Das neue Gestern

Rechtsextremismus In der Ukraine blüht der Nationalismus. Der historische Faschistenführer Stepan Bandera wird zum Nationalhelden verklärt
Ausgabe 06/2019
Zum 110. Geburtstag des vermeintlichen Helden marschierten am 1. Januar Tausende mit Fackeln durch Kiew
Zum 110. Geburtstag des vermeintlichen Helden marschierten am 1. Januar Tausende mit Fackeln durch Kiew

Foto: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images

Armee! Sprache! Glaube! Wir gehen unseren eigenen Weg! Wir sind die Ukraine.“ Der Wahlkampf hatte offiziell noch längst nicht begonnen, da tauchten diese Plakate überall in Kiew auf. Es war die Eröffnungssalve für die Kampagne des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko.

Ende März wird in der Ukraine ein neuer Staatschef gewählt, später im Jahr das künftige Parlament. Für Poroschenko sind das keine guten Nachrichten, denn in Umfragen liegt er meist hinter seiner wichtigsten Konkurrentin Julija Tymoschenko, die ihn vor allem mit sozialem Populismus unter Druck setzen kann (der Freitag 49/2018). Die ukrainische Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren langsam wieder gewachsen, aber die Probleme der Bevölkerung sind seit Jahren die gleichen: Armut, steigende Lebenshaltungskosten und die ewige Korruption. Millionen Ukrainer sind dazu gezwungen, im Ausland zu arbeiten.

Angesichts dieser Bilanz setzt der Oligarchen-Präsident auf patriotisches Getöse. Als Poroschenko nach dem militärischen Zwischenfall im Meer von Asow im November für 30 Tage das Kriegsrecht verhängen hatte lassen, verging kaum eine Woche, in der er sich nicht öffentlichkeitswirksam mit den Streitkräften zeigte. Kritiker aus Politik und Presse warfen ihm vor, er schüre aus politischen Motiven den militärischen Ausnahmezustand, um sich als Verteidiger der Ukraine zu inszenieren.

Zumindest einen Teil der Wähler scheint Poroschenko mit solch patriotisch aufgeladenen Gesten zu erreichen. Er nimmt in Kauf, durch seine Rhetorik die Gesellschaft noch mehr zu polarisieren. Auch fünf Jahre nach dem Maidan bleibt das Land in der Frage seiner Identität gespalten.

Lemberg feiert „Bandera-Jahr“

Am 1. Januar marschierten Tausende bei einem Fackelzug durch Kiew, zu dem rechtsradikale Parteien aufgerufen hatten. Es war der alljährliche Gedenkmarsch am Geburtstag des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera. Diesmal feierte auch der Staat mit: Im Dezember hatte das ukrainische Parlament den 110. Geburtstag Banderas zu einem Gedenktag erklärt.

Im westukrainischen Lemberg, dem Herzland des ukrainischen Ultranationalismus, ging man noch weiter und erklärte 2019 komplett zum „Bandera-Jahr“. In Kultur- und Bildungsveranstaltungen soll dem „Führer“ der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gedacht werden. Die OUN war der radikalste Flügel der ukrainischen Nationalbewegung, die im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Sowjetunion an der Seite der Nazis stand. Um einen unabhängigen, von Nicht-Ukrainern gesäuberten Staat zu schaffen, vertrieben und ermordeten Bandera-Anhänger zwischen 1943 und 1944 Zehntausende von polnischen Zivilisten.

Er sei „schockiert“, erklärte Israels Botschafter in der Ukraine, Joel Lion. Eigentlich hält sich die israelische Regierung mit Kritik an der Verherrlichung von Nazikollaborateuren in der Ukraine zurück. Doch jetzt fand Lion klare Worte: „Die ukrainischen Nationalhelden waren für Juden ein Grauen“, sagte er in einem Radiointerview. Sie seien „direkt an fürchterlichen antisemitischen Verbrechen beteiligt“ gewesen.

Eduard Dolinsky, Direktor des Ukrainian Jewish Committee, stimmt zu: „Für mich als Jude ist die Verherrlichung Banderas eine Leugnung des Holocausts. Es ist Antisemitismus und Ausdruck eines moralischen Verfalls.“ Dolinsky prangert seit Jahren den Geschichtsrevisionismus und den sich ausbreitenden Rechtsextremismus in der Ukraine an, was ihn immer wieder mit regierungsnahen jüdischen Organisationen in Konflikt bringt. Angegriffen wurde Botschafter Lion vom Historiker Volodymyr Vyatrovych, dem Vorsitzenden des staatlichen Nationalen Instituts für Erinnerung, seit 2014 führender Kopf der staatlichen Geschichtspolitik. Diese propagiert patriotische Geschichtsmythen, die das sowjetische Erbe verdrängen sollen. Nazi-Kollaborateure wie Bandera, die gegen die Sowjetunion kämpften, werden dabei zu Freiheitskämpfern verklärt, was international immer wieder Kritik hervorruft.

Ehrenhäftling im KZ

„Über die Beteiligung der Ukrainer an der Ermordung von Juden und die Haltung der OUN gegenüber den Juden“ müsse man diskutieren, gestand Vyatrovych auf seiner Facebook-Seitezu; aber wo bitte seien die Belege, dass Bandera wirklich Verbrechen an Juden begangen habe?

Ein typisches apologetisches Ausweichmanöver. Denn tatsächlich hielt sich Bandera nicht in der heutigen Ukraine auf, als die Nazis die Sowjetunion überfielen. Er war sogar zeitweise Ehrenhäftling in einem deutschen Konzentrationslager, nachdem die Nazis seinen Wunsch nach einem eigenen ukrainischen Staat verweigert hatten. Doch die ukrainischen Nationalisten, die 1941 gemeinsam mit der Wehrmacht einmarschierten und an der Ermordung von Juden beteiligt waren, betrachteten ihn als ihren „Führer“. Es war sein Programm, das sie verwirklichten, als sie dazu aufriefen, die Ukraine vom „Judäo-Bolschewismus“ zu befreien.

