Es ist nicht nur die Möglichkeit, in zwei Stunden am warmen Mittelmeer zu sein. Das auch, klar. Im tiefsten grauen Winter zu sitzen und zu wissen, dass ich nicht darin gefangen bin. Dass ich ausbrechen kann, jederzeit, ausbrechen aus dem urbanen Käfig aus pöbelnden Radfahrern und hassenden Twitterern, raus aus dem Nieselregen, dessen winzige Nadeln mir ins Gesicht piksen, raus aus dem Beton, Beton, Beton. Einfach in den Flieger und los, einfach in die warme, gelbe Sonne, denn die Sonne am Mittelmeer ist auch im Winter nicht weiß, sondern gelb-orange, sie riecht nach Orangenblüten, diese Sonne, und der Himmel ist hellblau, er mischt die Sonne mit dem Meer, und wenn es keinen Wind gibt in der Bucht, dann ist das Mittelmeer ruhig und glatt wie Olivenöl. All das liegt nur einen Zwei-Stunden-Flug von meiner Haustür entfernt. Das ist Freiheit.
Aber es ist auch diese Potenz. Behäbig rollt das Flugzeug auf die Startbahn, es bringt sich in Position und bleibt kurz stehen, und während wir auf das Go warten, prickelt mein Magen in freudiger Erwartung, denn dann legen die Maschinen los, sie dröhnen und pressen mich in meinen Sitz, ich werde angenehm schwer, so schwer, ich spüre meine Schwerkraft und wie die Maschine sie für mich überwindet, sie kippt und lässt den Boden los und drückt mich schräg nach unten, wo sie dröhnt, die Maschine, und mich mit unumstößlicher Entschlossenheit in die Luft hebt, sie lässt mich fliegen, die pöbelnden Radfahrer und Twitterer und der Beton, Beton, Beton, sie alle werden klein und grau und egal, ganz egal, denn ich erhebe mich hoch in die Wolken, ich sitze über der Stadt, die Maschine rettet mich aus den Fängen des Betons und trägt mich in die Sonne. Ich liebe das Fliegen.
Und ihr wollt es mir nehmen! Hört auf zu fliegen, sagt ihr. Nur eine Elite von zehn bis zwanzig Prozent der Weltbevölkerung fliegt überhaupt, sagt ihr. Ich, Elite? Ich kleine Journalistin einer kleinen linken Wochenzeitung? Bin also eure Elite, ja? Würden sie denn nicht auch fliegen, wenn sie könnten, diese 80 Prozent? Als wären das die besseren Menschen! Da sitzt diese Greta Thunberg mit ihren Zöpfen im Zug, ich habe das Foto gesehen, sie sitzt im Zug und stopft meine kleine Freiheit fröhlich mit Toastbrot in sich hinein. Toastbrot aus der Plastiktüte! Von der lasse ich mir gar nichts sagen.
Du lebst imperial. Gib ab!
Das Problem ist nur dieses kleine Stimmchen. In meinem Kopf. Das mir sagt: Kann es sein, dass du dich gerade wie ein weißes Arschloch benimmst? Ein kleines weißes Arschloch wie diese Männer, die sich moralisch verurteilt fühlen, weil ihr patriarchales Verhalten kritisiert wird, die sich Umerziehungsmaßnahmen unterzogen sehen, wild um sich schlagen, nur weil man ihre Privilegien anspricht?
Wie oft hast du diesen Männern gesagt, erinnert mich das Stimmchen, dass es bei dem Abbau von Privilegien weder um Moral geht noch um Umerziehung. Sondern darum, umzuverteilen. Männer haben mehr als Frauen, also müssen sie abgeben, damit die Gesellschaft gerechter wird. Basta.
Dieses kleine Stimmchen wird lauter und rechnet mir vor, dass mein Flug ans Mittelmeer und zurück 1,2 Tonnen CO2 ausstößt. Die Stimme sagt, dass der Planet aber nur zwischen ein und zwei Tonnen pro Kopf und Jahr verträgt. Mein jährlicher CO2-Ausstoß liegt bei rund elf Tonnen, während ein Mensch in Uganda – durchschnittlich! – 0,1 Tonnen pro Jahr ausstößt. Die Stimme erinnert mich an die Texte des Soziologen Ulrich Brand zur imperialen Lebensweise. Fliegen, Fleischkonsum, Autofahren: Ich lebe auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Weltregionen, sagt Brand. Sagt sie. Die kleine Stimme. Und dass ich mir deutlich mehr nehme, als mir zusteht. Wie ein Patriarch. Oder eben: eine Imperialistin.
