Am 5. Februar 2020 brach die CDU in Erfurt ein Tabu: Sie wählte zusammen mit der AfD den FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten. Die Wahl ließ das politische Thüringen kurzzeitig ins Chaos stürzen und die Große Koalition im Bund wackeln. Der Journalist Martin Debes war mittendrin – und analysiert, was auf den Schock der Demokratie folgte.
der Freitag: Herr Debes, ist die Tür der CDU in Richtung der AfD nun wieder geschlossen?
Martin Debes: Ja. Der Schock von 2020 hat die strategische Trennlinie der Union zur AfD verstärkt – wenn auch nicht unbedingt in den Köpfen aller CDU-Politiker in Thüringen.
Jetzt versuchte die AfD erneut einen Coup, sie stellte den CDU-Politiker Max Otte als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl auf.
Und sie scheitert mit dieser Provokation. Die AfD machte Friedrich Merz mit dieser Kandidatur schon fast ein Geschenk, weil er sich damit als frisch gewählter Vorsitzender klar nach rechts abgrenzen kann. Es dürfte einfach werden, Otte aus der CDU auszuschließen. Und: Mit seiner Nominierung ist die Werteunion implodiert.
Der Parteirechte Hans-Georg Maaßen erklärte seinen Austritt aus der Werteunion. Das war 2020 noch undenkbar, oder?
Die Werteunion war mit ihren 4.000 Mitgliedern auch 2020 nur ein Scheinriese. Dennoch konnte Maaßen sie als Plattform nutzen und mit ihr aufsteigen. Er warb für die Wahl eines Ministerpräsidenten mithilfe der AfD, er begrüßte die Amtsübernahme Kemmerichs, er ließ sich in Südthüringen als Direktkandidat aufstellen. Aber alle seine Versuche, die CDU zur AfD zu öffnen, sind vorläufig gescheitert.
Das stellte sich die AfD wohl anders vor, als sie die Abwahl des linken Ministerpräsident Bodo Ramelow feierte …
Die zentrale Taktik der AfD war schon immer die maximale Provokation. Zumindest in der eigenen Klientel funktionieren diese Propagandamanöver sehr gut. Die Basis war begeistert: Man hatte den Ramelow und die linke Regierung abgewählt! Dies stärkte die extreme Rechte um Björn Höcke und schwächte das angeblich wirtschaftsliberale Lager um Parteichef Jörg Meuthen, wobei der damals auch applaudierte.
Er trat jetzt aus der AfD aus.
Das ist der Preis der permanenten Provokation. So wie die AfD im Februar 2020 alle Brücken zur Bundes-CDU abbrannte, so verliert sie jetzt mit der Werteunion ihr letztes wichtiges Scharnier zur Union. Die Provokation von Thüringen bleibt allerdings beispiellos: Dass die AfD im Erfurter Landtag ihren eigenen Kandidaten Christoph Kindervater nicht wählte, war ein kalkulierter Betrug am Parlament, der großen Schaden anrichtete, aber auch die etablierten Parteien bloßstellte. Dass Angela Merkel auf ihrer Auslandsreise als Kanzlerin in Südafrika für die CDU die Rücknahme der Wahl in Thüringen forderte, hat viel zum Schaden beigetragen.
Die AfD klagt deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht.
Vor zwei Jahren zeigte sich in Thüringen, wie Parteipolitik werden kann, wenn es um Machtübernahme und Machterhalt geht. Dann werden die Grenzen der Demokratie auch schon mal ausgetestet …
Zur Person

Foto: Imago Images
Martin Debes arbeitet als Chefreporter für die Zeitungen der Funke-Mediengruppe in Thüringen. Sein Buch Demokratie unter Schock. Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte erschien 2021 im Klartext-Verlag
Wie steht es heute um die Regierung in Thüringen? Rot-Rot-Grün regiert in der Minderheit, der mit der CDU vereinbarte Stabilitätspakt lief aus, als es keine Neuwahlen gab ...
Ja, es gibt keinerlei offizielle Kooperation mehr zwischen der Regierung und der CDU oder gar der FDP. Deshalb gab es auch lange keinen Landeshaushalt für dieses Jahr, erst in diesen Tagen wird er verabschiedet. Jedes Gesetz und jeder Antrag muss im Parlament besprochen werden.
Klingt doch sehr demokratisch?
