Krisenzeiten sind komplizierte Zeiten. In der Pandemie wird wieder der Ruf nach dem „starken Mann“ laut. Warum wiederholt sich das in demokratischen Gesellschaften, gerade in kritischen Phasen? Und wenn viele Medien einen Virologen wie Christian Drosten zu ebenjenem „starken Mann“ stilisieren: Warum ist das dann vielen Rufer:innen nach dem „starken Mann“ auch wieder nicht recht? Wir fragen Clara Schließler, die genau zu diesem Problem forscht.
der Freitag: Frau Schließler, wie fühlen Sie sich, wenn Sie Christian Drostens Stimme im Radio hören?
Clara Schließler: Ich habe tatsächlich während der ersten Corona-Welle im Frühjahr immer den Podcast zum Corona-Update mit Drosten im NDR gehört.Das hat sich richtig zu einem Ritual entwickelt. Ich habe mich sehr gut informiert gefühlt. Christian Drosten hat es geschafft, komplizierte Sachverhalte so runterzubrechen, dass man sie verstehen kann. Trotz all des Medienhypes wird er nicht zu einem aalglatten Öffentlichkeitsprofi: Er zeigt seine Menschlichkeit, gesteht seine Fehler ein, bleibt differenziert.
Ja, sympathisch! So geht es mir auch. Manche reagieren auf Christian Drosten jedoch ganz anders: Sie halten ihn für überheblich, arrogant und werfen ihm vor, zuviel Einfluss auf die Politik zu haben. Woher kommt es, dass Menschen so unterschiedlich reagieren?
Ich habe mich auch gefragt, wie ein Wissenschaftler, der eigentlich vieles richtig macht, so abgelehnt werden kann. Und genau das ist der Punkt: Es geht nicht darum, was er macht oder wie er es macht. Wenn Drosten nicht zum Sündenbock stilisiert würde, wäre es ein anderer.
Christian Drosten hat doch auch großen Einfluss auf die Corona-Politik.
Schon. Aber die Personifizierung als Schuldiger geht über die Kritik an seiner Arbeit als Virologe weit hinaus. Hinter der Auserwählung einer Person als Schuldiger stehen psychosoziale Bedürfnisse: autoritäre Bedürfnisse, wie wir sie in unserer Studie bei Anhängern von Verschwörungserzählungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gefunden haben.
Was genau meinen Sie?
Unsere Forschung basiert auf den Studien von Adorno, Frenkel-Brunswik und Kolleg:innen zum autoritären Charakter. Wie sie gehen wir davon aus, dass es das Verhältnis zu Autorität ist, das maßgeblich über Demokratiefähigkeit und Offenheit entscheidet. In der klassischen Konzeption unterwirft sich der autoritäre Charakter freiwillig einer Autorität und erhofft sich hiervon Schutz, Sicherheit und Teilhabe an deren Macht. Gleichzeitig entwickelt er eine autoritäre Aggression, weil bei der Unterwerfung gegenüber einer Autorität manche eigenen Bedürfnisse und Wünsche unterdrückt werden müssen. Da er diese Aggression aber nicht gegen die Autorität richten kann, weil dies seine Sicherheit gefährden würde, richtet er sie gegen andere, vermeintlich Schwächere.
Und einiges davon finden Sie bei den Anhängern von Corona-Verschwörungsmythen?
Ja, wir finden etwa Verschwörungsmentalität, Konventionalismus, sowie autoritäre Aggression als starke Einflussfaktoren – alles Elemente des autoritären Syndroms. Weniger ausgeprägt ist die auch zum Syndrom gehörende autoritäre Unterwürfigkeit. Das könnte daran liegen, dass der genutzte Fragebogen die Unterwürfigkeit unter etablierte Autoritäten abfragt, gegen die Verschwörungsideolog:innen aber derzeit rebellieren. Vielleicht müsste man auch andere Autoritäten abfragen.
Vielleicht suchen sie nach der autoritären Unterwerfung ja nur an falscher Stelle? Unterwerfen sich Drosten-Anhänger, die jede Kritik an ihm abschmettern, nicht stärker unter Autoritäten?
Obwohl wir immer wieder zeigen können, dass Autoritarismus ein wichtiger Einflussfaktor für eher rechte Einstellungen ist, findet man autoritäre Tendenzen überall in der Gesellschaft, zum Beispiel auch bei den Leuten, die härtere Maßnahmen gegen die Pandemie wünschen und plötzlich Bestrafungswünsche entwickeln, wenn im Supermarkt jemand seine Maske nicht ganz über der Nase trägt.
