Die Wahl zum höchsten Staatsoberhaupt nutzt die Linkspartei traditionell, um mit einem eigenen Kandidaten auf soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen. Passend zur Pandemie tritt nun der Sozialmediziner Gerhard Trabert, 65, an.
Beim digitalen Jahresauftakt der Linken sprach er über das Sterben von Geflüchteten – und in diesem Zusammenhang über die Anfänge des Nationalsozialismus: „Wie damals viele Deutsche wussten, was mit den Juden geschieht, ist es heute so, dass wir wissen, was mit geflüchteten Menschen im Mittelmeer, in libyschen, in syrischen Lagern geschieht.“ Diese historische Parallele sorgte für Kritik, der FDP-Politiker Johannes Vogel fordert Traberts Rückzug.
der Freitag: Herr Trabert, Sie wollten über Armut sprechen – nun wird über Ihren historischen Vergleich des Wegschauens diskutiert …
Gerhard Trabert: Ich habe das Leid von Geflüchteten nicht mit der Ermordung von Millionen von jüdischen Mitbürgern, von Sinti und Roma und behinderten Menschen im Nationalsozialismus verglichen. Das habe ich nicht getan, weil man das gar nicht kann. Der Holocaust ist nicht vergleichbar.
Sie verstehen also, dass Ihre Äußerung kritisch diskutiert wird?
Ich werde leider falsch wiedergegeben. Der Nationalsozialismus ist nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern aus einer Demokratie heraus entstanden – aus der Weimarer Republik. Als das nationalsozialistische Menschenbild sich durchsetzte, hat man nicht genug hingeschaut. Wenn jetzt Menschenrechte verletzt werden, und es wird weggeschaut, besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert. Wir müssen Unrecht sehen und kritisieren, um Demokratie zu bewahren.
Nun erleben wir derzeit, wie manche Demonstranten sich gelbe Sterne anheften: Sie setzen den Ausschluss von Ungeimpften von Restaurantbesuchen in der Pandemie mit der Ermordung von Millionen Juden gleich.
Diese Menschen instrumentalisieren den Holocaust, um sich selbst zu Opfern zu stilisieren, das ist gefährlich. Gerade in diesen Zeiten kann ich nicht nachvollziehen, wieso teils so undifferenziert über mein Sprechen über den Nationalsozialismus berichtet wird. Es darf kein Tabu sein, auf die Strukturen hinzuweisen, die zum Nationalsozialismus geführt haben. Wir haben die Verpflichtung, uns unsere Vergangenheit anzuschauen und zu fragen: Wie fing es an? Aufbauend auf dieser Analyse müssen wir selbstkritisch mit unserem Verhalten in der Gegenwart umgehen. Wir müssen darauf achten, wie wir mit den Ärmsten unserer Gesellschaft umgehen.
Wie gehen wir mit den Ärmsten unserer Gesellschaft um?
Ich kann Ihnen das ganz konkret anhand des Umgangs mit Obdachlosen in der Pandemie zeigen. Mit dem Lockdown im März 2020 wurden Teestuben geschlossen, ebenso die Tafeln und die öffentlichen Toiletten: Die gesamte Versorgungsstruktur ist zusammengebrochen. Man hatte diese Menschen einfach vergessen.
Sie fahren mit einem Arztmobil zu wohnungslosen Kranken. Auch in der Pandemie?
Ja, wir konnten unsere medizinische Versorgung offen halten, und das wurde sehr wertgeschätzt: „Ihr vergesst uns nicht – nicht wie die anderen!“ Wir haben die Kommune dazu gebracht, die Toiletten zu öffnen, damit die Menschen ihre Notdurft verrichten und sich Wasser besorgen können. Wir haben die teuren Masken besorgt und sie verteilt. Dann stellte sich die Frage: Wie erreichen wir die Menschen für die Impfungen?
Die konnten Sie doch über Ihr Arztmobil erreichen?
