Nach dem Tod einer Radfahrerin bei einem Verkehrsunfall in Berlin kochte die Debatte hoch: Trugen die Klimaaktivist*innen eine Mitschuld an ihrem Tod, weil ihre Straßenblockade ein Bergungsfahrzeug aufhielt? Der langjährige Klimaaktivist Tadzio Müller heizte die Debatte weiter auf, nachdem er in einem Tweet über den Unfall schrieb: „Scheiße, aber: nicht einschüchtern lassen. Es ist Klimakampf, nicht Klimakuscheln, & shit happens.“ Nach Vorwürfen, diese Formulierung sei menschenverachtend, löschte Müller den Tweet. Inzwischen sagte die Notärztin aus, die Spezialtechnik zur Bergung des Unfallopfers wäre auch dann nicht zum Einsatz gekommen, wenn sie rechtzeitig vor Ort gewesen wäre. Die Debatte über die Legitimi
Tadzio Müller: „Ihr macht mich zur Zielscheibe, um die Klimakrise zu verdrängen“
Interview In den Angriffen auf Klimaaktivisten zeigt sich, dass Menschen ihre eigene Verantwortung für die Klimakatastrophe nicht wahrnehmen wollen, sagt Tadzio Müller. Seinen pietätlosen Tweet nach dem Tod einer Radfahrerin bereut er
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Foto: Nikita Teryoshin
imität und die Grenzen des Klimaaktivismus gehen indes weiter.der Freitag: Herr Müller, was dachten Sie, als Sie von dem Unfall der Fahrradfahrerin hörten?Tadzio Müller: Ich dachte: Das ist schrecklich. Für die Frau, die da in Lebensgefahr schwebte. Für ihre Familie, ihre Leute. Und auch für die Klimabewegung und die Debatte über die Klimakrise.Manche Menschen fanden es schon zynisch, den Tod der Frau mit einer Analyse der Folgen ihres Todes für die Klimabewegung in Verbindung zu bringen.Was ich meinte, sind die Folgen des Pushbacks, den wir derzeit gegen die Klimabewegung erleben, und der leider versucht, sich durch den Tod der Radfahrerin zu legitimieren: Je mehr Angriffe es gegen die Klimabewegung gibt, desto mehr Aktivismus wird es geben, desto mehr Leute werden das Gesetz brechen, desto mehr Angriffe gegen den Aktivismus wird es geben. Überall steigt also die Radikalität, verschärft sich der Ton, steigt die Aggression, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit an, dass tragische Dinge passieren. Dass Menschenleben in Gefahr geraten.Ihren Tweet beendeten Sie mit den Worten: „shit happens.“ Das ist auch eine Verschärfung des Tons, eine Verrohung der Debatte, oder?Das klang total respektlos, und deshalb wirkte dieser Tweet leider absolut empathielos. Ich habe nicht sofort gemerkt, wie rabiat die Formulierung wirkt. Erst später überlegte ich: Was, wenn jemand aus dem Umfeld dieser Frau den Tweet gelesen hat?Sie sind ja auch sonst nicht für Zurückhaltung bekannt, nennen sich selbst BDSM-Hure, nennen Deutschland einen amoralischen Sauhaufen, rufen nach Sabotage ...Sicher ist mein ruppiger Ton auch Folge einer gewissen Frustration darüber, dass Deutschland sich einredet, man könne Klimaschutz zum Nulltarif machen. Eine Klimabewegung darf nach dieser Vorstellung nur zwischen 9 und 17 Uhr protestieren, am besten auf dem Bürgersteig, oder auf dem Bahnsteig mit Fahrkarte. Das ist angesichts der aktuellen Zahlen zum Klimawandel absoluter Wahnsinn. Wir liegen jetzt schon bei über einem Grad Erwärmung!Sie eskalieren also gezielt?Ich rede die Eskalation nicht herbei, sondern ich analysiere: Eskalation ist unvermeidbar. Jetzt, wo Deutschland langsam versteht, dass Klimaschutz