„Die OUN hat sich 1941 bei den Nazis beworben. Sie haben gesagt: Wir wollen kollaborieren, wir wollen einen Satellitenstaat wie die Ustascha in Kroatien, und dann mit euch gemeinsam auf Moskau marschieren und gegen die Juden vorgehen“, so der Historiker Tarik Cyril Amar, der über die Geschichte Lembergs nach dem Krieg geforscht hat. „Hätten die Deutschen das Angebot angenommen, dann hätte es einen hitlertreuen, faschistischen, ukrainischen Staat gegeben, mit Bandera an der Spitze.“

Der Bandera-Kult ist in Lemberg, in dessen Umland der bewaffnete Widerstand gegen die Sowjets erst in den 1950ern mit teilweise brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde, tief verwurzelt. Heute steht in der Stadtmitte wieder eine monumentale Bandera-Statue. In der Sowjetunion galt Bandera als Nazi-Kollaborateur und Faschist. Untergründig wirkte aber die volkstümliche Erinnerung an den „Führer“ fort.

Im westlichen Ausland wurde das Bandera-Bild lange von der patriotischen ukrainischen Diaspora geprägt – und von den Nationalisten selbst, die oft bei westlichen Geheimdiensten Unterschlupf fanden. Es entstand eine Lesart der OUN, die an die neuen Verhältnisse im Kalten Krieg angepasst war: bürgerlich, demokratisch, sogar offen für Juden sei sie gewesen. Ihre Verbrechen wurden geleugnet.

Erst nach der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990ern wurde das ganze Ausmaß dieser Verfälschungen offenbar. Dass die Bandera-Bewegung totalitär und antisemitisch war, gilt unter seriösen Historikern heute als unumstritten. Doch gleichzeitig kämpften Diaspora-Aktivisten und nationalistische Historiker dafür, den Bandera-Kult in der Ukraine neu zu verwurzeln. Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, musste sich die Gesellschaft neu orientieren, die Geschichtsbücher wurden neu geschrieben.

„In dieses Vakuum wurde das nationalistische Narrativ getragen, das in der Diaspora wie in einer Quarantäne gediehen war“, erklärt der Kulturwissenschaftler Roman Dubasevych von der Universität Greifswald, der aus Lemberg stammt. „Bandera kehrte nicht als Verbrecher heim, sondern als Freiheitsheld. Es ist ein Mythos, der sofort zerfällt, wenn man ihn nur berührt, aber viele glauben ihn bis heute.“

Der Maidan führte 2014 zu einer weiteren Renaissance der OUN-Glorifizierung in der Ukraine. Rechtsradikale trugen damals ihre Symbolik in die Proteste. Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wehten wieder die schwarz-roten Flaggen der OUN in Kiew. Auch der Gruß „Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden“ bürgerte sich unter Patrioten ein und ist mittlerweile in der Armee gebräuchlich. Als die OUN die Formel in den 1930er Jahren einführte, hob sie dabei den Arm zum Hitlergruß.

„Viele sagten damals, diese Symbole hätten ihre alte Bedeutung verloren. Es seien nur noch abstrakte Freiheitssymbole, die einen demokratischen Patriotismus verkörpern könnten“, sagt Tarik Amar. „Aber man kann die Vergangenheit nicht willkürlich umformen. Wer so argumentiert, der will dem Volk die Geschichte permanent als eine ‚große Lüge‘ präsentieren.“

Die Ukraine steht mit ihrem staatlichen Geschichtsrevisionismus nicht alleine da. „Viele Länder in der EU rehabilitieren Kollaborateure und Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg und leugnen ihre eigene Schuld an der Vernichtung der Juden“, steht in einem jüngst erschienenen Bericht des Holocaust Rememberance Projects. Besonders schlimm sei es in Ungarn, Litauen, Polen und Kroatien. Die Ukraine ist in einer besonderen Situation: Innerlich instabil, von außen unter Druck, das macht nationalistische Tendenzen noch gefährlicher.

International spielt der Bandera-Kult nicht nur den russischen Versuchen, die Ukraine zu delegitimieren, in die Hände, sondern trübt auch die Beziehungen zu Verbündeten. Vor einem Jahr forderten 50 US-Kongressabgeordnete ihre Regierung auf, sich gegen die „Verherrlichung von Nazi-Kollaborateuren“ in der Ukraine auszusprechen. Deutschland und die EU halten sich bisher bedeckt. Doch im Nachbarland Polen ist man für die Verehrung des Mannes, dessen Anhänger bis zu 100.000 polnische Zivilisten in der heutigen Westukraine ermordeten, sehr sensibel. „Mit Bandera wird die Ukraine nicht Teil von Europa werden“, erklärte 2017 der polnische Außenminister Witold Waszczykowski.

Der Nationalismus soll die ukrainische Identität stärken, doch er spaltet das Land und entfremdet viele Ukrainer weiter von ihrem Staat. „Das ist vielleicht das eigentliche Problem an dieser Sache“, sagt Roman Dubasevych, „dass andere Narrative, die die Ukraine verbinden könnten und den unterschiedlichen Erfahrungen, Zugehörigkeiten und Verflechtungen – auch mit Russland – gerecht werden könnten, kein Gehör mehr finden.“

Paul Simon hospitiert derzeit beim Freitag. Er hat die Ukraine mehrfach bereist

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