Klasse? Nation? Geschlecht?

Sachbuch Solidarität ist ein Konzept im ständigen Wandel – und bedrohter denn je. Heinz Bude spürt ihr nach
Ausgabe 14/2019
Budes Buch ist durchzogen von der Sorge, die exklusive Solidarität der Rechten könnte sich durchsetzen,
Budes Buch ist durchzogen von der Sorge, die exklusive Solidarität der Rechten könnte sich durchsetzen,

Foto: Manfred Segerer/Imago

Solidarität: Was das heißt, ist längst nicht mehr evident, sondern hart umkämpft. Diese Unsicherheit ist die wichtigste der Diagnosen des Soziologen Heinz Bude. In seinem Essay über die Solidarität zeichnet er in einer Reihe von zeitdiagnostischen Texten nach, was Solidarität einst hieß und heute heißen kann. Vom revolutionären Solidaritätspathos, das auffordert, sich in den Kampf für eine bessere Welt einzureihen, ist heute nicht mehr viel übrig. Was bleibt, ist meist nüchterner und pragmatischer: Solidarität ist das, was wir praktizieren, wenn wir anerkennen, dass wir nur gemeinsam leben können. Wie sich das äußert, welche Form die Solidarität annehmen kann, und wem sie gilt, ist kein bisschen festgeschrieben. Das ist die spannendste Einsicht dieses Buches.

Der Sozialstaat in Deutschland war ein Erbe des Weltkriegs, der eine „Schicksalsgemeinschaft des Wiederaufbaus“ hinterließ, die Wohlstand für alle versprach. Aber diese stabile wie auch bedrückende Wohlfahrtsgemeinschaft verlor an Bindungskraft. Nach der Wiedervereinigung pflegte die erste wirkliche Nachkriegsgeneration, von Bude als die „entspannten Deutschen“ beschrieben, oft ein entspannt post-solidarisches Lebensgefühl, dass „das Glück der Einzelnen, egal, woher sie stammen, und gleichgültig, zu welchen Gruppen sie sich zählen, zum Maßstab des Gemeinwohls“ erhob.

Neben Krieg und Nachkrieg, Volksgemeinschaft und Wiederaufbau, waren noch andere kollektivierende Erfahrungen verschwunden, etwa zunehmend die klassische Fabrikarbeit, aus der laut Marx eine neue Kollektivität keimt. Stattdessen waren die Menschen immer mehr im Büro sozialisiert, mit seinen sich als Individuen verstehenden Angestellten, und schließlich in der flexiblen, zersplitterten Ökonomie des 21. Jahrhunderts mit ihrem „Ideal der Selbstsozialisation in Eigenbetrieblichkeit“, dem sich gerade die Avantgarde der Arbeitswelt teils lustvoll, teils ängstlich unterwirft.

All das entsprach einer Zeit, in der auch die ökonomischen Grundlagen der Aufstiegsgesellschaft in die Krise gerieten. Der Sozialstaat musste jetzt auf dem Weltmarkt bestehen können, und Steigerung der Konkurrenzfähigkeit war die Devise. Der Kuchen wurde kleiner, Statuspanik überall – wo bleibt da noch „Zeit und Kraft und Raum für Solidarität?“

Rechte Verhärtung

Während viele in den dead-end-jobs des Dienstleistungsproletariats versacken, genießen die wenigen Glücklichen an der Spitze das Privileg der permanenten Neuerfindung ihrer Karrieren. Gleichzeitig durchlaufen neue, vertikale Solidaritäten die Gesellschaft: zwischen Frauen, zwischen sexuellen Minderheiten, zwischen Diskriminierten und Ausgeschlossenen. Die Möglichkeit einer inklusiven Solidarität in Anerkennung der Unterschiedlichkeit wurde als Parole ausgegeben – und von vielen gereizt als Angriff empfunden.

Verschiedene anti-solidarische Bestrebungen kamen laut Bude hinzu. Die neoliberalen Distanzierungswünsche der „Selbstversorgten“ etwa, jener Schicht, die meint, durch ihre vernünftige und erfolgreiche Lebensführung keine Solidarität mehr nötig zu haben. Dazu kommt heute noch die rechte Spielart der Verhärtung gegenüber den Bedürftigen, was Bude die Partei der „exklusiven Solidarität“ nennt.

Budes Buch ist durchzogen von der Sorge, die exklusive Solidarität der Rechten könnte sich durchsetzen, sollte es nicht gelingen, irgendwie die Vorstellung „eines größeren Wir“ zu verwirklichen, das es der ganzen Welt erlaubt, gemeinsam zu leben. Denn die Rechte hat ja nicht nur zur „Bildung eines harten, bösen und leeren politischen Blocks“ beigetragen, sondern stellt mit dem schrecklichen Schlagwort der ‚Grenzen der Solidarität’ tatsächlich eine entscheidende Frage.

Welche Solidarität wird sich durchsetzen, wenn das Elend der Anderen uns einerseits immer unmittelbarer bedrängt, und gleichzeitig aufstrebende Konkurrenten wie China den Wohlstand des bisher sorglos die Welt dominierenden Westens immer mehr unter Druck setzen? Gegen das Potential der Anti-Solidarität und Verhärtung beschwört Bude in schönen Passagen die existentielle Erfahrung der Solidarität mit Anderen. Solidarität ist ja auch etwas, wonach der Mensch sich sehnt, und das „sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht.“ Wie aber die Welt eingerichtet werden müsste, damit das Verlangen der Menschen nach einem solidarischen Leben auch Realität werden kann, und zwar über Grenzen hinweg, ist damit als Frage nicht einmal gestellt.

Info

Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee Heinz Bude Hanser 2019, 176 S., 19 €

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Geschrieben von

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