn sie sich wirklich immer vorne in den Bus setzen würde, weil ihr sonst schlecht wird? Was wäre das für eine Story gewesen? Die Geschichte einer US-Amerikanerin, die so sehr an die Todesstrafe glaubt, dass sie ihrer Pflicht nachkommt, als Zeugin zu fungieren. Eine aalglatte Konservative, die in ihrer Bibel blättert, so viel, dass sie schon ganz abgegriffen ist, und genau weiß, wo sie das 3. Buch Mose aufblättern muss, „Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben.“ „Passt alles perfekt“, schreibt Fichtner, „Stimmt nur nicht. Nichts davon.“ Das Problem ist aber vielleicht nicht, dass nichts davon „stimmt“. Das Problem ist vielleicht nicht die bewusste Lüge, die Erfindung, sondern eine Fiktion, die schon weit vorher beginnt: schon in der Story, die erzählt werden soll. Die perfekte Story der perfekten Konservativen. Wie im Bilderbuch. Diese Geschichten kommen gut an, es sind Märchen, die alle Klischees bedienen. So stellen Europäer sich die Konservative in den USA vor: tief gläubig, bibeltreu, dreht dreimal den Schlüssel um, schaut sich die Vollstreckung von Todesstrafen an. So stellt sich auch Relotius sie vor, so schreibt er sie uns auf, und alle sind zufrieden. Wie im Hollywood-Kino. Das Problem ist: selbst wenn es Gayle Gladdis gegeben hätte, hätte es sie wohl kaum so gegeben, wie Relotius sie aufgeschrieben hätte. Sondern widersprüchlicher. Sie wäre ein Mensch gewesen, und keine Story-Protagonistin.
Sagen, was ist, das ist das Leitmotto des Spiegel. Aber der Spiegel bringt große Storys, und Storys zeigen nicht, was ist, sondern erzählen eine Geschichte dessen, was vielleicht so ist. Die großen Storys, die Relotius gesucht hat, erzählen von großen, besonderen Menschen, von Kindern, die in ihrem Elend plötzlich die Weisheit besitzen, kluge Lieder über ihr eigenes Schicksal zu singen, von US-amerikanischen Kleinstädten, deren Bewohner Mexikaner hassen und Trump wählen.
Die große Story des Hochstaplers Relotius
Auch Fichtner geht in seiner „Enthüllungsstory“ über Relotius so vor. Er erzählt die große Story des großen Hochstaplers Relotius, psychisch krank, wagemutig zwischen Glanz und Elend balancierend. Relotius wird zum Helden einer Tragödie, spannend aufgeschrieben wie ein Hollywood-Thriller. Nur macht es sich der Spiegel so ein bisschen zu einfach – wie es sich Relotius schon zu einfach machte. Es gibt nicht das große Spektakel, die große Enthüllung, den großen Hochstapler. Die Geschichte steckt voller Widersprüche, und Relotius' Hang zur Hochstapelei ist bei weitem nicht das einzige Problem darin, auch wenn die Story uns das vorgaukeln möchte. Wer aber nur der Story folgt, der verliert den Blick für das Wesentliche. Nämlich für das, was ist. Und das ist in den allermeisten Fällen wesentlich komplizierter als eine Story.
Nehmen wir die Story aus Fergus Falls in Minnesota. Relotius fuhr also hin, um Trumps erste Monate „aus der Perspektive derer anzuschauen, die den großen Donald mutmaßlich gewählt hatten: Amerikaner vom Land.“ Der Plan war, schreibt Fichtner, „dass sich Relotius in Fergus Falls einmietet, Leute kennenlernt, zuhört, und ein kleines Zeitbild aufnimmt, das einen die Amerikaner ein wenig besser verstehen lässt.“ Und dann schreibt er: „Der Plan geht schief.“ Moment mal. Was genau an diesem Plan ging denn schief? Relotius hat es nicht geschafft, sich einzumieten? Er schaffte es nicht, Leute kennen zu lernen, zuzuhören? Wohl kaum.