Also auch bei Leuten, die schon mit den Augen rollen, wenn andere Virologen – etwa Hendrik Streeck – zitiert werden?
Es geht grundsätzlich um das Verhältnis zur Autorität. Wenn man sich blind Drosten unterwirft und aggressiv gegen jeden wird, der ihn kritisiert, dann kann das auch autoritär sein. Es gibt aber einen Unterschied zwischen „Drosten-Ultras“ und denen, die unter „Querdenken“ auf die Straße gehen: Letztere haben das Gefühl, von einer Autorität enttäuscht worden zu sein.
Von wem sind Querdenker denn enttäuscht?
Menschen mit autoritärem Syndrom suchen nach einer starken Autorität. Wenn jemand wie Drosten sagt: „Ich weiß es noch nicht genau“, erfüllt er dieses Bedürfnis nicht. Die Autorität Wissenschaft wirkt dann enttäuschend.
Das heißt, Drostens Differenziertheit, das Eingestehen von Fehlern – das stört andere zutiefst?
Es ist die Moderne mit ihrem Fortschritt, den Emanzipationserfolgen und den damit verbundenen Verunsicherungen, die viele ablehnen. Was autoritäre Rechte, Esoteriker:innen und Verschwörungsgläubige eint, ist der Wunsch nach dem Heil in der Vergangenheit, nach der Rückkehr zu einem vermeintlich harmonischen Zustand der Gesellschaft. Daraus entsteht ein Antimodernismus, der mit seiner Brückenfunktion Antifeminismus, Antisemitismus und andere antimoderne Ressentiments verbindet. Wissenschaft und Medizin kamen wichtige Legitimationsfunktionen für die Moderne zu. Wenn der Eindruck entsteht, dass sie ihre Heilsversprechen nicht einlösen kann, entsteht eine aggressive Abkehr davon.
Vor Drosten war Greta die öffentliche Heils- oder Hassfigur...
Greta rief explizit dazu auf, "vereint hinter der Wissenschaft zu stehen". Bei der Kritik an Greta Thunberg kam auch noch Antifeminismus dazu.
Der zieht auch bei Drosten. Manche lehnen ihn als akademischer Softie ab.
Das gehört ja auch zu dem "zurück zu": zurück zum Patriarchat und harter Männlichkeit. Drosten zeigt seine Grenzen, seine Schwäche. Anders Donald Trump, der bei Amtsantritt sagt: Only I can fix this.
Steht der Einfluss der Wissenschaft nicht tatsächlich manchmal im Gegensatz zur Demokratie? Schließlich setzt sie der Politik harte Grenzen, und das ruft Ohnmacht hervor.
Demokratie braucht immer Alternativen zur aktuellen Politik. Drosten ist Wissenschaftler, er kommt zu Ergebnissen, die sich übrigens von denen eines Hendrik Streeck nicht so stark unterscheiden. Der Dissens liegt in der Deutung dieser Ergebnisse – und der Frage, welche Konsequenzen sie für die Politik haben sollten. Noch einmal: Es geht nicht um Drosten als Person. Die Menschen sind von der Autorität Wissenschaft enttäuscht. Die ist ja auch nervig: Es gibt Fortschritte, dann Sackgassen, Erkenntnisse und Widerlegungen.
Zur Person
Clara Schließler ist Sozialpsychologin am Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung der Universität Leipzig und beschäftigt sich am Beispiel der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mit Verschwörungsmythen und dem „autoritären Syndrom“
Nun lehnen viele Kritiker der Corona-Maßnahmen die Wissenschaft nicht ab, sondern zitieren Wissenschaftler:innen mit abweichenden Einschätzungen.
Kritik an den Corona-Maßnahmen, ebenso eine gewissen Skepsis gegenüber Menschen, die plötzlich viel in Medien zitiert werden, ist in Ordnung, ja sogar wichtig in der Demokratie. Wer teilt nicht ein gewisses Unbehagen, ob die Gesellschaft angemessen auf die Pandemie reagiert? Ich verstehe Virologie nicht, ich verstehe Programmiersprache nicht, das verunsichert und löst Gefühle der Ohnmacht aus. Aber dort, wo die Bearbeitung von Skepsis und Ohnmachtsgefühlen autoritär wird, wird es problematisch.
