Wer lebt gerade eigentlich in Chemnitz? Migrantinnen oder People of Color? Besorgte Bürger? Neonazis? Rechte? Linke? Demokratinnen? Antifas? Kaum ist der erste Schock nach den Jagdszenen auf Migrantinnen verdaut, geht in der Debatte das Spiel um die Begriffe und die Zahlen los. 11.000 Menschen haben am Samstag in der Stadt demonstriert, sagt die Polizei. 8000 Rechte und 3000 Demokratinnen – die Minderheit. „Wir sind mehr“, behauptet nun dennoch die Kampagne rund um ein linkes Konzert, das am Montagabend in Chemnitz organisiert wird. Mit dabei: die Antifa-Band Feine Sahne Fischfilet. Jetzt also auch noch die Linksradikalen und die Antifas! Gehören die nach Chemnitz? Kommen die nicht als linksradikales Ufo in die Stadt geschwebt, halten ihr Gutmenschen-Konzert gegen Rassismus ab, danach prügeln sich noch ein paar erlebnisorientierte Antifas mit ein paar erlebnisorientierten Neonazis, und dann zieht die ganze Bagage wieder ab? Und dann? Ist der Bevölkerung in Chemnitz damit geholfen? Die Debatte kocht – durchaus auch innerhalb der Linken. Was kann ein antifaschistisches Konzert gegen den Rechtsruck ausrichten?
Die Sorge ist groß, dass der demokratische Teil der Chemnitzerinnen – also jener, der seine politische Sorge nicht gegen Geflüchtete richtet und sich den Neonazis und der AfD eben nicht anschließt – solch ein Konzert nicht als eigenen Ort entdeckt, als Ort, an dem man sich politisch austauschen und politisieren kann, sondern sich im Gegenteil abgeschreckt und ausgeschlossen fühlt. Es gibt Berichte über Chemnitzer, die zuerst zu rechten Kundgebungen gegangen sind, sich dort fehl am Platze gefühlt haben, dann zu Herz statt Hetze wechselten – und dort als Rechte angepöbelt und vertrieben wurden. Antifas sind für ihre Sensibilität in Sachen politischer Kommunikation mit Unpolitischen nicht gerade bekannt. Was, wenn das Konzert gegen Rassismus nun das Gegenteil bewirkt – linke Positionen also nicht anschlussfähig macht, nicht in den Dialog mit der Stadtbevölkerung geht, sondern als ebenso instrumentalisierend wahrgenommen wird wie die bundesweite Mobilisierung von Neonazis nach Chemnitz? Das würde den linksoffenen Teil der Chemnitzer nicht gerade stärken.
„Wir sind mehr“, lautet das Motto des Konzerts. Aber sind „wir“ wirklich mehr? Wenn am Abend Tausende Linke und Antifas nach Chemnitz einreisen, um nach ein paar Stunden wieder abzureisen, erweckt das vielleicht kurzfristig den Anschein, mehr zu sein. Danach ist dieses „mehr“ wieder zu Hause, in Berlin, Leipzig, Hamburg, in den Städten, und die Linken, Liberalen, ob des Rassismus Besorgten in Chemnitz müssen wochenlang ihre linken, liberalen und antirassistischen Ideen mit dem Satz verteidigen, dass nicht alle Linken solche linksradikalen Antifas sind.
Ein linkes Angebot
Können wir es also lassen? Nein, auf keinen Fall. Denn es ist komplizierter. Die Bands, die am Abend im Chemnitz spielen, kommen nämlich keineswegs aus Berlin eingeflogen. Kraftklub kommt aus Chemnitz und sorgt seit Jahren dafür, dass sich junge Chemnitzer mit einer coolen, bundesweit erfolgreichen linken Band identifizieren können. Dass auch westdeutsche Linke bemerken, dass es eine linke Subkultur im Osten gibt. Auch Feine Sahne Fischfilet ist bekannt dafür, dass sie eben nicht wie ein Ufo in ostdeutsche Städte hereinfliegt, alle Ostdeutschen als Neonazis beschimpft und dann wieder abhaut. Die Band wird gefeiert für ihre kontinuierliche antifaschistische Arbeit im Osten. Selbst aus MeckPomm stammend, sorgen diese Jungs dafür, dass es für die Jugendlichen dort nicht nur rechte Angebote gibt, ihrem Frust Luft zu machen – sondern auch linke. Wenn die Neonazi-Kneipe der einzige Ort ist, an dem im Kaff noch etwas los ist, dann gehen Jugendliche dahin, da passiert was, da gibt es eine Gang, mit der man abhängen kann, coole Nazi-Tattoos, coole Nazi-Musik, coole ... Menschenjagd?
Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet und viele andere Antifas sorgen dafür, dass es ein alternatives Angebot gibt. Eine linke Subkultur. Dass es die örtliche Antifa gibt, dass es linke Tattoos gibt, dass es coole linke Musik gibt, eine linke Szene mit allem, was dazu gehört, und was eben nicht dazu gehört. Anstatt Migranten zu jagen, wird sich schützend vor Flüchtlingsunterkünfte gestellt. Ja, das Erlernen des Zweikampfs gehört dazu, weil die Prügelei mit den lokalen Neonazis nicht ausbleibt. Nur so konnte die Antifa-Kultur in den vergangenen Jahrzehnten überdauern. Ohne sie wäre es jedoch wirklich finster im Osten – und ebenso in vielen westlichen Kleinstädten.
Mag sein, dass Chemnitzer über 40 mit dieser Kultur nicht so viel anfangen können. Die Jugend, die mit der rechten Szene nichts anfangen kann, bekommt jedoch ein Gefühl dafür, eben nicht abgehängt zu sein, nicht als langweilig abgestempelt werden zu müssen, wenn sie bei den Neonazis nicht mitmischt. Sie bekommt die Möglichkeit, bei einer großen Bewegung gegen Rechts mitzumachen, die, auch im Osten, eine lange Tradition mit der entsprechenden Kultur hat. Auch diese Kultur gehört zu Chemnitz. „Gebt Sachsen nicht auf“, ist ein viel zitiertes Plakat von Samstag. Wer Sachsen nicht aufgibt, sind eben diese Bands. Denn, wie singt Monchi? Auch wenn wir ganz schön tief in der Scheiße stehen: Wir haben immer noch uns.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.