Pankaj Mishra: Lockruf des Westens

Essays Pankaj Mishra über ein gespaltenes Indien und die Dialektik von Progromstimmung und günstigem Investitionsklima

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Pankaj Mishra ist ein indischer Schriftsteller, der zwar einen Roman veröffentlichte, mittlerweile aber vor allem als Essayist und Journalist sehr erfolgreich ist. Wie viele andere Autoren aus der post-kolonialen Welt schreibt er vermutlich vor allem für ein westliches Publikum - in den USA zum Beispiel für den New Yorker und regelmäßig auch für die New York Times. Besonders sein Buch über anti-koloniale Intellektuelle, From the Ruins of Empire, aber zeigt, dass er keineswegs einem westlichen Provinzialismus verfallen ist, sondern sich mit den geistigen Traditionen eines in (teilweise feindseliger) Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne entstandenen Denkens auseinandersetzt - weshalb er auch einem homegrown Kritiker der europäischen Moderne wie Kierkegaard so viel abgewinnen kann. Bewundernswert ist auch seine Abrechnung mit dem "homo atlanticus" und vulgären Apologeten des Imperialismus, Nial Ferguson.
Auch die in diesem Band gesammelten Essays über Indien richten sich offensichtlich an ein westliches Publikum - wofür man dankbar sein darf, denn auch als ignoranter Euroäer kann man seinen anschaulichen Erläuterungen sehr gut folgen.
Angesichts seines mittlerweile enorm internationalen Lebens hatte ich bei Pankaj Mishra einen ebenso internationalen Hintergrund erwartet - vielleicht den Besuch einer britischen Universiät, vielleicht Wurzeln in der indischen Diaspora. Tatsächlich jedoch stammt er aus einer verarmten, provinziellen Brahmanenfamilie, die im Zuge der post-kolonialen Landreformen ihren gesamten Besitz verloren hatte. In seinem ersten Essay erinnert sich Mishra daran, wie er als junger Mann auf einer heruntergekommenen Provinzuniversität ohne Aussichten auf eine berufliche Zukunft vor sich hinstudierte. Während die meisten seiner Mitstudenten als einzige Chance nach dem Abschluss die Hoffnung hatten, in die Politik oder den Staatsdienst zu gelangen, verschloss er sich melancholisch sogar dieser Möglichkeit und versuchte stattdessen, sich auf eigene Faust und ohne Aussichten in der europäischen Literatur zu vergraben. Er schildert ein Bild von Indien noch vor den großen neoliberalen Modernisierungshoffnungen seit den 90ern: stagnierend, gezeichnet von brutalen, aber bereits merkwürdig ziel- und substanzlosen politischen Kämpfen zwischen Kommunisten und Nationalisten, und vor allem: weit weg vom Rest der Welt. Anders als zum Beispiel der andere große Brahmane der Weltliteratur, V. S. Naipaul, der seine ganze Existenz darauf setzte, der karibischen Provinz nach London zu entfliehen, schien Mishra keine Sehnsucht nach der Metropole gehabt zu haben. Es muss trotzdem eine freudige Entdeckung gewesen sein, dass die Welt, die dem Heranwachsenden noch als eine traurige, etwas schäbige Provinz erscheinen musste, in Wirklichkeit im Gegensatz zur abgegrasten, stagnierenden Metropole für einen Schriftsteller ein Geschenk war: Genauso wie Naipaul seine besten Bücher über die "dritte Welt" schrieb, beweisen die Essays von Mishra über Indien oder Indonesien, dass eben das, was auch immer gerade auf der Welt passiert, dieser schwer verständliche Prozess, für den man wahrscheinlich in 100 Jahren unsere Zeit in Erinnerung behalten wird, nicht im Westen, sondern in der 'Peripherie' vor sich geht, in so unfassbar dynamischen Übergangsgesellschaften wie Brasilien, Ägypten, Indien und China, in diesen chaotischen, schnell wachsenden Ländern zwischen - vorsicht, Klischee! - Tradition und Moderne.
Oder zumindest zwischen dem, was im Moment als Tradition erfunden wird und dem was gerade dessen Platz einnimmt. Wie komplex und paradox diese Beziehung sein kann, beweist nämlich das Kernstück von Mishras Gesellschaftsbild, seine Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Hindu-Nationalismus und der BJP, die vor einem Jahr erneut die Macht in Indien übernahm. Mishra steht offenbar der wirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnung sehr skeptisch gegenüber und stellt heraus, was es eigentlich bedeutet, dass eben die BJP, die Kraft, welche für ein modernes, wirtschaftsliberales high-tech Indien steht, für glitzernde Konzernzentralen und die erlösende Zukunft des Weltmarktes, und die damit vor allem im Westen und auch der wirtschaftlich erfolgreichen indischen Diaspora sehr beliebt ist - dass eben diese Kraft ihre Wurzeln in einem mythischen, faschistischen Nationalismus hat. Dieses Paradox, diese Dialektik aus Progrom und günstigem Investitionsklima, wird von niemandem verstörender verkörpert als von Narendra Modi, der kurz nach Veröffentlichung des Buches Premierminister wurde, in diesem aber noch als ein "junger, aufstrebender Führer der Hindu-Nationalisten" beschrieben wird, der als Gouverneur von Gujarat tatenlos einem Massenmord an den Muslimen seiner Provinz zusah: 2000 Tote, 100.000 (!) mussten in Lager fliehen. Das besondere an Mishras Darstellung ist sein Gespür für die enorme Komplexität der Gründe für das Erstarken religiöser Gewalt, in dem der Massenmord in Guajarat nur eine Episode war - eine Geschichte, die nur scheinbar mit den Wirren der Entkolonisierung, der Teilung des Landes und der Ermordung Ghandis durch einen Hindu-Extremisten beginnt, tatsächlich aber, wie so viele religiöse Konflikte unserer Zeit, man denke nur an Nigeria oder Palästina, in die zynischen divide-et-empera-Politik der Briten zurückreicht, deren Orientalisten das Konzept eines einheitlichen, nationalistischen Hinduismus und dessen ewiger Feindschaft mit den muslimischen Eindringlingen erst erfanden. Besonders faszinierend ist aber auch Mishras Darstellung der facettenreichen und durchaus auch sehr pragmatischen Gründe, aus denen sich Menschen diese quasi-rassistische Ideologie aneigneten - vielleicht versteht Mishra so viel davon, weil er selbst, als verarmter, aufstrebender Brahmane exakt der Bevölkerungsgruppe entstammt, welche die Basis für die BJP bildete, wie auch sein Vater und viele seiner Onkel tatsächlich Mitglieder der Bewegung gewesen sind.