Natürlich, aber es gab einige illegalisierte Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, die Sorge hatten, dass sie bei einer Abgabe ihrer persönlichen Daten abgeschoben werden. Wir haben dann beim Land erreicht, dass wir sie anonym impfen dürfen.
Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit leisten, damit sich obdachlose Menschen impfen lassen?
Im Gegenteil, die Menschen haben von sich aus gefragt: Wann kommt denn der Impfstoff? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass arme Menschen sehr informiert sind über die politische Lage und die pandemische Situation. Auch jetzt konnten wir in der Teestube problemlos 150 Menschen boostern.
Zur Person
Gerhard Trabert studierte Sozialpädagogik und Medizin, 1998 gründete er den Verein Armut und Gesundheit in Deutschland. Heute arbeitet er als Allgemeinmediziner in der Mainzer „Ambulanz ohne Grenzen“. Bei der Bundestagswahl 2021 trat er als parteiloser Direktkandidat für die Linke an, verpasste aber den Einzug in den Bundestag
Es gibt Studien, die nahelegen, dass die Impfskepsis bei Menschen mit wenig Einkommen größer ist als bei Akademikern. Ihre Erfahrung ist eine andere?
Es ist wichtig, drei Gruppen voneinander zu unterscheiden. Es gibt jene Menschen, die nicht gut informiert sind und wenig Kontakt zu Ärzten haben. Dann gibt es eine Gruppe, die sich dogmatisch-ideologisch orientiert – klare Impfgegner. Und die dritte Gruppe sind Antidemokraten und Rassisten, die das Impfthema für sich instrumentalisieren.
Die letzten beiden Gruppen überzeugt man vermutlich mit keiner Impfkampagne mehr?
Ich habe da meine Zweifel. Aber die erste Gruppe kann man noch erreichen – indem man die Menschen dort, wo sie leben, kontaktiert. Ich rede von Gesprächen, nicht von Youtube-Clips.
Oder man verpflichtet diese Menschen zur Impfung ...?
Ich bin noch unentschlossen, wie ich zu einer Impfpflicht stehe. Wie soll sie durchgesetzt werden? Wird es eine zentrale Datei geben? Meine Sorge ist vor allem, dass eine Imfpflicht die Gesellschaft weiter spaltet. Einen Teil der bislang Ungeimpften kann man durch eine direkte Ansprache überzeugen, da müssten sich Ärzte allerdings viel Zeit nehmen. Was sie aber leider nicht honoriert bekommen.
Wann haben Sie sich entschieden, die Menschen auf der Straße direkt aufzusuchen?
1994 fing ich mit einem Köfferchen auf der Straße an. Es war schnell klar, dass ich schlecht in der Fußgängerzone zu meinen Patienten sagen kann: Machen Sie sich mal frei, ich muss Sie mal abhören. Es braucht also einen Schutzraum.
Dass arme Menschen Berührungsängste mit Praxen haben, ist längst Stand der Public-Health-Forschung. Wieso aber machen sich so wenige Ärztinnen auf den Weg zu ihnen?
Es hat sich schon eine kleine Szene von kritischen Ärzten etabliert, die das machen. Es gibt Arztmobile, es gibt die Initiative „Ärzte der Welt“, den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte ...
Das sind winzige Initiativen – zur Erinnerung: Sie kandidieren als Bundespräsident! Was kann die Bundespolitik machen, damit arme Menschen breitflächig erreicht werden?
Zunächst muss die medizinische Ausbildung auf die Behandlung von armen Menschen vorbereiten. Und dann muss das Bezahlsystem von Ärzten reformiert werden. Die Zeit, die man in das Gespräch mit Patienten investiert, muss honoriert werden – und nicht die reine Anzahl der Gespräche oder der Diagnosen.
Hausbesuche waren für Hausärzte doch lange selbstverständlich?
Ja, wir erleben in der medizinischen Entwicklung eine Schleife zurück. Ein Hausbesuch ist notwendig, um den Menschen in seinem normalen Lebenskontext kennenzulernen – aber auch unbequem und zeitintensiv. Dafür muss es in der Abrechnung neue Kategorien geben.
