Geschichte wird gemacht

Solidarität In Deutschland formiert sich ziviler Widerstand gegen die Politik der Seehofers und Salvinis. Die Leute haben genug von rechten Untergangsphantasmen
Helfen statt horsten
Helfen statt horsten

Foto: imago/Tim Wagner

Vorrundenaus – das ist wohl nichts geworden mit dem deutschen Sommermärchen. Umso gebannter schauen die Menschen vor den Bildschirmen seit vergangener Woche nach Thailand, wo sich unter den Augen des Katastrophenfilm-geschulten Weltpublikums ein echtes Sommermärchen abzuspielen scheint: zwölf Fußball-Jungs mit ihrem Trainer in einer Höhle, Spezialtaucher riskieren ihr Leben, um sie durch die verschachtelten, überfluteten Gänge zu retten, der Monsun wirft immer neue Wassermassen ab, der Druck steigt. Fehlt nur noch das Popcorn.

Kinder drohen in einer Höhle in Thailand zu ertrinken: „Oh, wie furchtbar. Hoffentlich kann man sie retten.“ Kinder ertrinken vor unserer Haustür im Mittelmeer: „Tja nun. Selber schuld. Sollen sie eben in Afrika bleiben.“ So lauten die zynischen Kommentare zu den medialen Inszenierungen auf Twitter. Spitzfindige Kommentatoren werfen ein, dass das eine nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hat. Man kann durchaus mit den thailändischen Jungs mitfiebern und gleichzeitig das Ertrinken im Mittelmeer thematisieren. Doch während das Happy End bei der einen Geschichte zum Greifen nah scheint, ist es auf dem Mittelmeer kaum in Sicht. Italiens Innenminister Salvini schließt die Häfen für zivile und militärische Schiffe der Seenotrettung, der deutsche Kapitän der Lifeline steht vor Gericht, der deutsche Heimatminister Seehofer will keine aus dem Mittelmeer Geretteten aufnehmen und Geflüchtete an der Grenze in Transitzentren einsperren, während Salvini wiederum anfängt, in alter faschistischer Tradition Sinti und Roma zu zählen.

Das Leben im Europa des 21. Jahrhunderts ist eben kein Märchenfilm, sagen Zyniker, die Willkommensbewegung ist nicht nur vorbei, sondern auch gescheitert. Merkels Happy-End-Spoiler „Wir schaffen das“? Eine Lüge! So lautete die rechte Version der Geschichte. Und bis vor wenigen Wochen sah es aus, als würde die Geschichte ihnen Recht geben.

Bis vor wenigen Wochen. Denn am 27. Mai erinnerten Zehntausende Menschen in Berlin daran, dass Geschichte nicht geschrieben steht, sondern sich aus dem Handeln jedes Einzelnen zusammensetzt. Bis zu 70.000 vorwiegend junge Leute versammelten sich in der Hauptstadt, um dem rechten Hass der AfD entgegen zu treten. Motiviert von diesem starken Zeichen der liberalen Zivilgesellschaft setzten Aktivist*innen aus der Flüchtlingsunterstützung den Aufruf „Solidarität statt Heimat“ auf und sammelten inzwischen 15.000 Unterschriften gegen den Abschiebungsdiskurs. Und aus diesem Kreis wiederum fanden sich in Berlin, Bremen, Heidelberg und München Aktivisten, die – spontan, parteilos und ohne organisatorische Infrastruktur – innerhalb einer Woche Demonstrationen unter dem Motto „Seebrücke“ für „sichere Häfen“ für Geflüchtete aus dem Boden stampften. Unbezahlt, morgens und abends neben ihren Fulltime-Jobs, nur wenig Zeit für die Mobilisierung – mit 12.000 Demonstrant*innen in Berlin führte ihre Arbeit zum Erfolg.

Ebenso spontan entschied sich Jan Böhmermann dazu, eine Spendenkampagne für die Prozesskosten des in Malta fest gehaltenen Kapitäns der Lifeline zu starten. Deutschlandweit entschieden junge und alte Geburtstagskinder, in diesem Jahr auf Geschenke zu verzichten und stattdessen zu Spenden aufzurufen – die Timelines auf Facebook sind noch immer voll von solchen Postings. Beinahe 200.000 Euro kamen zusammen, gespendet von 8657 Menschen. Und wieder: innerhalb weniger Tage.

Inspiriert von dieser Spendenbereitschaft und der bunten Demonstration in Berlin organisieren nun Aktivist*innen aus verschiedenen Städten spontan weitere „Seebrücken“-Demonstrationen. Im Juli finden Veranstaltungen in Köln, Münster, Essen, Reutlingen, Offenbach und Kaiserslautern statt. Nicht nur die Zivilgesellschaft kommt in Bewegung, auch die Stadt- und Länderregierungen. Nach Berlin erklärten sich Frankfurt am Main, Bonn, Düsseldorf und Schleswig-Holstein dazu bereit, Geflüchtete der Lifeline aufzunehmen.

Während die Linke in den vergangenen Monaten mit immer mehr Bauchschmerzen auf die zynischen Begriffe und Bilder der Rechten starrte – Anti-Abschiebungsindustrie, Anker-Zentren, „sichere Grenzen“ – rennt die Rechte im Netz endlich wieder den von links gesetzten linken Bildern hinterher. „Zugbrücke statt Seebrücke“, twitterte ein Neonazi-Account recht hilflos, „schafft sichere Städte“.

Das bedeutet noch lange nicht, dass die Linke wieder in die Offensive kommt. Aber wenn überall im Land Linke spontan die Initiative ergreifen, wenn daraus eine Dynamik entsteht, die individuelle Kreativität fördert und sich aufeinander in Bezug setzt, ohne zentral geplant zu sein – dann kann man das Bewegung nennen. Die linke Zivilgesellschaft wacht womöglich endlich aus ihrer Starre auf. Weil sie begriffen hat, dass sie nicht mit offenen Augen der Tragödie im Mittelmeer bis zu ihrem bitteren Ende der Perspektivlosigkeit zuschauen kann. Weil sie begriffen hat, dass es sich gar nicht um eine Tragödie handelt – sondern um die konkrete Folge rechter Politik. Die Geschichte im Mittelmeer taugt nicht zum Katastrophenfilm wie die Rettung der Jungs in Thailand, weil die Katastrophe menschengemacht ist und nicht einzigartig, sondern brutaler Alltag, weil sie an jedem Tag neu produziert wird, den Salvini und Seehofer Politik machen. Es hilft also nicht, auf ein bitteres oder trauriges Ende zu warten. Ein Happy End passiert nicht einfach, weil Geschichte nicht einfach passiert. Geschichte wird gemacht.

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