Letztlich zeichnet Mishra ein sehr melancholisches Bild von Indiens Zukunft: Die säkularen, demokratischen und teilweise sozialistischen Ideale der Nach-Kolonialzeit sind gescheitert und haben längst jede Kraft verloren. An ihre Stelle jedoch ist nur ein harter Nationalismus und eine stetig wachsende Mittelschicht getreten, die unter Modernität vor allem Reichtum und westliche Lebensstandards versteht, aber selbst für die Ideologien des Hindu-Nationalismus immer weniger zu haben ist, gleichzeitig aber auch jegliche Verbindung zum gewaltigen Rest der Bevölkerung verliert, die immer mehr vom wachsenden Wohlstand Indiens ausgeschlossen ist:

„Der öffentliche Diskurs über Armut und soziale Gerechtigkeit; die offizielle Kultur der Genügsamkeit; die – wenn vielleicht auch nur rhetorische – Berufung auf Traditionen der Toleranz und des Dialogs: All das schient heute der Vergangenheit anzugehören, den frühen Jahrzehnten des Idealismus. Zehn Jahre globalisierungsfreundlicher Politik haben eine neue aggressive Mittelschicht entstehen lassen, deren Interessen inzwischen das öffentliche Leben in Indien beherrschen. Diese Schicht wächst – die aktuellen Zahlen bewegen sich zwischen hundertfünzig und zweihunder Millionen. Außerdem gibt es Millionen von reichen Indern, die im Ausland leben. In Amerika bilden sie die wohlhabendste Minderheit. Es waren diese begüterten, den höheren Kasten angehörenden Inder innerhalb und außerhalb Indiens, die den Aufstieg der Hindu-Nationalisten weitgehend finanziert haben. […] Einen Eindruck von diesem modernisierten Hinduismus konnte man 2002 [bei den Progromen] in Gujarat bekommen, als junge Hindus in Benetton-Klamotten stapelweise Digitalkameras und DVD-Spieler in ihren neuen japanischen Autos abtransportierten.“
Die tiefe gesellschaftliche Spaltung im neoliberalen Entwicklungsstaat - Wohlstand und Selbstbewusstsein für die kleine Mittelschicht, Ausschluss und Elend für die große Masse – ist das entscheidende Dilemma der indischen Modernisierung und zunehmend drückt sie sich auch in einem wachsenden kulturellen Graben aus, der sich zwischen wohlhabenden städtischen Enklaven und rückständiger Landbevölkerung auftut. Dies ist das Thema des letzten Essays des Buches, in dem Mishra die faszinierende, durch Kriminalität, Vetternwirtschaft und künstlerische Leere geprägte Welt von Bollywood beschreibt: Da gibt es Stars der Bollywood-Aristokratie, wie Salman Khan, der mit seinem Toyota Land Cruiser fünf auf einem Bordstein schlafende Mensche überfuhr und einen von ihnen tötet, ohne auch nur an Popularität zu verlieren, geschweige denn ernsthaft bestraft zu werden. Sie spielen in Filmen, welche immer mehr in einem Indien stattfinden, dass mehr nach einem kulissenhaften Amerika aussieht als einem echten Land – wenn sie nicht gleich in einem idealisierten, verkitschen New York spielen. Und gleichzeitig die langen Schlangen der hoffnungsvoll vor den Studios wartenden Menschen, die ihr altes Leben auf dem Land hinter sich gelassen haben, um als Bollywood-Star entdeckt zu werden, ohne Möglichkeiten der Rückkehr, eigentlich ohne ein Leben, das sie wegwerfen könnten:
„Ich fragte ihn, wo und wie er in den vergangenen acht Jahren in Bombay gelebt habe. Er sah etwas fahrig aus, vielleicht verwundert wegen des kargen Raums, den zu betreten er sich so lange gewünscht hatte. Er sagte, er lebe wie ein Asket, er rauche und trinke nicht und esse sehr wenig. Das bisschen Geld, das er brauche, stehle er.“
Kein Wunder, dass sich Mishra angesichts dieser Gegenwart melancholischen Erinnerungen an seine Jugend hingibt, als er noch selbst versuchte, der Zukunft zu entgehen, genauso wie die jungen Amerikaner, die auf die Dachterasse seiner Studentenpension kamen, um Opium zu rauchen: „was auch immer ihre Beweggründe waren, diese Amerikaner waren, genau wie ich, auf der Flucht vor der modernen Welt der Arbeit und ihren Leistungszwängen; sie wollten eine andere Welt kennenlernen, älter als ihre eigene, in die sie eines Tages unweigerlich wieder zurück mussten, und das machte sie mir sympathisch.“
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