Die Behandlung armer Menschen lohnt sich nicht für Ärzte?
Finanziell gesehen nicht. Hier könnte man gesetzlich einiges ändern – indem man die Trennung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufhebt und die solidarische Bürgerversicherung einführt.
Nun kandidieren Sie nicht für das Amt des Gesundheitsministers, sondern für das Amt des Bundespräsidenten ...
Und als solcher weise ich darauf hin, dass Krankheit hierzulande der dritthäufigste Grund für eine Verschuldung ist. Es ist absurd: Wir haben immer mehr Studien, die den Zusammenhang von Armut und Krankheit belegen. Laut Robert-Koch-Institut stirbt eine arme Frau 4,4 Jahre und ein armer Mann 8,6 Jahre früher als eine reiche Frau und ein reicher Mann. Fast neun Jahre Lebenszeit, die durch Armut vermeidbar gekürzt wird! Und die Ärzteschaft skandalisiert diese Ungleichheit kaum. Ein erschütternder Beleg für die Spaltung dieser Gesellschaft.
Die Linke findet ja, dass Sie ein guter Typ dafür sind, diese Ungerechtigkeit sichtbar zu machen. Wieso hat die Partei es in zwei Jahren Pandemie nicht selber geschafft, das Thema Armut stärker in die Öffentlichkeit zu tragen?
Die Linke versucht das: Sie fordert eine Bürgerversicherung, sie fordert eine bessere Bezahlung in den Pflegeberufen, sie fordert die Abschaffung der Fallpauschalen und eine Erhöhung des Regelsatzes bei Hartz IV.
Aber?
Ich bin ja parteilos und muss einer Partei nicht erklären, was sie zu tun hat. Aber ich erfahre selbst, wie schnell man in eine Schublade gesteckt wird, sobald man für ein solidarischeres Gesundheitssystem eintritt: „Dieses sozialistische Gedankengut wollen wir nicht“. Wenn eine Bürgerversicherung, ein höherer Mindestlohn, ein höherer Hartz-IV-Satz einen Linksrutsch darstellen, wie weit rechts steht dann unsere Gesellschaft?
Ein höherer Mindestlohn ist beschlossen und die Höhe von Hartz IV soll noch in dieser Legislatur neu berechnet werden. Da passiert doch etwas?
Es ist noch nicht klar, ob der Regelsatz erhöht wird – obwohl man sieht, dass die Lebenskosten stark ansteigen. Wenn Hartz IV das Existenzminimum darstellt, rutschen die Menschen gerade unter das Existenzminimum.
Und die Grünen regen an, die Lebensmittelpreise zu erhöhen ...
Wenn der Landwirtschaftsminister Özdemir sagt, die Lebensmittelpreise müssen erhöht werden, damit eine nachhaltige Landwirtschaft möglich wird – dann hat er ja recht. Aber dann muss er im selben Atemzug auch ein Konzept anbieten, das es den 3,8 Millionen Empfängern von Hartz IV ermöglicht, ihr Essen zu finanzieren.
Gibt es ja eigentlich: Der Plan eines Klimagelds ist im Koalitionsvertrag verankert.
Das reicht nicht. Armut müsste ein Querschnittsthema sein, das in jedem Ministerium mitgedacht wird. Wie das Klima auch.
Haben Ihre Patienten Hoffnung, dass Politik an ihrer Lebenssituation etwas ändern wird?
Nein. Da spüre ich eine tiefe Resignation. Auch dadurch bedingt, dass viele Politiker sich nicht wertschätzend über von Armut Betroffene äußern. Robert Habeck sagte jüngst, man dürfe die Heizkosten bei Hartz IV nicht gänzlich übernehmen, weil das dazu führe, „dass man die Heizung aufdreht und das Fenster aufmacht“.
Diesen Frust kann die Linke offenbar nicht auffangen.
