Jagdszenen in Belleville

Tatort Schule Wenn sich die Pariser Polizei an die Kinder illegaler Einwanderer hält

Mehr als erwartet hat das Thema nationale Identität den Kampf um die nächste Präsidentschaft in Frankreich während der zurückliegenden Wochen beherrscht. Verdeckte oder offene Angriffe gegen Einwanderer und Migranten aus den einstigen Kolonialgebieten waren nicht zu überhören und nicht zu übersehen. Menschen, die ohnehin sozial marginalisiert werden, behandle man inzwischen wie eine "Bedrohung der Nation", resümiert der Pariser Soziologe Mathieu Rigouste im Freitag-Interview.

Erschrockene, verängstigte Schüler, Rufe, Schreie, Pfiffe - und Eltern, die sich vor Polizeifahrzeuge werfen. Szenen, wie sie sich seit einigen Wochen immer wieder vor dem Portal einer Pariser Grundschule abspielen, wenn eine Polizeistaffel aufzieht und Kinder nach dem Unterricht in Gewahrsam nimmt. Von deren Eltern weiß man oder glaubt man zu wissen, dass sie als "illegale Migranten" in Frankreich leben, als so genannte "Sans Papiers". Also holt sich der Staat die Kinder als Geiseln, um so eine Ausreise der betroffenen Familien zu erzwingen.

Am 3. April wird während einer solchen "Rafle" - einer Jagd oder Razzia, wie es in Paris allgemein heißt - ein chinesischer Einwanderer festgenommen, als er im Stadtteil Belleville, dem Chinatown von Paris, in einem Café auf seine Enkelkinder wartet. Schüler an der "Ecole Rampal", einer Lehranstalt direkt gegenüber. Plötzlich stürmt die Polizei das Lokal und lässt sich von allen Gästen die Ausweise zeigen. Als sich einige Eltern der drohenden Verhaftung des Chinesen in den Weg stellen, werden sie mit Hunden bedroht. Es kommt zu einem Handgemenge, das sich vor dem Café fortsetzt. Vor den Augen der weinenden Kinder werden Menschen gestoßen und geschlagen. Da sie sich trotz allem weigern, das Trottoir zu räumen, setzt die Polizei Pfeffergas ein. Doch davon lassen sich die inzwischen aus der "Ecole Rampal" herbei geeilten Lehrer nicht beeindrucken, als nun auch sie versuchen, den Abtransport des Chinesen zu verhindern.

Die Gendarmen ordern Verstärkung, was zunächst nicht sonderlich viel bewirkt, denn inzwischen liegen Lehrer und Eltern auf der Straße und blockieren die Polizeifahrzeuge - noch einmal wird Pfeffergas versprüht.

Immerhin sorgt dieser ungestüme Protest dafür, dass der Mann am nächsten Tag wieder auf freiem Fuß ist, nun aber hält sich die Polizei an die Direktorin der Schule, sie habe zum Aufruhr, zur Störung der öffentlichen Ordnung aufgefordert und außerdem Beamte beleidigt. Zunächst bleibt es bei einem sechsstündigen Verhör auf dem zuständigen Kommissariat. Ein Ende der Geschichte ist das nicht, obwohl mehrere Augenzeugen zu Protokoll geben, die Pädagogin habe lediglich die Schulkinder vor dem Polizeieinsatz schützen wollen. "Ich verstehe nicht mehr, in welchem Land wir eigentlich leben", sagt verbittert François Legrand, dessen Kinder ebenfalls die "Ecole Rampal" besuchen. "Dass eine Lehrerin festgenommen wird, weil sie ihre Kinder schützen wollte, das ist nicht normal."

"Seit Wochen ist die Stimmung in Belleville unerträglich geworden", erzählt Cécile Mercier, die an diesem Tag gleichfalls auf ihre Kinder gewartet hat. Die "Rafles" gehörten inzwischen fast schon zum Alltag. "Einen Tag, bevor sie sich den Chinesen gegriffen haben, ist an der gleichen Stelle eine Frau ohne Papiere verhaftet worden, die ihren Neffen von der Schule abholen wollte."

30.000 Familien konnten hoffen

Vor zwei Jahren schon gründeten Pädagogen und Eltern das landesweite Netzwerk Réseau éducation sans frontières (RESF/Bildung ohne Grenzen), um die von Nicolas Sarkozy forcierte Abschiebung von Schülern und Gymnasiasten "sans papiers" zu verhindern oder dieser inhumanen Praxis zumindest Grenzen zu setzen. Der Innenminister sah sich daraufhin im Juni 2006 zu einer Verordnung veranlasst, wonach allen Eltern ohne legalisierten Aufenthalt mit ihren Kindern ein Bleiberecht in Frankreich in Aussicht gestellt wurde - vorausgesetzt, die Kinder seien seit mehr als einem Jahr an einer Schule eingeschrieben. Mehr als 30.000 Familien konnten hoffen, dadurch endlich der Illegalität zu entkommen und ein normales Leben zu führen.