Normalität, Wohlstand und Bequemlichkeit kostet – da wird die Gesellschaft eben richtig hart zu uns. Das hat mit dem psychologischen Mechanismus der Verdrängung zu tun: Wir wissen, dass unsere Lebensweise auf der Externalisierung von Ausbeutung und Umweltzerstörung beruht.Sie beziehen sich auf die Analyse der „Externalisierungsgesellschaft“, die unter anderem der Soziologe Stephan Lessenich geprägt hat: Wir erleichtern uns das Leben mit neuesten Iphones, deren Lithium anderswo Umweltkatastrophen und bewaffnete Konflikte provoziert.Genau. Dafür, dass wir hier gemütlich leben können, passiert woanders Schlimmes. Damit das für uns funktioniert, müssen wir also verdrängen. Denn das finden wir ja eigentlich nicht so gut. Das heißt, wir wissen eigentlich, dass wir ganz oben auf der globalen Pyramide von Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt sitzen. Das weiß echt jeder. Luisa Neubauer hat gerade im Deutschlandfunk gesagt: „Wir müssen Anstand zeigen.“ Wir wissen alle sofort, was sie meint, denn wir wissen: Wir sind nicht anständig! Wir verhalten uns wie ein unmoralischer Sauhaufen.How dare you.Wieso reagieren Menschen so unfassbar wütend, wenn Greta da steht und sagt: How dare you? Warum rasten Menschen aus, wenn Klimaaktivisten sagen: Wir müssen unsere Lebensweise ändern? Weil Greta, weil Klimaaktivist*innen genau das sagen, was sie verdrängen! So, und jetzt muss man verstehen, wie Verdrängung funktioniert. Sigmund Freud schreibt von der Rückkehr des Verdrängten: Verdrängtes ist nicht weg, Wissen über Ungerechtigkeit und Elend löst sich nicht auf, es drängt immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins. Der Mensch will das verhindern, weil er sich ja nicht mit negativen Emotionen auseinandersetzen will, oder gar damit, dass er Grundlegendes ändern muss. Er verdrängt also erneut. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Zum Beispiel Selbstbetrug zur Lösung kognitiver Dissonanz. Oder: Projektion.Und Projektion heißt: Die Klimaaktivistinnen sind schuld an der Klimakrise?Im Prinzip schon. Projektion heißt: Die Wut darüber, dass ich auf Kosten des globalen Südens lebe, also Überschwemmungen, Armut, Hunger und Elend, und viele, viele Tote für mein Leben mit Auto, Einfamilienhaus und Urlaubsflügen in Kauf nehme – die Wut also auf mich und meine Lebensweise – die übertrage ich auf die bösen Klimaaktivist*innen, die mir den Spiegel vorhalten. Warum? Ganz einfach: Verdrängtes soll weiter verdrängt werden! Wenn es aber nicht weg geht, dieses miese Gefühl, dieser Vorwurf, weil dieser dämliche Spiegel ständig da klebt, auf den Gemälden, auf dem Weg zur Arbeit, dann muss es ...?... weg! Die müssen weg, die Klimaaktivisten!Genau. Wenn du das Verdrängte nicht weiter ignorieren kannst, dann muss es weggeputzt werden. Aber diese Aktionen der Letzten Generation sind halt dafür designed, nicht ignoriert werden zu können.Die Bild hat darüber spekuliert, ob es rechtlich legitim sei, den Aktivistinnen „eine zu kleben“. Und in der Schweizer Weltwoche schreibt Ralf Schuler: „Jedenfalls sollten wir die Pattex-Pöbler von heute vielleicht am besten einfach umfahren und ihnen die feste Beziehung zum Asphalt auch mal gönnen. Also nicht überfahren, sondern drumherum. Gewalt ist ja keine Lösung. Außer manchmal. Aber das würde hier zu weit führen.