Wie es momentan aussieht, kann sie das nicht, nein. Warum das so ist, muss die Linke für sich klären. Inhaltlich hat sie ein sehr gutes Programm gegen Armut und für mehr soziale Gerechtigkeit.
Warum sind Sie kein Mitglied der Linken?
Ich war noch nie in einer Partei Mitglied, und das plane ich auch nicht. Ich kann nicht in Strukturen arbeiten, in denen es häufig auf interne Machtverhältnisse ankommt, die viel Zeit kosten. In dieser Zeit kümmere ich mich lieber um die Bedürfnisse der Menschen.
Hilft es, über die Bedürfnisse der Menschen zu reden?
Ein Bundespräsident muss nicht nur reden, er könnte mit einer Seenotrettungsorganisation auf dem Mittelmeer unterwegs sein. Er könnte nach Lesbos ins Flüchtlingslager fahren. Er könnte im Arztmobil mitfahren. Sichtbarkeit von Leid erhöht den Druck auf die politisch Handelnden.
Ein Bundespräsident repräsentiert „die Einheit des Staates und des Volkes“ – also nicht nur die Wohnungslosen, die Armen, die Geflüchteten. Steht seine Funktion nicht im Widerspruch zur Armutsbekämpfung?
Nein, da ist kein Widerspruch. 45 superreiche Haushalte in Deutschland verfügen über 50 Prozent des Vermögens. Daran sieht man doch: Umverteilung muss ein Anliegen der Gesellschaft sein.
Auch der Reichen?
Auch Wohlhabende sind bereit, in die Armutsbekämpfung zu investieren, das sehe ich an den Spenden für unseren Verein. In der „Tax me now“-Initiative schließen sich Millionäre für mehr Steuergerechtigkeit zusammen und wollen höhere Steuern zahlen – wenn der Staat die sozialen Bedarfe ermittelt und ihr Geld gezielt investiert. Virchow sagte: Politik ist nichts anderes als Medizin im Großen.
Und die Krankheit unserer Gesellschaft wäre dann ...?
Die soziale Ungleichheit. Sie ist die Mutter aller Probleme.
Kommentare 14
Schade, eine undifferenzierte Meinung zum Impfen. Dabei gint es pro und contra. Daher mag jede selbst entscheiden. Die jetzige Situation ist optimal, es kann zur Durchseuchung kommen, diese wird aber abgefedert durch eine große Anzahl von Geimpften. Ich denke, dass wir in 2 Jahren, wenn die Politik nicht Eigeninteressen verfolgt auch wieder einen normalen Zustand haben. Das wäre dann wie bei Grippeepidemien ca 5 Jahre Dauer.
Wenn ich mich nicht verlesen habe (eher unwahrscheinlich), geht es hier um Herrn Trabert und das Thema Ungleichheit.
Ich bin in der vorliegenden causa befangen: selbst Fördermitglied des Vereins Armut und Gesundheit ist selbiger, Herr Trabert in vorderster Front, für mich ein Leuchtfeuer in finsteren Zeiten.
Ein Land, das von Herrn Steinmeier repräsentiert wird, hat noch nicht einmal Beschimpfung verdient. Dass es einen so großen Konsens für den Guantanamo- Freund S. gibt, zeigt eindrucksvoll das Fehlen echter Opposition.
Herr Traberts Kandidatur ist Symbolik. Eine sehr wichtige Symbolik. Sie zeigt, dass es Alternativen gäbe, wenn die Menschen reif und offen dazu wären. Dass er nicht gewählt wird, deutet auf ein immenses Vakuum dieses Landes.
"Die Ungleichheit ist die Mutter aller Probleme".