Das könnte sogar Vorbildcharakter besitzen – wäre in Thüringen nicht alles so besonders verzwickt. Es existieren nun mal große ideologische Barrieren zwischen der Linken und der CDU; die Union hat sogar einen formalen Abgrenzungsbeschluss gefasst. Das macht die gesamte Konstellation so instabil und gibt der AfD die Gelegenheit, ihr Destruktionsspiel zu betreiben.
Sie sehen nicht die unklare Abgrenzung der CDU zur AfD als Ursache für die Wahl Kemmerichs, sondern die instabile Parteienkonstellation?
Ja, als Hauptursache jedenfalls. Es gab keine Mehrheit im Landtag und auch keine Aussicht auf eine formale Duldung einer Minderheitsregierung. Das stellte die parlamentarische Demokratie vor eine sehr komplizierte Situation – und die CDU vor eine Zerreißprobe. Ein kleiner Teil der Basis und sogar der Funktionäre schloss eine Zusammenarbeit mit der AfD zumindest nicht aus. Ein noch kleinerer Teil konnte sich eine Tolerierung der Linken vorstellen. Und dann gab es die große Mehrheit in der Mitte, die beides ausschloss.
Trotzdem wählte die Fraktion mit der AfD!
Man sollte fair bleiben: Das Ja für Kemmerich war kein Ja zur gemeinsamen Abstimmung mit der AfD. Die AfD hatte einen eigenen Kandidaten aufgestellt und ihn in den ersten beiden Wahlgängen auch gewählt. Im dritten Wahlgang erhielt die CDU die Wahl zwischen Kemmerich und Ramelow – und entschied sich für den Liberalen. Die klar sichtbaren Risiken nahmen die meisten Abgeordneten offenkundig billigend in Kauf.
Es gab durchaus Warnungen, dass die AfD Kemmerich wählen könnte.
Aber sie wurden nicht ernst genommen. Ich habe noch am Morgen der Wahl mit dem Ex-Ministerpräsidenten der CDU, Bernhard Vogel, telefoniert. An die Möglichkeit, dass die AfD geschlossen nicht ihren eigenen Kandidaten wählt, sondern Kemmerich – daran hat er einfach nicht geglaubt. Überhaupt waren die meisten Beteiligten mit der Situation überfordert, auch die Linkspartei. Hätte ihr die CDU eine echte Kooperation angeboten, wäre die Partei zerrissen worden. Ramelow hätte sich eine technische Koalition vorstellen können. Doch die damalige Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow und große Teile der Partei hätten dem nie zugestimmt.
So aber brachte die AfD die CDU in eine Situation der politischen Lähmung: Sie konnte nicht für Ramelow stimmen, sie konnte keinen eigenen Kandidaten aufstellen, den die AfD gewählt hätte …
… und sie wollte sich nicht enthalten, weil sie damit den Linken Ramelow und Rot-Rot-Grün an der Regierung gehalten hätte. Man darf nicht vergessen, dass die Ost-CDU vor 1990 zur Nationalen Front unter Führung der SED gehörte. Ihre zumeist verdrängte DDR-Geschichte als Blockpartei wäre wieder thematisiert worden. Hinzu kommt die inhaltliche Nähe zu den gemäßigten Positionen der AfD. Das erste Programm der Thüringer AfD war ein Retro-Programm der CDU der 80er Jahre.
Die Union verhalf also einem FDP-Politiker von AfD-Gnaden ins Amt. Deutschlandweit gab es Proteste gegen diesen „Pakt mit dem Faschismus“ ...
Der Protest kam in Thüringen aus Erfurt, Jena, Weimar, den kleinen urbanen Zentren. Auf dem Land aber sind CDU und AfD stärker. Dort war die Stimmung anders. Viele hielten Kemmerich für einen legitim gewählten Ministerpräsidenten und fühlten sich eher provoziert dadurch, dass vor allem die Linke sofort den Nazi-Vergleich zog.
Sie meinen den Vergleich mit 1924, als der Ordnungsbund in Thüringen mit Tolerierung der Nazis regierte. Den zogen doch auch Historiker?
Es ist ein zulässiger Vergleich, aber keine Analogie. Die Frage, die uns die Geschichte stellt, ist doch die: Bleibt die Ermächtigung der AfD eine Episode oder könnte sie der Beginn einer Entwicklung wie in der Weimarer Republik sein? Wird der Spalt in der Tür zu den Feinden der Demokratie größer oder schließt sich die Tür wieder? Die Ereignisse danach zeigen, dass die Tür wieder zu ist. Vorerst.