Die Verordnung des Ministers habe sich als geschickt angelegte Falle erwiesen, erzählt die Direktorin einer anderen Pariser Grundschule, die sich gleichfalls für das Netzwerk RESF engagiert, aber anonym bleiben will, da sie von der Polizei observiert werde. "80 Prozent der daraufhin eingereichten Schul-Bewerbungen wurden vom zuständigen Ministerium abgelehnt, größtenteils zu Unrecht. Viele Leute hatten sich damit aber praktisch offenbart und den Behörden gestellt. Sie müssen seither mit einer Ausweisung rechnen." Um so notwendiger sei der RESF, um Widerstand zu leisten. "Diese Bewegung ist in den Schulen verankert, aber zugleich eine Bürgerbewegung. Es sind nicht die Lehrer, die diese Kämpfe in die Schulen getragen haben - es sind die Eltern, die Bewohner der betroffenen Quartiers. Wir unterstützen dies selbstverständlich, doch es waren Eltern, die sich zuerst gegen die Abschiebungen von Schulkindern anderer Eltern eingesetzt haben. Warum auch nicht, wir leben im 21. Jahrhundert, wir haben Garantien von Menschen- und Kinderrechten. Die Kinder haben einen Anspruch auf Bildung, einen Anspruch, mit ihrer Familie zu leben, unter einem Dach und in Sicherheit. Es kann nicht sein, dass diese Rechte missachtet werden, nur weil es sich nicht um Franzosen handelt. Es kann nicht sein, dass sie deshalb in Kriegs- und Armutsländer abgeschoben werden", ist die Direktorin empört.

"Rafle" - Razzia oder Jagd, der Begriff wird im RESF bewusst gebraucht, erinnert er doch an die während des Zweiten Weltkrieges in Frankreich ebenfalls vor Schulen stattfindenden Festnahmen jüdischer Kinder, die danach oft innerhalb weniger Stunden in die Vernichtungslager deportiert wurden. An vielen Eingängen von Pariser Grundschulen und Lyzeen hängen Mahnschilder, um der ehemaligen Zöglinge zu gedenken, die damals von französischen Polizisten abgeholt wurden.

Razzia an der Metro-Station

"Es wird heute immer schwerer, die Verhaftungen vor Schulen zu verhindern, erzählt Leïla, eine Aktivistin des 9ème collectif des sans-papiers, das sich für eine sofortige Legalisierung aller Migranten in Frankreich einsetzt. Bis Ende 2005 führte die Pariser Polizei groß angelegte Aktionen durch, indem sie zuweilen ganze Straßen absperrte, den Verkehr stoppte und massenhaft Ausweiskontrollen vornahm. "Das ließ uns in der Regel genug Zeit, um Menschen zu mobilisieren, die sich diesen Maßnahmen widersetzten", erinnert sich Leïla. Zwischenzeitlich habe die Polizei ihre Taktik geändert. "Sie fahren mit nur wenigen Wagen an Schulen oder Cafés vor, und der Einsatz geht blitzschnell vonstatten. Oder sie bleiben plötzlich vor einer Kneipe stehen und nehmen alle fest, die in ihren Augen ›illegal‹ sind."

Die Festgenommenen werden zumeist in die Centres de Rétention (Abschiebezentren) überführt und können nach wenigen Tagen bereits ausgewiesen sein, ohne dass die Angehörigen Bescheid wissen. "Die Jagd-Methoden der Polizei sind dabei besonders zynisch", sagt Leïla. So habe man im Winter die Ausgänge eines Untergrundbahnhofs der Metro besetzt und alle herauskommenden Personen kontrolliert. Eine Station, die von vielen Ausländern frequentiert wurde, weil dort eine Suppenküche eingerichtet war. Wer dort am falschen Tag essen wollte, saß in der Falle. Leïla: "Das war genauso hinterhältig wie es die Festnahmen vor den Schulen sind, wenn die Polizei dort auf der Lauer liegt und auf Eltern wartet, die nichts anderes als ihre Kinder abholen wollen."

Namen der Eltern wurden auf Wunsch geändert / Emmanuelle Piriot ist Mitbegründerin des Journalisten-Kollektivs Krise und Kritik (www.krise-und-kritik.de) und schreibt vor allem für die Zeitung Le Monde Diplomatique.


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