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Zu den Problemen mit der Ungleichheit gibt es diese, keinesfalls belanglose Beobachtung:
https://www.spektrum.de/news/die-erste-klasse-bringt-flugreisende-auf-die-palme/1409126
"Mit einer separaten ersten Klasse kam es insgesamt VIERMAL so häufig zu Ausschreitungen bei Passagieren der Economy-Class – das entspricht etwa dem Effekt, den auch eine rund 9,5-stündige Verspätung auf die Moral im Flieger hat. Wurden diese Reisenden beim Boarding auch noch demonstrativ an der ersten Klasse und den Passagieren, die dort bereits Platz genommen hatten, vorbeigeführt (alternativ könnte man sie auch hinten oder in der Mitte einsteigen lassen), verdoppelte das die Streitwahrscheinlichkeit für sich genommen ebenfalls. Und auch den Erste-Klasse-Reisenden tat dieses Prozedere offenbar nicht gut: Bei ihnen kam es sogar ELFMAL so häufig zum Flugkoller, wenn man ihnen zuvor noch einmal vor Augen geführt hatte, dass am anderen Ende des Fliegers auch Passagiere mit schlechterem Service und weniger Beinfreiheit reisten. "
Was mag die tiefere Ursache sein? Neid? Reale oder empfundene Zurückstellung? Wollte ich in der 1.Klasse fliegen, wenn es dort ELFMAL häufiger Stress gibt, wenn unvermeidlich eine 2.Klasse dabei ist? Da könnte dann nur der Privatflieger helfen.
"Die soziale Ungleichheit. Sie ist die Mutter aller Probleme."
Aber wir werden alle ungleich geboren. Und müssen mit unserem "Päckchen" i.d.R. dann leben. Es ist unvermeidlich. Bleibt die große, große Frage:Wie können die "Armen" aufgefangen werden? Und:Wie die "Reichen" mit ihren meist ganz anderen Schwierigkeiten?
In der DDR sollte per Gesetz eine gewisse Gleichheit hergestellt werden. Arbeiterkinder an die Unis usw. Alle sollten eine solide Facharbeiterausbildung bekommen. Manche konnten das für sich (und die Gesellschaft) nutzen. Aber viele eben auch nicht. Das Problem mit den Wohnungen wurde trotz gewaltigem Wohnungsbauprogramm nie wirklich gelöst, aber Obdachlose habe ich nie gesehen. Auch darüber könnte man mal nachdenken.
Und, man muss das realistisch sehen, sollte er BP werden, so hätte er genau so wenig Einfluss, wie alle vorherigen BPs. Aber eine schöne Überraschung wäre es natürlich dann schon. Chance:0,2%!
Respekt! Es kommt selten vor, dass ich vor anderen Menschen den Hut ziehe. Herr Trabert gehört dazu.
Und mit "Respekt" meine ich nicht die erbärmliche und jämmerliche "Respekt-"Rente unserer neoliberal-konservativen Regierung.
Zitat: "Wenn eine Bürgerversicherung, ein höherer Mindestlohn, ein höherer Hartz-IV-Satz einen Linksrutsch darstellen, wie weit rechts steht dann unsere Gesellschaft?"
Eine berechtigte Frage.
Bei den ersten Wahlen zum Deutschen Reichstag 1919 nach der Katastrophe des ersten Weltkrieges kamen die tendenziell "linken" Parteien USPD, SPD, DDP/DStP zusammen auf rund 63 Prozent der Stimmen. Bei der letzten freien Reichstagswahl 1933 waren es nur noch 31 Prozent. Bemerkenswert ist, dass die "Arbeitnehmer-"Partei bzw. Partei der "kleinen Leute" (SPD) von 1919 bis 1933 ihr Ergebnis halbiert hat.
Bei den "rechten" Parteien ist es umgekehrt. Die NSDAP spielte am Anfang und in der Mitte der Weimarer Republik fast keine Rolle. Die Deutsch Nationale Volkspartei (DNVP) erreichte bei den ersten Reichtstagswahlen 1919 zusammen mit den anderen rechten Parteien gerade einmal 10 Prozent. Bei der letzten Reichtstagswahl 1933 kamen die rechten Parteien (NSDAP, DNVP, Diverse Rechte) auf insgesamt 53 Prozent.
Es ist in der Tat so, dass Hitler 1933 nicht einfach so und plötzlich vom Himmel gefallen ist, auch wenn der bekannte Begriff "Machtergreifung" das immer vorgauckelt.
