Schubsen und geschubst werden

Verkehr Männer haben keine Angst. Frauen haben kein Recht
Ausgabe 34/2019
Zwangsräumung der „Ora 35“ in Berlin-Kreuzberg
Zwangsräumung der „Ora 35“ in Berlin-Kreuzberg

Foto: Imago Images/Christian Ditsch

Ich wurde vom Rad geschubst. Es war eine ziemlich peinliche Situation, denn ich fuhr die Oranienstraße in Berlin entlang, wo just die Ora 35, der 20-jährige Kiez-Späti von Zekiye Tunc, zwangsgeräumt wurde. Gentrifizierung. Protestierende standen vor dem Haus, während die Zwangsvollzieherin waltete. Ich war eigentlich schon spät dran, der Redaktionsschluss drückte. Bildunterschriften und Kommentare? Solidarität mit der kämpfenden Zekiye Tunc? Nur fünf Minuten? So eierte ich auf der O-Straße herum, als ein Demonstrant zu mir kam. Er schubste mich vom Rad.

Ich fing mich so halb, das Rad fiel gegen mein Bein, und als ich wieder sicher stand, legte er los, die braunen Augen glühend vor Wut: Er habe die Schnauze voll von „uns“, die wir einfach so an einer Zwangsräumung vorbeirasten, „nur an unsere Arbeit denkend, egoistische Büromenschen“. Er zeigte hinter uns, ich drehte mich um und sah sie, diese Büromenschen, nickte und murmelte so was wie: „Oh. Tut mir leid. Cool, dass ihr hier seid. Ist denn jetzt geräumt?“, und er brüllte: „Jetzt gerade! Jetzt gerade werden sie herausgeholt!“ Dann wurden seine Augen feucht, er fuhr sich durchs Gesicht, wurde leiser: „Ich meinte ja nicht dich persönlich.“

Ich fuhr weiter. Drei Kreuzungen später wurde ich wütend. Da schubst mich einer vom Rad und entschuldigt sich nicht mal? Mehr noch: ich entschuldige mich bei ihm? Ich spürte plötzlich wieder seine Hand auf meiner Schulter.

An der Ampel erinnerte ich mich daran, wie hier vor ein paar Tagen ebenfalls eine Frau geschubst worden war. Es war einer dieser irre langen Touristinnen-Radgruppen. Ganz hinten fuhr eine junge Frau. Als sie als letzte die längst schon rote Ampel passierte, trat ein Fußgänger vor und schubste sie vom Rad: „Ey, es ist rot, du Fotze!“

Nachdem in Frankfurt am Main der Junge und seine Mutter auf die Gleise geschubst worden waren, beichtete ich einem Freund, dass ich manchmal Angst hätte in der U-Bahn. Seit in Neukölln Frauen auf das Gleis und die Treppe herunter geschubst wurden. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Angst“, sagte er.

Am Morgen der Zwangsräumung komme ich gerade rechtzeitig zur Redaktionskonferenz. Vielleicht könnte ich über das Schubsen schreiben? „Was willst du denn schreiben?“ Ein Kollege schaut skeptisch. „Ich weiß auch nicht“, sage ich, „es ist vielleicht kein Zufall, dass ich mehr Angst habe als ihr? Weil eher Frauen geschubst werden? Die zunehmende Aggression mehr abbekommen?“ Er schüttelt den Kopf. „Du hattest einfach nicht das Recht, dort lang zu fahren. War schließlich abgesperrt.“

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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