Kommentare 7
Etwas mehr Tiefgang wäre nötig ... Wenn man es sich antut und die Landtagssitzungen im Stream verfolgt, kommt man aus dem Staunen nicht raus. Vergleicht man die Reden mit den Reden der 9ziger, so stellt man fest, dass die Linke gegenüber der AfD so argumentiert, wie einst die CDU/SPD gegenüber der frühen PDS. Mit Argumentation hat das wenig zu tun. Es ist eher die Überheblichkeit der Regierenden.
Fakt ist, dass das sogenannte Lager der demokratischen(so bezeichnen sich die Redenden!) Fraktionen es nicht geschafft haben, die Höcke-AfD entscheidend zu schwächen. Im Gegenteil. Nun verfällt man der (einfachen) Logik, dass alle(!) Spaziergänger in der Thüringer Provinz Nazis, Antisemiten, Schwurbler, Querdenker ... sind. Die Linke Landtagsfraktion veröffentlicht dazu "Positionspapiere" und fordert vom SPD-Innenminister mehr Polizei, mehr Knüppel, mehr Analyse ... und dass die Verantwortlichen aus den Telegram-Gruppen gezerrt werden.
Verkehrte Welt! Als Ramelow noch als Oppositions-"Nörgler" unterwegs war, lag sein Hauptaugenmerk immer auf dem Abbau von Bürokratie. Und heute? Man kann es sich denken ... Vielleicht liegt es auch daran, dass seine Minister keinerlei Bezug und Ausbildung(!) zum Ministeramt haben. Man schaue sich nur die Verantwortlichen für das Infrastruktur-/Landwirtschaftsministerium an. Das waren/sind (die Linken) Keller, Hoff, Karawanskij.
Die Linke in Thüringen fühlt sich ganz wohl, Teil des "demokratischen" Spektrums zu sein. Zu wohl!
Zitat: "So aber brachte die AfD die CDU in eine Situation der politischen Lähmung."
Jetzt mal ganz analytisch: Gab es je eine Zeit, wo diese inkompetente Gurkentruppe der CDU, auf Landes- bzw. Bundeebende, in den letzten 20 Jahren jemals keinen Moment einer politischen Lähmung hatte? Selbst die spastischen Zuckungen des blinden Aktionismus vermochte nicht das Bild eines politisch vorgelebten Stillstandes zu erschüttern. Diese Partei bringt es nicht fertig, ihren Untergang in Ruhe und Würde abzuwarten, sondern statt dessen dem Land und seinen Bürgern ihr Leichengift einimpft, sei es in Gestalt von reißerischen Angstprophetien des immerwährendes Nazis, sei es als verleumnersicher Akt der Gesellschaftsspaltung demokratische Partizipation, sei es als praktischer Beweis des Fehlens jeglichen Realitätsbezugs.
“Wird der Spalt in der Tür zu den Feinden der Demokratie größer oder schließt sich die Tür wieder? Die Ereignisse danach zeigen, dass die Tür wieder zu ist. Vorerst.“
Das sehe ich leider nicht so Herr Debes! In den Kommunen wird verdeckt oder taktisch kräftig mit der AfD gekuschelt! Bei den Corona Demos rührt die AfD tüchtig mit, das wissen Abgeordnete, Stadträte anderer Partien, Bündnisse und schweigen “vornehm“ - man könnte sich ja nochmal gebrauchen! Oft - zu oft hat man den Eindruck, die Kommunalpolitiker kümmern sich mehr um die, die am lautesten brüllen und lassen die im Stich, die sich an die Regeln halten! Beispiel OTZ,“ Sieben Bürgermeister gegen die Spaltung der Gesellschaft“ OTZ ist doch in der Funke-Mediengruppe in Thüringen? Man hat kein Problem mit Leuten sich darzustellen, wie Bürgermeister Lobenstein der der Polizei Kriegsverbrechen in seiner Stadt unterstellt! Diese Artikulation ist bekannt! Nein hier stimmt was nicht und der Autor sollte bitte die Recherche in die Provinz ausdehnen! Es gibt ein schönes Jüdisches Sprichwort: “Wenn die Mutter nach Zwiebeln riecht und der Vater nach Knoblauch, kann die Tochter nicht nach Rosen duften!“
Ja, die Linke ist allzu oft froh, von den Kartellparteien getätschelt zu werden.
