Vorhang auf!

#baseballschlägerjahre Organisationen wie die Antifa bedrohen die Meinungsfreiheit, heißt es in den Medien. Dabei müssten uns die Erinnerungen an die 1990er-Jahre eines Besseren belehren
Die Antifa-Erfahrungen aus dem Alltag sind unverzichtbar
Die Antifa-Erfahrungen aus dem Alltag sind unverzichtbar

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Da ist sie wieder, die Göttinger Antifa. „Die Antifa“. Sie bedroht die Meinungsfreiheit in Deutschland, weil sie Thomas de Maizière an einer Lesung hinderte, meinen drei führende Wochenzeitungen. Die Göttinger Antifa ist nicht irgendeine Antifa, sie hat Geschichte: 1990 wurde dort die Antifa [M] gegründet, eine treibende Kraft der bundesweiten Antifa-Vernetzung AA/BO. Sie stellte sich der Neonazi-Gewalt auf den Straßen der westdeutschen Stadt erfolgreich entgegen – so erfolgreich, dass das sogar vom Göttinger Oberstaatsanwalt gewürdigt wurde: Dass es in Göttingen kaum noch Nazi-Aktivitäten gebe, habe „neben der strafrechtlichen Verfolgung“ auch „die Präsenz einer starken antifaschistischen Szene“ bewirkt, sagte Hans Hugo Heimgärtner 2011 im Göttinger Tageblatt.

Wie es in den 1990ern auf den Straßen in West und Ost aussah, das ließ sich in den vergangenen Tagen auf Twitter nachlesen. Anlass für die Hunderten Berichte über die Neonazi-Gewalt war ein Bericht des Zugezogen-Maskulin-Rappers Hendrik Bolz im Freitag. „Die Erwachsenen“, schrieb Bolz, „huschten selber draußen im Dunkeln wie flinke Mäuse von Wohnung zu Wohnung und zogen bei Geschrei die Vorhänge zu.“ Der Rapper ist in Stralsund aufgewachsen, und im Freitag schrieb er über Glatzen in Bomberjacken, über „Baseballschläger, Stahlkappen, Schlagstöcke, zu Brei kloppen, abstechen, Bordsteinfressen, Opfern am Boden auf dem Kopf rumspringen“. „Baseballschlägerjahre, nannte das der Zeit Online-Journalist Christian Bangel, twitterte Bolz' Artikel – und erhielt Hunderte ähnlicher Berichte als Antwort. Vertragsarbeiter, die sich wie Freiwild fühlten. Jugendliche, die ins Krankenhaus geprügelt wurden. Rannten, ständig rannten. Der Hashtag trendete.

Es ist, als würde die kollektive Traumatherapie der Wendegeneration weiter voranschreiten: Erst der revolutionäre Herbst. Dann der Mauerfall. Und jetzt eben: die 1990er. National befreite Zonen, Neonazis im Osten nehmen sich die Macht, die auf der Straße liegt; im Westen nutzen sie den frisch erblühten Nationalstolz. Das Problem ist nur: Die Baseballschlägerjahre sind keine Jugendgeschichten. Die Jugendlichen von damals sind die Erwachsenen von heute. Alle.

Die Neonazis von damals sind heute im besten AfD-Wahlalter

Die stärkste Wählerschaft der AfD sind Männer zwischen 30 und 59. Es sind Männer, schreibt der Rechtsextremismus-Forscher David Begrich, deren Pubertät und Jugend in die Hochphase der Hegemonie rechtsextremer Jugendkultur in Ostdeutschland fiel. Drei Phasen unterteilt Begrich: Beginn Mitte der 80er, erster Höhepunkt zwischen 1990-1992, Hochplateauphase 1994 bis 1997. Die jagenden Neonazis von damals sind heute im besten AfD-Wahlalter.

Und natürlich: Teil der Gesellschaft. Die wenigsten „freien Kameraden“ sind zu den Hells Angels gegangen, oder in den Untergrund (500 Neonazis, nach denen die Polizei fahndet, sind derzeit nicht auffindbar). Viele haben Familie, sind gut vernetzt in ihrer Stadt, haben einen Job. Zum Beispiel bei der Polizei. Oder bei der Bundeswehr. Wo sie rechte Netzwerke schmieden, Todeslisten anfertigen und Drohungen verschicken. Manche wurden Landeschefs der AfD.

Auch „die Erwachsenen“ von damals gibt es noch. Jene, die den „Asylkompromiss“ verabschiedeten, nachdem der Mob in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Wohnheime für Geflüchtete angriff. Jene, die es während der 1990er durchweg vermieden, von Neonazi-Gewalt zu sprechen, und stets nur „Jugendgewalt, vonrechtsundlinks“ sagten, ein Wort. Die gibt es noch. Vonrechtsundlinks, sagen sie. Von rechts: Terroranschläge, Morde, Morddrohungen gegen Politiker*innen, fast 200 Tote seit 1990. Von Links? „Die Antifa“ blockiert in Göttingen den ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière.

Da ist er wieder, der Vorhang „der Erwachsenen“

Es ist, als würde sich noch etwas aus den 1990er Jahren wiederholen: Während deutschlandweit Rechtsextreme immer mehr Land gewinnen, diskutieren „die Erwachsenen“ über die Gefahren durch „die Antifa“. Die Mitglieder der Antifa M. übrigens wurden 1995 wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt (§129a). Dennoch hielt sich die antifaschistische Szene in Göttingen auch während der Phase Kriminalisierung. Die Antifaschistische Linke International (A.L.I.) ist eine Nachfolgeinitiative der alten Antifa M. Im Oktober 2019 blockierte sie Thomas de Maizière, um auf die verschärfte Verfolgung linker Kurden in Deutschland unter seiner Regierung als Innenminister aufmerksam zu machen. Denn dass die CDU gut darin ist, Linke zu kriminalisieren, aber bei Rechtsextremen jahrzehntelang versagt – das weiß wohl niemand besser als die Göttinger Antifa.

Dennoch ist es ihre Aktion, die von Zeit über Spiegel bis FAS als Gefährdung der Meinungsfreiheit diskutiert wird. Während in der Thüringer CDU darüber nachgedacht wird, mithilfe eines Faschisten an die Regierung zu kommen. Da ist er wieder, der Vorhang der „Erwachsenen“.

Doch die Jugendlichen von damals müssen heute nicht mehr rennen. Sie sind erwachsen, sie sitzen in den Redaktionen, wie Christian Bangel oder Daniel Schulz, sie sind Autorinnen geworden, wie Manja Präkels oder Peter Richter, und sie erzählen. Sie ziehen den Vorhang auf. Die Frage ist nur: Können alle sehen?

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