Mein indisches Essen wird mir gleich noch nachgeliefert“, Jörg Schindler rennt gehetzt in den Nachbarschaftstreff in Berlin-Kreuzberg, „ich konnte nicht mehr in meiner Kanzlei darauf warten.“ Er pendelt zwischen seinem Anwaltsbüro im sachsen-anhaltinischen Wittenberg und Berlin, zwischen der Kanzlei in Berlin-Neukölln und der Rechtsberatung im Düttmann-Arbeiterkiez in Kreuzberg. Er pendelt so schnell, dass ihm sein indisches Essen bisweilen nicht mehr hinterher kommt. Am 9. Juni stellt er sich beim Parteitag in Leipzig zur Wahl als Bundesgeschäftsführer und potentieller Wahlkampfleiter der Linken – unterstützt vom Führungsduo Katja Kipping und Bernd Riexinger.
Die Welten, in denen der Anwalt für Arbeitsrecht praktiziert, k
tiziert, könnten unterschiedlicher kaum sein. In Wittenberg vertritt er seit 18 Jahren Mandanten, deren DDR-Facharbeiterausbildung nichts mehr wert ist, die sich seit Jahren mit dem Jobcenter herumschlagen. Zur Beratung in Berlin kommen meist Migranten und Geflüchtete, die kaum Deutsch sprechen. Und sobald sich der 46-Jährige im „Dütti-Kiez“ in seinen Wagen setzt und die Urbahnstraße in Richtung Graefekiez überquert, befindet er sich wieder in seinem sozialen Milieu: unter liberalen Besserverdienern.Einen Wandler zwischen den Welten, das kann eine Linke gut gebrauchen, die gerade selbst zwischen den Milieus pendelt. Seit den Bundestagswahlen diskutiert die Partei: Sollte sie sich den neu erschlossenen urbanen Linken stärker öffnen, liberal, kosmopolitisch? Schadet das nicht ihrer Verankerung im traditionellen Arbeitermilieu, wo sie an Stimmen verlor? Und: Welche Migrationspolitik soll die Linke in dieser Gemengelage vertreten?Schindler selbst ist direkt an dieser Debatte beteiligt: Der Wittenberger Kreistagsabgeordnete entwickelte 2017 ein Konzept mit, das juristische Möglichkeiten auslotet, ein grundsätzliches Recht auf Einwanderung zu schaffen. Kann denn einer, der sich in einer zentralen Streitfrage der Partei selbst so stark positioniert, einen guten Moderator abgeben?Jetzt stöpselt Schindler erst einmal seine kleine mobile Maus an den Laptop und ruft die Emails einer Klientin auf. Die junge Frau ist Türkin, obwohl sie in Nürnberg geboren wurde. Sie war Maschinenanlagenführerin, hat gerade gekündigt, zu spät gemeldet, das Jobcenter kürzt ihr das Geld. Sie ist alleinerziehende Mutter, der Unterhalt des Vaters kommt manchmal, gerade kommt er nicht. Schindler geht alle Felder durch, auf denen sie Ärger hat: Aufenthalts-, Familien-, Arbeits-, Mietrecht, ganz pragmatisch, „da schreiben wir Ihrem Ex einen Brief, und wenn der dann nicht zahlt – zack-bumm! – ist das Konto dicht!“. Vielleicht auch zu pragmatisch: „Wenn Ihr Partner nach Istanbul abhaut, können Sie nichts mehr machen, weil: viel Spaß mit den Gerichten in der Türkei!“ Die junge Mutter zuckt kurz zusammen, aber am Ende läuft alles, Zahlungsaufforderung an den Vater, Widerspruch beim Jobcenter, Klage auf einen Kita-Platz in Berlin. Zack-bumm.„Sehen Sie“, sagt Schindler nach dem Gespräch, hektisch die inzwischen kalte indische Suppe schlürfend, „Probleme durch Hartz IV und Migration – und als alleinerziehende Mutter, die Welten liegen gar nicht so weit auseinander.“ 2013 hatte der Sozialrechtler die Idee mit der kostenlosen Rechtsberatung im Dütti-Kiez, sein Sohn ging hier in die Kita, da fragten ihn die Nachbarn beim Einkaufen im Netto nach ihren rechtlichen Möglichkeiten. Wenn er Bundesgeschäftsführer wird, will er die Beratung fortführen.Denn dass er als Anwalt unabhängig von der Partei ist, das ist Schindler wichtig. „Ich verdiene über 3.000 Euro netto, da brauche ich keinen Posten für meine Karriere. Ich kandidiere, weil ich diesen Job machen will.“ Was aber ist das für ein Job? Kann der Arbeitsrechtsanwalt Kampagne? Bei Attac lernte der Globalisierungskritiker jedenfalls, wie eine Mitgliedsorganisation funktioniert, die auf Basis setzt. „Die Linke braucht nicht den großen Knall“, sagt er, „der Partei tut es gut, wenn sie langsam, aber kontinuierlich wächst, selbst Sammlungsbewegung wird statt die Unterschriften linker Promis zu sammeln.“Ist das Mitglied des Instituts Solidarische Moderne, dem auch Kipping angehört, also „gegen Sahra“? Schindler gibt sich als Moderator: „Ich bin mit Sahra nicht zerstritten“, sagt er, „ich habe mir ihr noch nie ein direktes Wort gewechselt.“ Sahra Wagenknechts Anliegen aber könne er nachvollziehen: die Sorge darum, dass die Partei zu klein sei, dass sie die vielen Sozialdemokraten, die sich von der SPD abwenden, nicht an sich ziehen könne.Das ist Schindlers Ansatz: Das legitime Anliegen des anderen erkennen, und dann eine Lösung finden für die Differenzen. Der Lokalpolitiker weiß, wovon er spricht. Parteidebatten an der Basis führt er alle paar Tage, auf Veranstaltungen zum Einwanderungskonzept, die auch jetzt stattfinden, Ende Mai in Querfurt, Anfang Juni in Naumburg. Die Genossen hätten Bedenken, sicher, „aber auf keiner einzigen Veranstaltung habe ich einen getroffen, der sich originär rassistisch geäußert hätte.“ Vielmehr gebe es zwei gleich große Gruppen: jene, die – als Lehrer oder Sozialarbeiter – schon einmal Kontakt zu Geflüchteten hatten und sich ein progressives Einwanderungsrecht wünschen. Und jene, die skeptischer sind, die für eine schärfere Regulierung plädieren. Da brauche es Moderation.Was aber, wenn sich die Parteiströmungen nicht von Schindler moderieren lassen wollen? Mit Klageschriften, Widersprüchen und Fristen kommt ein Bundesgeschäftsführer wohl kaum weiter. Dann wird sich zeigen, wie viel Moderator tatsächlich in ihm steckt. Aber erst nach dem Parteitag. Dort muss er erst einmal gewählt werden. Zack-bumm.
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