“ Fast ein Aufruf zur Gewalt, oder? Haben Sie Angst?Ich stelle zunächst einmal fest, dass auch auf mich viel projiziert wurde. Ich habe ich sehr viele Hassnachrichten bekommen, nachdem die Frau ihren Verletzungen durch den Verkehrsunfall erlegen ist, die sagten: „Tadzio Müller hat die Radfahrerin ermordet.“Wobei die Radfahrerin ja durch einen Unfall mit einem Betonmischer getötet wurde – an einer Kreuzung, die schon lange als zu gefährlich für Radfahrer*innen kritisiert wurde, weil die Radwege hier zu schmal seien.Aber dass Autos zu viel Platz in der Stadt einnehmen und so eine Gefahr für Leib und Leben sind, verdrängen Autofahrer nur zu gerne. Einfacher ist es, einem Klimaaktivisten die Schuld an dem Tod der Radfahrerin zu geben, der einen leider wirklich unsensiblen Tweet darüber schrieb. Ich war bei der Mahnwache für die Verstorbene. Die Kreuzung ist Angst einflößend.Macht es Ihnen Angst, dass sich all die Aggressionen jetzt gegen Ihre Person richten?Die Drohungen gegen mich waren schon heftig. „Müller hat uns den Krieg erklärt. Jetzt können wir zurückschlagen.“ Oder „Du Mörder solltest mal nach Solingen kommen, um das Klima zu schützen. Dann werden meine Freunde und ich dir alle Knochen brechen.“ Dann wurde meine Privatadresse von Neonazis veröffentlicht: Auf dem Portal Reddit, ein Online-Spielplatz für Computernerds, irgendwie verlorene Jungs und Rechtsradikale, und auf Twitter.Woher haben die Rechten Ihre Privatadresse?Sie veröffentlichten nicht meine genaue Adresse, sondern die Straße und mehrere mögliche Hausnummern. Das können die von einer Dokumentation über mein Chemsex-Leben haben, darin sieht man Journalisten vor meiner Tür stehen. Und dann stand am Dienstag plötzlich Bild-TV mit Kamerateam vor meiner Haustür. Ich muss sagen: Das hat mir schon Angst gemacht.Wie war das: Sie schauten runter auf die Straße, und da stand Bild-TV?Nein, ich war unten auf der Straße und gab RTL ein Interview. Als ich dann zurück zu meiner Haustür lief, sprangen die Leute von Bild-TV plötzlich mit Kamera aus ihrem Auto und kamen auf mich zu. Ich wollte erst nicht mit denen reden, dann habe ich es doch gemacht. Das war eine krasse Invasion in meine Privacy, das hier ist mein Space, das ist mein Kiez. Das war wie ein Überfall. Das hat mich gepackt, mich angestrengt und mir ein Gefühl von Angreifbarkeit vermittelt.Spielt in diese Angst das historische Gedächtnis mit rein? Haben Sie an Rudi Dutschke gedacht?Ich glaube, hier müssen wir differenzieren: Die Hetze gegen Rudi Dutschke kam von der Bild-Zeitung und anderen Medien, damals gab es noch kein Socialmedia und keine Shitstorms auf Twitter. Das Shitstorm-Szenario ist ja eines, das gerade nicht in erster Linie weiße cishet-Männer abbekommen, sondern subalterne Subjekte, die in irgendeiner Weise von der Norm abweichen: Junge Frauen, die sich mit feministischen Positionen präsentieren, oder die nur laut und selbstbewusst auftreten – oder die keinen Norm-Körper haben, oder Menschen, die eine eigene Sexualität haben und diese selbstbewusst zeigen. Menschen, die irgendwie abweichen, und die dafür herausgedrängt werden sollen. Die österreichische Ärztin, die sich mit Impfgegnern, aber auch mit Kollegen anlegte, und mundtot gemacht werden sollte – sie beging schließlich Suizid. Oder der „Drachenlord“, ein Youtuber, der zum Opfer von Cybermobbing und dann selbst