Vater aller Probleme

Moria Ein Grund für die Eskalation der Situation im Flüchtlingslager ist ausbleibende Hilfe. In Deutschland wurde sie vom Bundesinnenminister blockiert: Horst Seehofer
Was passiert, wenn das Corona-Virus auf eine überfüllte Zuflucht ohne Hygiene trifft, konnte sich jeder ausmalen
Was passiert, wenn das Corona-Virus auf eine überfüllte Zuflucht ohne Hygiene trifft, konnte sich jeder ausmalen

Foto: Manolis Lagoutaris/AFP/Getty Images

Die Corona-Pandemie brach Ende 2019 aus und kam Ende Februar 2020 nach Europa. Dass ein Ausbruch der Krankheit in den überfüllten Flüchtlingslagern in Griechenland eine Katastrophe auslösen könnte, darüber wurde in Deutschland bereits im Frühjahr gesprochen. Aber auch ohne Corona wusste man um die unhaltbaren Zustände im Lager: Leben in Zelten, viel zu wenige Toiletten und Waschmöglichkeiten, eine Stadt mit 13.000 Menschen ohne richtige Infrastruktur, mit mittelalterlichen Bedingungen. Was passiert, wenn ein Virus auf eine Stadt ohne Hygiene trifft, konnte sich jeder ausmalen.

"Deutschland muss handeln - nicht erst seit heute, sondern schon seit Jahren", sagt Grünen-Chefin Annalena Baerbock nach dem Brand. Die Sache ist: das wurde nicht erst heute klar, das wussten Politikerinnen und Landesregierungen auch schon seit Jahren. Und sie versuchten, zu handeln. Die Rot-Rot-Grünen Landesregierungen in Berlin und in Thüringen hatten deshalb beschlossen, 300 bzw. 500 zusätzliche Geflüchtete aus überfüllten griechischen Lagern aufzunehmen. Wären weitere Bundesländer gefolgt, hätte dies die Situation in Moria zumindest deutlich entspannen können.

Das Aufenthaltsgesetz ermöglicht Landesregierungen solch eine Initiative: „Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird“, heißt es in Paragraf 23. Diese Kompetenz wird jedoch in gleichen Absatz eingeschränkt: „Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.“

So heißt das Ministerium seit dem März 2018. Und seitdem bekleidet das Amt des Bundesinnenministers: Horst Seehofer, CSU. Dieser Hort Seehofer ließ die Berliner Regierung im Juli wissen, dass sie die 300 Geflüchteten nicht aufnehmen dürfen. Sein „Einvernehmen“ sei notwendig, und dieses gebe er nicht – die Aufnahme stehe der „Bundeseinheitlichkeit“ entgegen. Diese Absage wiederholte Seehofer im August gegenüber Thüringen, deren Landesregierung ebenfalls ein Landesprogramm zur Aufnahme von 500 Geflüchteten aufgestellt hatte. Bis Ende 2022 wollte Rot-Rot-Grün dort insbesondere unbegleitete minderjährige Geflüchtete, allein reisende Frauen, Schwangere, alleinstehende Mütter mit Kindern sowie alte, schwer erkrankte oder traumatisierte Geflüchtete aufnehmen und ihnen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilen. Wieder sagte Seehofer ab, sein Staatssekretär Hans-Georg Engelke ließ laut Spiegel verlauten, würde die Bundesregierung dem zustimmen, wäre die „Bundeseinheitlichkeit nicht gewahrt“. Neben den Bundesländern haben sich auch viele Städte und Kommunen zur Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt.

Die Katastrophe war absehbar

Es ist die eine Sache, die Aufnahme von Geflüchteten skeptisch zu sehen – aus Sorge, dass sie von der Bevölkerung nicht toleriert werden und rassistische Gewalt zunehmen könnte. Wenn aber Bundesländer, Städte und Kommunen von sich aus entscheiden, die Aufnahme von Geflüchteten gut abfedern zu können – was, in aller Welt, spricht dann gegen die Aufnahme? „Bundeseinheitlichkeit“? Berlin und Thüringen hatten sich auf die Aufnahme gut vorbereitet. Die Zahl war deshalb so limitiert, weil damit geplant wurde, dass viele der Geflüchteten medizinische Hilfe, Psychologen und betreutes Wohnen benötigten. Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Thüringens Migrationsminister Dirk Adams von den Grünen waren außer sich. Und ohnmächtig, denn ohne die Zustimmung des Bundesinnenministers geht es nicht.

Nun gibt es Moria nicht mehr. Es gibt jedoch viele weitere Lager in Griechenland, mit ähnlichen Zuständen. "Thüringen ist bereit, seinen Anteil sofort zu realisieren", wiederholte Bodo Ramelow die Aufnahmebereitschaft am Mittwoch. Auch vonseiten der SPD, Grünen und FDP wird der Bundesinnenminister jetzt unter Druck gesetzt. Spät.

Seehofers Veto gegenüber Thüringen war vor vier Wochen, nach Monaten des Wissens um die Gefahr der Pandemie für Moria. Vor einer Woche wurde der erste Corona-Fall festgestellt, eine Woche später wurden 35 Menschen positiv auf das Virus getestet. Es hätte nicht nur absehbar sein können, nein, es war absehbar. Berlin und Thüringen haben es abgesehen und wollten präventiv handeln. Seehofer aber blieb im wahrsten Sinne des Wortes reaktionär: Er verweigerte die Prävention und steht jetzt vor der Herausforderung, auf ein brennendes Massenlager reagieren zu müssen. Mit seinem Veto wird er zum Vater aller Probleme, die auf den Brand in Moria folgen.

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