Wenn auf dem Schild also nicht steht: „Hört euch auch andere Wissenschaftler an“, sondern Drosten in Häftlingskleidung gesteckt und als „schuldig“ abgestempelt wird.
Ja, wenn die Aggression personifiziert wird, ein Schuldiger ausgemacht wird, ob das Drosten ist oder Bill Gates. Oder, wie das bei Verschwörungsmythen der Fall ist: die Juden.
Was ich noch immer nicht verstehe: Hier richtet sich die Aggression aber doch nicht gegen „die Juden“, auch nicht nach unten gegen Minderheiten, sondern gegen tatsächliche Autoritäten. Die Schilder zeigen Merkel, Söder, Ramelow, Lauterbach, Spahn.
Elitenkritik ist in einer Demokratie wichtig, aber die Art und Weise, wie das gerade häufig geschieht, ist auffällig. Auch wenn sich die Aggression nicht explizit gegen Jüd:innen oder Schwächere richtet, scheint die Verlockung, sich antisemitischer Symbolik zu bedienen, doch auffällig groß zu sein. Im Antisemitismus werden Jüd:innen als eine „starke“, die Welt lenkende Minderheit imaginiert, gegen die sich die Aggression richtet.
Merkel, Söder oder Spahn tragen ja aber tatsächlich Verantwortung im Umgang mit der Pandemie. Das ist keine Imagination.
Es ist nicht autoritär, die Regierungspolitik in der Pandemie zu hinterfragen. Es ist autoritär, die Komplexität einer Pandemie, der Gesellschaft und der Politik nicht anzuerkennen, sondern stattdessen einem Drosten oder einer Merkel die Schuld an der Situation zu geben. Problematisch ist auch die Vorstellung, dass die Situation gelöst würde, wenn sie „weg“ wären.
„Merkel muss weg“ ist ein Spruch der AfD. Eine Studie vom Team des Soziologen Oliver Nachtwey zeigt jedoch auf, dass Grüne und Linke unter Corona-Demonstranten stärker sind als die AfD.
Ich kann mich nur auf eine Meldung berufen, nach der 30 Prozent der Befragten angegeben haben, sie würden bei der nächsten Wahl die AfD wählen. Wir haben in unserer repräsentativen Umfrage keine Demonstrierenden befragt, aber es zeigte sich, dass sich generelle Verschwörungsmentalität mit 49 Prozent am stärksten bei denen findet, die sich als „rechts außen“ einschätzen, gefolgt von denen mit Selbsteinschätzung als „rechts“ mit 29,9 Prozent und als „links außen“ mit 21,8 Prozent. Aber auch Menschen, die sich in der Mitte verorten, zeigen häufig eine Verschwörungsmentalität.
Es fällt einem Bild-Leser vielleicht auch schwer, einem Wissenschaftler wie Drosten zu vertrauen, der nach eigener Aussage „Besseres zu tun hat“, als Fragen der Bild zu beantworten.
Es ist nachvollziehbar, warum ein nichtakademisches Milieu auf diese Aussage vielleicht mit Abwehr reagiert. Aber: Es ist nicht die primäre Aufgabe eines Virologen, alle gesellschaftlichen Schichten einzubeziehen und zu erreichen. Das ist der Job der Politik und auch der Medien: dafür zu sorgen, dass seine Aussagen kontexualisiert und ergänzt werden.
Dabei ist die Transparenz doch heute viel größer. Früher wusste man nicht, wer in so einem Beraterstab sitzt, heute kann man Drostens Denken, seine Argumente auf Twitter live mitlesen, er antwortet dort sogar auf Kritik. Wieso hilft das nicht gegen Verschwörungsglauben?
Die Frage ist vielleicht keine der Transparenz, sondern eher die, wer sich abgehängt fühlt und wer nicht. Gegen ein gesellschaftliches Phänomen der Verunsicherung, des Abgehängtseins und der Ohnmacht hilft es nicht, mal auf Twitter eine Antwort zu bekommen.
Sondern?
Es würde helfen, die soziale Ungleichheit zu verkleinern. Gesellschaftliche Teilhabe zu verbreitern. Die Grundlage des Gefühls von Ohnmacht, das mit Verschwörungsglauben, Aberglauben und autoritärer Aggression bearbeitet wird, wird durch gesellschaftliche Begebenheiten ausgelöst. Und die müssen bearbeitet werden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.