gegen seine Angreifer handgreiflich wurde. Ich bekomme aber auch mit, wie Hass ganz alltäglich angewandt wird: Gegen Luisa Neubauer, die immer wieder Morddrohungen erhält, oder gegen die Grünen-Sprecherin Ricarda Lang, als diese eine Übergewinnsteuer forderte und dann wegen ihres Gewichts fertig gemacht wurde, oder Sarah Lee Heinrich, die rassistisch angegriffen wird. Mir wurde klar, dass ich hier erstmals etwas erlebe, das viele Frauen und People of Colour schon oft erlebten.Sie machen nicht den Eindruck, als hätte Sie dieser Shitstorm der letzten Tage sehr eingeschüchtert?Ich bin trotz all meiner Queerness, meiner offensiv kommunizierten kommunistischen Einstellung ein akademisch geprägter, weißer, bürgerlicher – nein: groß bürgerlicher, deutscher Mann – mit einer ziemlich patriarchalen Erziehung. Ich habe einen Berg von Privilegien, und dazu ein unnormal großes Selbstbewusstsein. Es ist mega schwer, mich einzuschüchtern. Und darum geht es bei dem Shitstorm. Es geht nicht um das Organisieren von realer physischer Gewalt. Sondern um das Herausdrängen abweichender, unliebsamer Körper und Meinungen. Das schafft man bei mir nicht.Nun ja, herausgedrängt sind Sie schon irgendwie: Twitter hat Ihren Account gesperrt.Okay, mein Hauptaccount bei Twitter wurde jetzt abgeräumt, mit der Begründung, es seien zwei Accounts auf mich angemeldet. Was Twitter schon längst wusste, weil sie den zweiten Account freigeschaltet haben, nachdem meine letzte zeitweise Sperrung aufgehoben wurde – aber so what? Ich ziehe jetzt einen Youtube-Account hoch. Ich plane gerade für eine Twitter-freie Zukunft, da bin ich ja nicht der einzige. Nein, was mir tatsächlich Angst macht, ist nicht der Shitstorm. Was mir Angst macht, ist – Sie haben es angesprochen – das Rudi-Dutschke-Szenario.Placeholder image-1Wer sich nicht erinnern kann: Der Linksradikale Rudi Dutschke wurde in den Jahren der Studierendenproteste der 1960er Jahre von den Medien...... zum Volksfeind Nummer eins hochgeschrieben, bis ihn dann 1968 ein junger Faschist mit einer Pistole auf der Straße erschießen wollte und ihn schwer verletzt hat.Der Faschist rief: „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ und schoss dreimal. Dutschke starb dann 1979 an den Spätfolgen dieser Verletzung.Das Dutschke-Szenario heißt also: Die konservative und rechte Presse schreibt einen rechten Mob in Rage, der irgendwann zuschlägt. Das macht mir Angst, weil ich sehe, wie die konservative und rechte Presse in ihrer Berichterstattung über die Letzte Generation einen Mob in Rage schreibt.Und da sind wir wieder bei Ihrem Tweet: „Shit happens“, ist das nicht genau diese Verrohung, die die Rage schürt?Das war respektlos.Und es hielt nicht gerade den Wert des menschlichen Lebens, der menschlichen Würde hoch.Das stimmt, und das war nicht meine Absicht. Meine Absicht ist diese: In der Debatte über das Klima, die Klimapolitik und die Klimaproteste klar zu machen, worum es hier wirklich geht. Nämlich um Menschenleben. Darum, wie wir hier mit unserer Lebensweise die Normalität von Menschen weltweit nicht nur stören, sondern zerstören. Der Klimagipfel Cop27 beginnt gerade in Scharm El-Scheich. Was wissen wir? Die letzten acht Jahre waren die heißesten überhaupt. Wir sind jetzt schon bei 1,15 Grad Erwärmung. Wir sind mitten im Climate Endgame und spielen um die letzte Möglichkeit, den irreversiblen Klimakollaps zu verhindern. 