Was schief gegangen ist: Relotius wollte nicht „eine Story“ über Fergus Falls schreiben, sondern „die Story von Fergus Falls“, die in seinem Kopf schon längst geschrieben war. Die Geschichte über „die Amerikaner in der Kleinstadt“, und „die Amerikaner in der Kleinstadt“, die stellte sich Relotius offenbar als Leute vor, die hauptsächlich mit ihrem Rassismus gegenüber Mexikanern beschäftigt sind. „Die“ hat er also nicht gefunden. Aber anstatt, wie es sein Job als Journalist gewesen wäre, darüber nachzudenken, warum die Bewohner von Fergus Falls nicht seinen Vorstellungen entsprechen; anstatt herauszufinden, wie sie denn eigentlich ticken; anstelle herauszufinden, dass sie vielleicht ganz unterschiedlich ticken; anstatt über seine Vorurteile nachzudenken; anstatt darüber nachzudenken, dass Rassismus vielleicht ganz anders funktioniert, als auf einem Schild am Ortseingang; anstatt sich all diese Fragen zu stellen, die sich in Fergus Falls hätten auftun können, und die durchaus Stoff für eine Reportage hätten sein können, hat Relotius einfach die Story aufgeschrieben, mit der er ohnehin schon hingefahren ist.
Storys reproduzieren lediglich Vorstellungen
Das hätte er auch getan, wenn er die Rassisten getroffen hätte, nach denen er gesucht hat. Aber wäre das dann besserer Journalismus gewesen? Wäre er dann nicht immer noch blind gewesen für Abweichungen, Widersprüche – für die Realität? Wäre das nicht reiner Zufall gewesen, der Zufall, dass die Leute in ein Vorurteil passen? Fichtner kritisiert gar nicht, dass Relotius nicht über das geschrieben hat, was er in Fergus Falls tatsächlich vorfand. Er kritisiert, dass Relotius nicht eingesehen hat, dass es in Fergus Falls keine Story gab. „Es gibt einfach keine Geschichte, es lässt sich keine finden“, schreibt Fichtner. Das kann stimmen, muss aber nicht. Vielleicht gab es keine Geschichte – vielleicht gab es aber auch nur nicht die Story, die alle erwartet haben, die alle haben wollten. Sondern eine andere. Eine, die in Spiegel-Reportagen keinen Platz findet.
Der Spiegel hätte von Relotius etwas lernen können. Darüber, dass ein Journalismus, der nur nach Storys sucht, blind zu werden droht gegenüber einer Wirklichkeit, die kompliziert, widersprüchlich und – zum Glück – immer wieder überraschend ist. Anders, als man denkt.
Reportagen sind immer eine Interpretation der Realität, die eine Reporterin vorgefunden hat. Immer, egal, wie detailgetreu und faktenbasiert die Geschichte erzählt wird. Es spielt keine Rolle, ob Relotius 15 Stufen vorgefunden hat oder 23, und ich erwarte von ihm auch nicht, dass er sie zählt. Aber ich erwarte, dass er mir seinen Eindruck von der Situation vor Ort vermittelt. Meinetwegen darf er dazu auch mal ein Lied erfinden, wenn das seinen Eindruck bildlicher vermitteln kann. Ich vertraue einem Reporter, dass das, was er als kleine Ausschmückung dazu erfindet, dazu dient, den ehrlichen Eindruck, den er sich nach vielen Gesprächen gemacht hat, zu vermitteln. Wenn er aber gar nicht bereit ist, einen Eindruck zu bekommen, wenn er nicht bereit ist, sich der Situation offen und möglichst unvoreingenommen zu stellen und seine Perspektive womöglich zu erweitern oder verändern, wenn er nur die eine Story sucht, die seine Vorstellung bestätigt – dann bricht das Vertrauen. Die Überprüfung von Fakten hilft da nicht. Es ist unsere Vorstellung von der Realität, die wir immer neu überprüfen müssen. Eine Reportage wird nie nur die Realität abbilden, sie ist immer Interpretation. Storys aber reproduzieren unsere Vorstellungen nur.
Sagen, was ist. Relotius ist nicht durch die Lüge davon abgewichen, sondern dadurch, dass er gar nicht mehr versucht hat, zu sehen, was eigentlich ist. Wie hätte er es dann noch sagen können? Die Geschichte von Relotius, dem Betrüger, ist nur die halbe Geschichte. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Jurys und Redaktionen von Relotius nicht einfach betrogen wurden, sondern seine Storys hören wollten. Ein bisschen betrogen werden wollten, wie im Hollywood-Kino. Natürlich, Relotius hat die Grenze in die Fiktion überschritten, aber die Illusion fängt in Reportagen schon weit vor der Lüge an. Nämlich in der Story. Und die kann Relotius gut. Er sprach zu uns, er sang zu uns, da war's um uns geschehen: Halb zog er uns, halb sanken wir hin.
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