Diese kleine Stimme ist nicht Greta. Sie ist auch keine moralische Stimme, die Scham einfordert, Flugscham. Sie sagt nur: Es ist eine Frage der Rechnung. So, wie für die Geschlechtergerechtigkeit Lohn und Sorgearbeit umverteilt werden muss, so muss global Lebensweise umverteilt werden. Du lebst imperial. Gib ab.
Sie sagt, dass es vielleicht doch nicht meine freie Entscheidung war, zu fliegen. Nicht frei, weil sie nicht aufgeklärt erfolgte, in vollem Wissen über ihre Folgen. CO2 in der Atmosphäre, na und? Nun steht Mosambik zum zweiten Mal unter Wasser. Die Nachrichten zeigen Menschen, die auf ihren Dächern ausharren, Kinder, die hungern und unter Durchfall leiden, sie zeigen Stürme, die Ortschaften vernichten, Landstriche, die vielleicht für immer im Meer versinken. Diese Bilder zeigen, dass es nicht um Verzicht geht, sondern um Rücksicht. Auf die Leben von Millionen von Menschen.
Greta bringt diese Folgen mit einer Entschlossenheit nach Europa, die Sichtbarkeit einfordert. Das Problem sind nicht ihre Zöpfe. Sondern ihre Augen. Ihre sehr konzentrierten Augen, die Dinge sagen, von denen alle wissen, dass sie stimmen. Das Problem ist: Greta hat recht. Will ich fliegen, wenn das diese Katastrophen zur Folge hat? Natürlich nicht.
Nun steht Mosambik nicht nur deshalb unter Wasser, weil ich fliege. Mit rund 44 Prozent der deutschen CO2-Emissionen ist laut Internationaler Energieagentur die Produktion von Strom und Wärme das größte Problem, erst danach kommt mit 22 Prozent der Transport, innereuropäische Flüge verantworten 0,5 Prozent der europäischen Emissionen (global: 2,7 Prozent). Da würde mein einzelner Flug-Verzicht fast gar nichts ändern. Vor allem müsste der globale Handel regionalisiert werden, denn meine Tomate und mein T-Shirt sind ja auch geflogen. Statt meines individuellen Verzichts bräuchte es also eine gesellschaftliche Entscheidung, nicht mehr zu fliegen. Die Debatte über Flugscham bereitet solch einer Entscheidung vielleicht den Boden. Allerdings steht der Straßenverkehr für 21 Prozent der Emissionen. Dürfen wir also weder fliegen noch Auto fahren? Und: Auch Züge verbrauchen viel Energie! Kann all diese Energie erneuerbar hergestellt werden? Und: Die Mittelschicht wächst global, all diese Menschen wollen nun auch fliegen und Auto fahren, wie die Europäer es seit Jahrzehnten tun. Was tun?
„Einfach überhaupt nicht mehr bewegen“, diesen Ratschlag gab der Wissenschaftler Harald Lesch bei Anne Will. Nicht mehr bewegen? Sich ausbeuten lassen und stillhalten? Was ist das bitte für eine Utopie?
Zu spät, zu spät, immer zu spät
Ich sehe es nicht ein! Acht Stunden am Tag verkaufen die Menschen ihre Arbeitskraft an ein Unternehmen, fünf Tage die Woche. Die restliche Zeit wird aufgeteilt in Kinderbetreuung, Putzen, Kochen, Pflege, Einkaufen, Weiterbildung, mal eine Serie, Schlafen, und jetzt, liebe Leute, achtet doch bitte noch auf euren CO2-Fußabdruck, wie wäre es, wenn ihr nur Bio und lokal einkauft, esst kein Fleisch, bestellt eure Klamotten bitte nicht mehr online, bringt eure Kinder mit dem Bus zum Sport, es fährt doch ein Bus am Nachmittag, der um 15 Uhr, und – ach ja, wenn ihr die Oma besucht, dann bitte mit dem Rad.
Es ist ganz sicher kein Zufall, dass die Gelbwesten gerade dann ausrasteten, als Emmanuel Macron die Ökosteuer auf die Spritpreise erhöhen wollte. Als er ihre Bewegungssouveränität einschränken wollte, die in der Peripherie so notwendig ist für die Bewältigung des Alltags. Die Flexibilität durch schnelle Bewegung kompensiert im schnell getakteten Neoliberalismus die Prekarisierung. Wer arbeitet, hat keine Zeit. Zu spät, zu spät, immer zu spät, wie das Kaninchen bei Alice im Wunderland. Volle Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erfordert volle Flexibilität in der Mobilität. Wer sich überhaupt noch bewegen will zwischen schlecht bezahlter Lohnarbeit und unbezahlter Sorgearbeit, muss es schnell tun.