27 Jahre Klimagipfel haben nichts gebracht, um die globalen Treibhausgase zu reduzieren. Nichts! Die Hitzewelle 2003 kostete allein in Europa zwischen 35.000 und 45.000 Menschen das Leben, 2018 starben in Deutschland 9.000 Menschen an der Hitze. Das sind alte Menschen, die im Sommer einfach elendig gestorben sind, weil ihre Wohnung 30, 35, 40 Grad heiß wurde. Dann haben wir die Überschwemmungen in Pakistan, die Überschwemmungen in Nigeria, wir haben die Feuer, die in den USA wüten und in Indien. Hier sterben Tausende. Wir haben eine Situation, die ich als Klima-Notstand bezeichnen würde. Es macht mir Angst, dass das nicht wahrgenommen wird: das ist sozial brandgefährlich.Was meinen Sie mit „sozial brandgefährlich“?Ich habe große Angst vor den gesellschaftlichen Konflikten, die auf uns zukommen, wenn wir uns jetzt nicht ehrlich machen. Wenn wir weiter verdrängen. Nehmen wir ein Beispiel: Die Proteste gegen den EU-Gipfel in Göteborg 2001. Wir standen am Anfang der Proteste gegen die neoliberale Globalisierung, die eben erst 1999 mit Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Seattle begonnen hatten. 25.000 Leute protestierten in Göteborg gegen eine Politik, die unsere Probleme von heute in die Wege leitete: Privatisierung von Wasser und Energie, Schuldenbremse und so weiter. Ich war dort, um den Gipfel zu blockieren: Mit weißen Overalls, wie heute bei Ende Gelände. Andere Demonstrant*innen begannen Straßenschlachten.Die Polizei war überfordert.Und wie. Es gab zwei Tage Riots, und die Polizei umstellte dann die Schule, in der wir Aktivistinnen schliefen. Ich kam zwei Tage in den Knast. Als ich rauskam, ich sah offensichtlich aktivistisch aus, bedrohten mich zweimal Autos, als ich über Zebrastreifen lief: Sie drohten, mich zu überfahren, gaben also Gas, rasten auf mich zu, und ich musste zur Seite springen. So sieht Eskalation aus, wenn eine Gesellschaft nicht bereit ist für Protest und Veränderung.Und durch eine radikale Sprache versuchen Sie, die Gesellschaft darauf vorzubereiten?Ich möchte mit meiner Sprachwahl dazu beitragen, dass wir in Deutschland auf den Schirm bekommen, worauf wir hier eigentlich zusteuern in der Klimakatastrophe. Meine Sprache soll wachrütteln und das Verdrängen durchbrechen.Sie sprachen vorhin von Notstand. Weil Notstand für Sie zivilen Ungehorsam legitimiert?Die Klimaaktivisten argumentieren, dass es nach Paragraph 34 Strafgesetzbuch ein Recht darauf gibt.Der Wortlaut des Paragraphen: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“Genau. Aber lassen wir das Gesetzbuch mal beiseite: Was soll man denn tun, wenn angesichts dieser Katastrophe einfach weiter Kohle verbrannt wird, und Gas? Wir sagen: Sorry Russland, wir wollen dein Gas jetzt nicht mehr, aber wir kaufen es von Katar? Wir sagen: Willkommen Mohammed bin Salman, saudischer Kronprinz, who the fuck war nochmal Kashoggi? Wir feiern deutsche Autofirmen, die noch immer Weltmeister der fossilen SUVs sind? Und Klimaprotest soll aber bitte nur symbolisch bleiben?Ist Kartoffelbrei auf Gemälden nur symbolisch?Das ist eher Majestätsbeleidigung. Es geht ja nicht um den Van Gogh oder den Vermeer. Museen sind eine Architektur der Macht, genau wie früher Kathedralen. Deswegen ist es ja auch wichtig, was in dem fucking