Tatsache ist auch, dass es am Ende der Weimarer Republik zwar viele Arbeitslose, Obdachlose, Hungerlöhner und Arme gab, aber auch viele Multimillionäre und Milliardäre, die man heute als "Superreiche" bezeichnen würde, obwohl der Begriff hyperreich zutreffender wäre.
Diese Wählerwanderung von links nach rechts lässt sich auch seit 1949 bzw. den ersten Wahlen zum Deutschen Bundestag nach dem Zweiten Weltkrieg feststellen.
Es ist offenkundig so, dass die Solidarität, die Empathie für andere und die gegenseitige Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen größer sind, wenn es vielen Menschen bzw. der Mehrheit nicht so gut geht.
Mit der Schere zwischen Arm und Reich schwindet diese Solidarität, der Egoismus und die Gier einzelner wächst, während gleichzeitig die Ignoranz, die Arroganz und die Dekadenz gegenüber den Armen zunimmt.
Zyniker würden sagen, dass wir wieder mal einen ordentlichen Weltkrieg bauchen und alles in Schutt und Asche legen müssen. Dann steigt auch wieder die Solidarität zwischen den Bürgern.
Ach ja, Wachstum haben wir dann auch wieder. Nie war das Wirtschaftswachstum in Deutschland größer als in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1960er Jahren gab es sogar zweistellige Wachstumsraten, obwohl (oder weil?) die Wirtschaftsleistung insgesamt wesentlich geringer war als heute.
Und was sagt der "Freiheitskämpfer" Christian Lindner dazu? Was sagen Anne Will, Caren Miosga, Susanne Klatten und Maybritt Illner dazu? Was sagt die Pastorentochter "Mutti" Merkel dazu?
Zitat: "Was mag die tiefere Ursache sein? Neid? Reale oder empfundene Zurückstellung?"
Ich denke, es ist müßig über die Ursachen im Detail zu debattieren. Viel wichtiger sind die Konsequenzen, die man daraus in einem demokratischen Gemeinwesen ziehen sollte.
Am Schluss des Artikels auf spektrum.de heißt es: "Sie [die Wissenschaftler] plädieren daher dafür, die Schere zwischen erster und zweiter Klasse nicht zu groß werden zu lassen – im Flieger wie im übrigen Leben."
Und genau darum sollte es m. E. gehen. Zu verhindern, dass die Schere zwischen Arm und Reich zu groß wird, bedeutet übrigens keine "sozialistische Gleichmacherei" wie dies von vielen Neoliberalen bzw. "christlichen" Konservativen und Pseudo-Sozialdemokraten immer gerne behauptet wird.
Die reale neoliberale Politik in diesem angeblich "christlichen" Land sieht allerdings vollkommen anders aus.
In diesem Lande werden Multimillionäre und Multimilliardäre auch noch mit Kindergeld alimentiert, während der Hartz IV-Regelsatz zum 1. Januar von 446 Euro um 3 Euro (in Worten: drei) auf 449 Euro pro Monat erhöht wird.
Die Sozialdarwinisten beklagen sich auch noch darüber, dass der Lohnabstand zwischen den Geringverdienern und dem Hartz IV-Regelsatz zu gering wäre, weil der Hartz IV-Regelsatz zu "hoch" wäre. Die Tatsache, dass Leute, die im Geld schwimmen, in diesem unserem Lande mit Kindergeld alimentiert werden, stört diese "anständigen" Bürger offenkundig nicht die Bohne.
Und was sagt der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von der "sozialdemokratischen" Partei Deutschlands dazu?
" es ist müßig über die Ursachen im Detail zu debattieren"
Sehen Sie, und das sehe ich überhaupt nicht so. Nicht nur für die m..E. dringend erforderliche gerechtere Umverteilung braucht es Gründe, die nicht nur von den "Armen" sondern eben auch von den "Reichen" akzeptiert werden. Win-win-Situation. Anders wird das eher nicht gehen. So wie bisher können wir noch ewig oder eben bis zum nächsten ganz großen Crash weitermachen, der ja, je nach persönlicher Situation und Sicht auf die Dinge, nicht mehr so sehr weit entfernt zu sein scheint.
