Samstagabend in Berlin-Kreuzberg: Menschen, zusammen. Schulterklopfen. Umarmen. Trinken. Anstoßen. Lachen. Anlächeln. Berühren. Da waren sie noch voll, die Kneipen und Bars, da gab es noch das, was man normales öffentliches Leben nennt. Menschen in Gesellschaft, miteinander. Das war früher.
Da schon kam es fast zur Prügelei. Erst zischten die Vorbeilaufenden nur am Telefon: „Ich sage dir, diese Leute hier, alles voll, kein Abstand, diese unsolidarischen Idioten treffen sich ganz normal weiter.“ Böse Blicke. Böse Tweets. Dann: die ersten Pöbeleien. Die Spannung stieg, die Wut derjenigen, die den Abstand einhielten, auf die Leichtigkeit derjenigen, die das noch nicht einsahen. Fühlbar, diese Spannung. Es fehlte nicht viel, und w
, und wären da nicht die gebotenen zwei Meter Abstand gewesen, es hätte vielleicht Schläge gegeben. Erst die noch am selbigen Abend verabschiedete Order des Berliner Senats, alle Kneipen und Bars zu schließen, brachte Ruhe. Nahm die Verantwortung für die Entscheidung, wie viel Normalität, wie viel Nähe noch verantwortbar ist, den Individuen ab.Doch noch immer durchzieht die Wut die sozialen Netzwerke. Weil die Cafés noch geöffnet hatten. Weil die Sonne herauskam und sich Menschen auf den Wiesen versammelten. Unsolidarisch nennt man es jetzt, das körperliche Zusammensein, und das ist es wohl auch: Die Ansteckungsgefahr erhöht sich durch leibliche Nähe, die jungen, potenziell weniger gefährdeten Leute verbreiten jenes Virus, das andere Bevölkerungsgruppen stärker bedroht. Die Wut: Da stellen Leute ihren abendlichen Spaß über die Gesundheit anderer. Dabei ist es doch nicht so schwer. Ein paar Wochen nicht auszugehen. Nicht so viele Freundinnen zu sehen. In der Wohnung zu bleiben, einfach zu Hause zu bleiben. Zu Hause. Dort, wo es sicher ist. Sicher.Auf die meisten trifft das vermutlich zu. Für die meisten lauert zu Hause lediglich die Gefahr, sich nach ein paar Tagen oder Wochen so richtig zu langweilen, sich auf den Keks zu gehen, sich anzuzicken. Die Decke, die auf den Kopf fällt. Aber nicht alle verbringen ihre Zeit nun Karten spielend mit sich langweilenden Kindern, zoffend mit sich langweilenden Partnerinnen oder Mitbewohnern. Viele sind auch alleine, einsam, vielleicht krank. Für die ist es schwer. Und dann gibt es noch diejenigen, für die stellt das Zuhause eine Gefahr dar, eine Lebensgefahr gar, immer schon, und jetzt erst recht.Zuhause, das ist für Familien, die nicht zurechtkommen, ein furchtbarer Ort. Für Kinder, die von ihren Eltern täglich angeschrien werden. Für sie bedeutet wochenlange Schulschließung, keine Auszeit zu haben. Sie können ihren Eltern nicht mehr entkommen, bekommen keine Ablenkung, sehen ihre Freunde nicht. Es kommen nicht einmal die Großeltern, die manchmal Ruhe reinbrachten in die ewige Schreierei, in das Brüllen, vielleicht: das Schlagen.Auch das fällt weg: die Lehrer, die dem schweigsamen Kind helfen; die Freundinnen, die das blaue Auge sehen und nicht schweigen; die Familienangehörigen, zu denen man fährt, um wegzukommen.Zuhause, das ist auch für viele Frauen nicht sicher. Jene Frauen, die mit einem Partner in diesem Zuhause leben, der sie schlägt. Nicht immer natürlich, nein, meistens ist er ja ein lieber Kerl, nur wenn er frustriert ist, Ärger hat, getrunken hat, dann, manchmal ... und dieses „manchmal“, das ist jetzt. Frust. Ärger. Angst. Nicht rausgehen können, um ein Ventil für den Frust zu finden. Um mit den Kumpels zu saufen. Also saufen zu Hause, schön zu Hause, ein paar Bier, das lässt dem Ärger freien Lauf. Die Frauenhäuser warnen. Die Gewalt an Frauen wird zunehmen, wie sie in jeder Krisensituation zunimmt. Quarantäne bedeutet für diese Frauen: ausgeliefert sein.Zu Hause, das ist für Kranke