Im Gegenzug grenzt man mit denen zusammen gerne neue - auch demokratische - Mitbewerber aus: Als 2014 in Brandenburg die BVB/Freie Wähler per Direktmandat, aber unter fünf Prozent in den Landtag einzog, verweigerte auch die Linksfraktion ihnen den Fraktionsstatus - genauso arrogant verhielt sich das Kartell im Bundestag gegenüber der PDS vor 1998.
Einen verbreiteten Grundirrtum äußert hier Martin Debes (der Thüringen-Korrespondent der rechtsliberalen Funke-Medien):
"Das erste Programm der Thüringer AfD war ein Retro-Programm der CDU der 80er Jahre."
Das stimmt nicht. Das Gegenteil ist richtig. Was machte tatsächlich das "Retro-Programm der CDU der 80er Jahre" aus? - Beispiele:
- auskömmliche Löhne und Lohnersatzleistungen für alle
- das glaubwürdige Versprechen: "Die Rente ist sicher"
- eine AIDS-Politik, der es um die Überzeugungsarbeit für die Gesundheit des gesamten Volkes geht und nicht um einen Kulturkampf (Geißler, Süssmuth und Blüm)
---> Wie soll das ein AfD-Programm sein? Der Thüringen-Korrespondent verwechselt das so wie viele, weil er von Wirtschaft keine Ahnung hat.
---> Realität heute: 40% der Haushalte Deutschlands leben von Billiglöhnen (oder entsprechenden Transferleistungen an der Armutsgrenze) - und in Thüringen noch einige mehr!
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Seit dem Mauerfall glaubt der Wirtschaftsflügel der CDU - das Schild und Schwert der Herrschenden Klasse in Deutschland - seine Partei ganz alleine, ohne ein Gegengewicht beherrschen zu können. Ergebnisse: weitverbreitete Korruption in der Partei, weitverbreitete Steigbügelhalterfunktion für Nazis, Outsourcing der Arbeitsplätze, Massenverarmung - die alten Plagen des Konservatismus haben die CDU wieder fest im Griff.
Auch wer sich auf den Volksaufstand von 1953 (Ost) als Grundlage seines politischen Handelns stellen möchte (und 1968 gern ungeschehen machen würde wie die Merz-CDU) - darf doch den Generalstreik von 1948 - in der Bizone (West) streikten 9 Millionen der 12 Millionen Beschäftigten - nicht länger ausblenden. Dieser Generalstreik hat sowohl die "soziale Marktwirtschaft" des nachfolgenden Bundeskanzlers Erhard verursacht (!) - als auch den "ewigen Minister" und Gewerkschafter Blüm an Kohls Seite. Kohl (ein Historiker, der seine Doktorarbeit selber geschrieben hat) wusste: Wenn er die CDU dem Wirtschaftsflügel ausliefert, läuft er in Gefahr, weggestreikt zu werden.
Das ist nicht Retro! Anstatt die Grundlagen der Geschichte zu kennen, lässt sich ganz Thüringen von einem Lehrer-Knilch, der im Westen nix werden konnte, am Nasenring durch die Manege ziehen - eine Dauervorstellung, in der auch Martin Debes in seiner wirtschaftlichen Ahnungslosigkeit leider zu den Gezogenen gehört.
Daher ist die Tür zur AfD eher eine Drehtür, denn daran fehlt es in Thüringen:
„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“
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Übrigens wissen das die Österreicher: Michael Bonvalot. "Die FPÖ – Partei der Reichen" (Mandelbaum-Verlag 2017).
"Das ist nicht Retro! Anstatt die Grundlagen der Geschichte zu kennen, lässt sich ganz Thüringen von einem Lehrer-Knilch, der im Westen nix werden konnte, am Nasenring durch die Manege ziehen - eine Dauervorstellung, in der auch Martin Debes in seiner wirtschaftlichen Ahnungslosigkeit leider zu den Gezogenen gehört." 100% Richtig ... und das ist nicht nur ein Thüringer Problem aber das muss man erkennen wollen!
Dank an @philipp9x & @apatit!
Der "Lehrer-Knilch" ist allein schon ein Grund die AFD nicht zu wählen. (Da muss nicht noch der mit dem Fliegenschiss und diese mit den Kopftuchmädchen...& nicht die Grenzschützin zu vergessen hinzu kommen)
Und ohne Maaßen und Seehofer wären CDU/CSU vielleicht schon weiter.
Alex Möller hatte recht.Damals jedenfalls.Heute auch noch?