Und nachdem nun das "Experiment" DDR und Sozialismus heftig gescheitert ist, dürfte es äußerst schwierig werden, das System zu verändern. Es wird irgendwie immer gern vergessen, dass diese DDR nach einem fürchterlichen Krieg gegründet werden konnte. Und eben nicht nach Wahlen!
Respekt vor jeglicher sozialen und ähnlicher Arbeit. Keine Frage. Aber das sind die Pflaster für die Verhältnissse und Schicksale. Sollte man weder unter- aber eben auch nicht überschätzen. Ertrinkende müssen (!) rausgezogen werden. Und es muss (!) gefragt werden, warum die seit eh und je ertrinken?
Eigentumsverhältnisse usw., also die Fundamente dieser Welt müssten umgebaut werden. Aber auf diesem bisher verhinderten sehr langen Weg wird uns mit absoluter Sicherheit noch so einiges dazwischen kommen. Und das ist auch die weitverbreitete und in Maßen ja auch verständliche Besitzstandswahrung durchaus nicht nur sehr Reicher.
Zitat: "Nicht nur für die m..E. dringend erforderliche gerechtere Umverteilung braucht es Gründe, die nicht nur von den 'Armen' sondern eben auch von den 'Reichen' akzeptiert werden."
Ich bin mir sicher, dass sich kein "Geringverdiener", der 10 Euro pro Stunde verdient, weigern wird, wenn er 13 oder 15 Euro pro Stunde bekommt.
Überzeugen muss man die vielen Schafe in der Mitte, die nach oben buckeln und nach unten treten, dass es nicht nur in höchstem Maße ungerecht, sondern volkswirtschaftlich kontraproduktiv ist, wenn diejenigen, die im Geld und Vermögen schwimmen, immer noch reicher und noch reicher werden.
Das allerdings hat schon die Erfinderin des Brettspiels "Monopoly" Elizabeth Magie Phillips vor über 100 Jahr mehr oder weniger vergeblich versucht. Das Brettspiel, das ursprünglich "The Landlord's Game" hieß, ist zwar weltweit bekannt. Den tieferen Sinn verstehen offenkundig nur wenige.
Stattdessen warnt sogar der Tagesspiegel vom 20.07.2020 vor der Einführung bzw. der Wiedereinführung einer Vermögensteuer. Ein Argument dagegen lautet:
"Ungleichheit entsteht und verschärft sich in der Schule. Obwohl inzwischen mehr als die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht, profitieren die Kinder aus bildungsfernen Familien kaum von dieser Expansion. Eine gute Ausbildung aber ist der sicherste Weg aus der Armut."
Da stelle ich mich einfach mal dümmer als eine Dampfmaschine und frage: Nehmen wir an, nicht nur die Hälfte, sondern alle Schüler würden zukünftig Abitur machen, studieren und promovieren wie die Autorin des Tagesspiegel-Artikels, wer putzt dann für 9 Euro pro Stunde im Altenheim die Toiletten. Frau Dr. Ursula Weidenfeld, die Autorin des Tagesspiegel-Artikels mit Sicherheit nicht. Aber auf diese Frage werden sie von Leuten wie Frau Weidenfeld auch keine Antwort bekommen.
Im Kapitalismus kann JEDER stinkreich werden, aber NICHT ALLE.
""Ungleichheit entsteht und verschärft sich in der Schule...."
Nimmt man diesen Satz ernst, dann muss man ihn unter die demagogischen Sätze einreihen. Unter die dummen sowieso. Aber sagen Sie das jetzt mal der Frau Dr.Weidenfeld.