ein Problem. Kaum Besuch, keine Ablenkung. Für Depressive. Kein rausgehen, keine Freunde treffen, kein schwimmen gehen. Gegen die Angst gibt es nur noch spazieren, spazieren, und wenn in Zeiten der Ausgangssperre, dann auch das nicht mehr. Zu Hause bleiben. Das gilt auch für Menschen, die gerade einen Lieben verloren haben, die trauern. Mit dem sie zusammenlebten, vielleicht. Zu Hause in der gemeinsamen Wohnung, jetzt ohne ihn oder sie. Keine Ablenkung. Kein Kino. Kein Trinken in der Kneipe. Kein Eisessen. Kaum Besuche von Freundinnen. Keine Normalität, kein Alltag. Für Menschen, die gerade eine schwere Diagnose bekommen haben. Menschen, die psychisch labil sind. Selbstmordgefährdet womöglich.Zu Hause, das wird für viele nach ein, zwei, drei Wochen langsam zur Qual; für nicht wenige Menschen ist es gleich die Hölle. Für sie fällt jetzt Solidarität weg. Bricht zusammen.Öffentliches Leben, Gesellschaft, soziale Netzwerke, Begegnungen, auch die kleinen: Das alles ist kein Luxus, kein Vergnügen, kein Nice-to-have, es ist nicht einfach verzichtbar. Soziale Netzwerke sind die Basis der Gesellschaft, je funktionierender die sozialen Beziehungen, desto sicherer ist ein Mensch, und wenn sie nicht funktionieren, dann kommt es auf die Umgebung an. Auf die anderen.Das bedeutet nicht, dass das öffentliche, das gesellschaftliche Leben in dieser Krise nicht eingeschränkt werden darf; das müssen die Virologen entscheiden, die Regierungen, die Gesellschaft. Die sozialen Netzwerke jedoch sind voll von Tweets über das Familien- oder WG-Leben. Sie sind nicht voll von Tweets, die über Einsamkeit oder Gewalt zu Hause schreiben. Das ist kein Zufall. Denn was zu Hause passiert, das ist unsichtbar. Privat. Deshalb grassiert Gewalt dort so stark. Sichtbarmachung, soziale Aufmerksamkeit, viele Kontakte, das hilft den Betroffenen. Das gilt nun als unsolidarisch.Fürsorge organisierenIn der Krise und im Krieg tendiert die Gesellschaft dazu, sich auf das zu konzentrieren, was sie für das Wesentliche hält: Gesundheit. Ernährung. Überleben. Was das Wesentliche ist, bestimmt im Krisenmodus, noch mehr als sonst, die Mehrheitsgesellschaft. Die Mehrheit der Gesellschaft ist psychisch stabil. Die psychisch Kranken stellen jedoch nicht gerade eine kleine Minderheit dar. Etwa ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland leidet unter Depressionen, ähnlich verbreitet sind Angststörungen und Alkoholismus. Jede vierte Frau erlebt Gewalt durch ihren (Ex-)Partner. Ihre Misere auch in dieser Krise sichtbar zu machen, ihnen Unterstützung zu bieten, auch das ist ein Akt der Solidarität, der jetzt dringend notwendig ist. Denn auch psychische Krankheiten sind lebensbedrohlich, für die Betroffenen und ihre Angehörigen.Man wird sehen, was sich aus dem Virus lernen lässt. Vielleicht ist es das: Die größten Gefahren für die Gesellschaft sind häufig unsichtbar. Oder das: Nicht alle brauchen die gleiche Form von Fürsorge, es ist wichtig, auf die Bedürfnisse der Einzelnen zu achten, der Schwachen, das sind jetzt die Alten, aber längst nicht nur.Es ist schwer, das alles jetzt zu sehen, weil die Sonne herauskommt, weil die Knospen sich öffnen und die ersten Sträucher blühen, aber gesellschaftlich ist nicht Frühling, sozial ist der Herbst da. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Es sei denn, es gelingt, Gemeinschaft aufzubauen, Fürsorge zu organisieren, auch unter Krisenbedingungen. Virtuell. Videotherapien, Social-Media-Gruppen, Konzerte am Fenster, Anrufe, Kümmern, so viel Kontakt wie möglich, digital. Und durch Wände, unter Nachbarn. Was aber zunächst wegbleiben muss, und was sich als unersetzlich, ja existenziell erweisen wird, ist: die Berührung. Wer jetzt keine Berührung hat ...