Die Debatte über Gerechtigkeit und Teilhabe in Frankreich hat sich daher an der Bewegungssouveränität entzündet. Die Gelbwesten treffen sich an Kreisverkehren, auch die kleinsten ziert stets das Schild: „Toutes Directions“. Alle Richtungen. Tor zur Welt. Von hier aus kann man überallhin, und hier wurde die Forderung nach Volksentscheiden laut. Das Autofahren steht in der Provinz für Freiheit, wie es das Fliegen in den Städten tut. Und nicht nur das Fliegen in den Urlaub: Wenn in Deutschland fast jeder Vierte einen Migrationshintergrund hat, kann man sich ausrechnen, wie viele Großeltern in Spanien, England oder der Türkei besucht werden wollen. Schon 2014 gab es eine Million „Erasmus-Babys“.
Bewegungssouveränität abzuschaffen ist keine progressive Forderung. Es braucht schnelle Bewegung, um Freiräume im kapitalistische Zeitregime zu schaffen. Es sei denn ... Ja, es sei denn: Man hätte mehr Zeit!
Die Maximalgrenze des Arbeitstags, schreiben Marx und Engels im Kapital, wird durch die physische Schranke der Arbeitskraft beschränkt: die Zeit, die die Arbeiterin notwendigerweise zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft braucht, um bei der Arbeit nicht umzufallen. Weiter schreiben sie, dass es darüber hinaus eine „moralische“ Schranke gebe: „Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind.“
Hallo, Schwerkraft
Nun, der allgemeine Kulturzustand ändert sich radikal. Einerseits sind beide Geschlechter erwerbstätig, nicht selten in Vollzeit, und es gibt nicht mehr diese eine Person pro Familie, die den ganzen oder den halben Tag Zeit für Reproduktionsarbeit aufbringt; und andererseits soll man die kleinen Tricks, um diese Reproduktionsarbeit dennoch bewältigt zu bekommen – mal schnell mit dem Auto bringen, mal eben online bestellen –, nicht mehr nutzen. Im Kapitalismus quetschen Unternehmen die Zeit der Arbeiterinnen aus wie eine reife Zitrone, als Gegenleistung bietet der Markt schnelle Bewegung an, damit der restliche Saft noch reicht für das Einkaufen, Reisen, Leben neben der Arbeit. Keine Zeit, um Schuhe zu kaufen? Zalando! Keine Zeit zu kochen? Deliveroo! Keine Zeit zu reisen? Easyjet!
All das sind nicht nur Trostpflaster für kapitalistische Zumutungen oder „Luxus“, diese Dienste werden gebraucht, um einen Rest an Selbstbestimmung aufrechterhalten zu können. Wir müssen uns langsamer bewegen? Dann brauchen wir mehr Zeit. Eine einfache Rechnung, aus der sich neue klima-soziale Vorschläge herleiten lassen, etwa: Wer mit Zug oder Rad reist, hat das Recht auf zwei Wochen mehr Urlaub pro Jahr. Oder: Wenn auf dem Land alle Erledigungen mit Bahn oder Bus gemacht werden sollen, muss nicht nur die nötige Infrastruktur aufgebaut, sondern auch die 25-Stunden-Normalarbeitswoche eingeführt werden. Bei vollem Lohnausgleich.
Greta und die Fridays for Future machen es vor: Sie nehmen sich mehr Zeit, gehen jeden Freitag nicht zur Schule: ein Tag pro Woche für die Klimapolitik. Mit dem Argument der Zeitsouveränität hat die IG Metall vergangenes Jahr durchgesetzt, dass Arbeiter weniger arbeiten müssen, wenn sie Zeit für mehr Urlaub, Pflege oder die Familie brauchen. Um Zeitsouveränität drehen sich zudem die Kämpfe in der Sorgearbeit: Pflegerinnen brauchen mehr Zeit für die Pflege, deshalb braucht es mehr Pflegekräfte. Zeitsouveränität ist das Feld, das im ökologischen Umbau genutzt werden kann, um den Kapitalismus anzugreifen – und nicht die Freiheit der Arbeiterschaft.
Vom Fliegen aber muss ich mich verabschieden. Adieu, o du schöne, dröhnende Überwindung der Schwerkraft ... Basta, sagt das Stimmchen. Hat keiner gesagt, dass die Abgabe von Privilegien Spaß macht. Aber mit zwei Wochen mehr Urlaub im Jahr kann ich locker mit dem Zug ans Mittelmeer. Und in die Sonne, die nach Orangenblüten duftende Sonne. Warum ich da überhaupt hinmuss? Familie, Urlaub, Arbeit? Nun, das ist ja wohl meine Sache.
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