Wer in eine arme Familie hineingeboren wird, hat qua Geburt schlechtere Chancen. Das ist nun hunderttausendfach bewiesen. Damit kämpfen auf ziemlich verlorenem Posten all die Sozialpädagogen, manche Lehrer und andere Berufe. Armut vererbt sich regelrecht. Schlechte Bildung ebenso. Auf den DDR-Versuch wenigstens so einigermaßen Chancengleichheit zu schaffen kann heute ja in einer öffentlichen Position nicht mal mehr hingewiesen werden. An dieser "armen" Geburt hängt eine lange Kette von Benachteiligungen der verschiedensten Art. Dass es hin und wieder dann doch jemand schafft, ist durchaus erfreulich. Aber eben die Ausnahme.
Ich habe in Berlin selbst erlebt, wie mit gefaketen Wohnanschriften die Kinder in besseren Schulen angemeldet wurden. Als das noch möglich war, wurde auch schon mal umgezogen. Ich jedenfalls kann das verstehen. Letztlich ist das eigene Hemd immer(!) näher.
Altes Thema, dessen Alter eigentlich schon zum Erschrecken führen sollte. Kaum eine Verbesserung weit und breit. Sicher immer auch Ausnahmen.
Ich finde das Interview auch sehr sehr gut.
„Wie damals viele Deutsche wussten, was mit den Juden geschieht, ist es heute so, dass wir wissen, was mit geflüchteten Menschen im Mittelmeer, in libyschen, in syrischen Lagern geschieht.“ Diese historische Parallele sorgte für Kritik, der FDP-Politiker Johannes Vogel fordert Traberts Rückzug." ++
Ja, das war unklug, eine wirklich wichtige Aussage durch dieses Argument unnötig angreifbar zu machen. Andererseits: Wenn ich die Berichte sehe über das unglaubliche Elend in den Flüchtlingslagern und den Umgang mit ihnen, dann kommt mir das auch manchmal in den Sinn.
Mit Herrn Trabert als Bundespräsident wäre dieses Land wohl ein anderes, – ein solidarischeres.
Die typisch neoliberale Nebelkerze, die jede Kritik an der fortschreitenden, obszönen Ungleichheit als sogenannte Gleichmacherei zu diffamieren sucht, zeigt nebenbei wie erbärmlich das theoretische Fundament der zugehörigen Ideologie ist. Legitimation von Ungleichheit ist das schmutzige Geschäft neoliberaler Lautsprecher.
Dabei würde weniger soziale und ökonomische Ungleichheit, die individuellen Unterschiede der Menschen erst zum Leuchten bringen.
Wieviel interessanter wäre unsere Welt, und um wie vieles schlauer, reicher, lustiger und friedlicher, mit den millionen zusätzlicher Beiträge aller dann Teilhabenden, die jetzt verstrickt in einem künstlich herbeigeführten Überlebenkampf ungehört und ungesehen bleiben?
Nur mal so zur Klarstellung, weil das Interview etwas anderes suggeriert: die Heizkosten von Sozialleistungsempfägerinnen werden natürlich nicht in unbegrenzter Höhe übernommen, sondern in angemessener Höhe.
Gerhard Trabert for president! Toller Mensch!! mit tollen Ansichten!! Ach nee, meine Meinung ist ja nicht gefragt. Den Kandidaten macht die Nomenklatura unter sich aus und ein paar Auserwählte dürfen zustimmen.
gerne gelesen- sehr gerne,ja er als Bundespräsident,das wäre was...
un-gleichheit ist der gegen-begriff zu gleich-heit.
und diese ist meist ein kampf-begriff, der rechtliche, chancen-
und risiko-mäßige gleich-stellung/emanzipation
gegen tradierte privilegierungen fordert,
oder ist eine utopische illusion.
der persönliche ort innerhalb der herrschenden sozialen lage,
ist durch mehrfache dimensionen diversifiziert.
willens-stärke, familiäre herkunft, geschlecht,(aus-)bildung,
gemachte erfahrungen, finanzielle ausstattung/transfer-ansprüche
sinds nie allein.
aber die wahrnehmungs-verengungen der betroffenen
und der sie umgebenden,
bilden meist die wände einer fall-grube.