Humboldtforum steht, von wo es herkommt. Wer hat und wer kann es anschauen? Es geht um Macht, und die Klimaaktivisten brechen hier ein, um Ordnung zu stören. Es geht um Störung. Genau wie auf der Autobahn: Leute kommen zu spät zur Arbeit. Ihre Normalität wird gestört, um zu zeigen, dass ihre Normalität anderswo Normalität zerstört.Die Störung von Normalität kann aber auch gefährlich werden: Zwar sagte die Notärztin, dass das Sonderfahrzeug zur Bergung des Verkehrsopfers nicht eingesetzt worden wäre, auch wenn es rechtzeitig vor Ort gewesen wäre. Aber das hätte ja auch anders kommen könnten.Ja, hätte es. Die Störung von Alltag kann immer gefährlich werden, und das preisen wir bei anderen Großereignissen ein: Bei Fußballspielen, bei großen Technopartys, Festivals, bei Gipfeltreffen. Aber um diese Gefahr geht es Klimaaktivist*innen ebenso wenig wie Fußball-Fans. Es geht der Letzten Generation um Störung, nicht darum, Menschenleben zu gefährden.Unterscheidet das das Klimaprotest-Denken auch vom Denken der RAF, die gezielt Menschenleben in Deutschland bedrohte mit dem Argument, es gehe um wesentlich mehr Menschenleben in Vietnam oder im globalen Süden?Ja. Ich halte es, zusammen mit vielen anderen Aktivistinnen, für legitim, Sachbeschädigung durchzuführen. Ich habe das friedliche Sabotage genannt. Ich halte es für legitim, die Infrastruktur zu sabotieren, den Alltag und die Normalität des fossilen Kapitalismus so zu stören, dass diese zerstörende Normalität unterbrochen wird. Aber niemand hält es für legitim, Menschenleben zu gefährden. Es geht um Sabotage. Störung. Unterbrechung.Aber diese Gesellschaft will nicht gestört, unterbrochen, sabotiert werden.Die Gesellschaft sagt: Wir akzeptieren Aktivismus nur so, dass er niemanden stört. Ja. Die Leute, die Normalität erhalten wollen, indem sie das Elend verdrängen, wollen uns still haben. Deutschland ist mega genervt von uns: Wir sollen endlich aufhören, sie daran zu erinnern, dass sich alles hier ändern muss!Wieso eigentlich sind Sie nicht genervt? Sie leben hier doch auch ganz gut, in Ihrer schönen warmen Altbauwohnung, mit Gasheizung ...Ich habe zwischen England, Deutschland und Schweden gelebt, und ich war sehr oft im globalen Süden, meine Mutter kommt aus Brasilien. Und ich bin seit 23 Jahren aktiv in der globalen Gerechtigkeitsbewegung. Für mich ist das Globale der Maßstab. Ich denke global. Ich kann den Rest der Welt nicht verdrängen, dafür ist er zu sehr Teil meines Lebens. Ein Teil der Gesellschaft in Deutschland versucht aber gerade, eine Linie zu ziehen: „Wir denken nur deutsch, höchstens europäisch. Und: Klimaprotest darf nicht stören. Denn Klimaprotest darf den Süden nicht nach Europa bringen.“Markus Söder fordert eine Verschärfung des Strafrechts für Klimaproteste.Genau. Markus Söder macht uns zum Problem, anstatt sich dem echten Problem zu stellen.Projektion?Exakt. Und deshalb werde ich so laut mit meiner Sprache. Ich werde nicht leise, denn dann siegt die Verdrängung. Man muss bestimmte Verdrängungsmechanismen durchbrechen, um Platz für die wichtigen Debatten zu schaffen: Was für Kosten können wir auf uns nehmen, um unseren Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten? Um unsere Pariser Versprechen zu erfüllen? Was können wir tun, um Anstand zu zeigen?
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