Beim Thema Russland kochen verlässlich die Emotionen hoch, auch wenn die große Erregung seit der Ukrainekrise etwas abgeklungen ist. „Appeasement“, „Putin-Freund“, Russlandhasser“ – so etwas wird sich dann schnell an den Kopf geworfen.
Kaum jemand beherrscht dieses Spiel so gut wie BILD-Redakteur Julian Röpcke. So auch beim Streit um Nord Stream 2, der letzte Woche noch einmal eine dramatische Wendung nahm. Am 6. Februar meldete die Süddeutsche Zeitung, dass Frankreich doch „strategische Probleme“ bei der Pipeline sehe und deshalb im EU-Rat nicht mit Deutschland stimmen wolle. Damit schien das Projekt gefährdet – denn die Bundesregierung hatte immer auf die französische Unterstützung gebaut, um den wachsenden Widerstand in der EU zu überstimmen.
Röpcke triumphierte: „Die Putin-Pipeline isoliert Deutschland in Europa!“ Und das sei gut so, denn sie spüle nur „Geld in Putins Kriegskasse.“ Schlimmer noch: „Mit dem Gas fließt auch Putins schädlicher Einfluss nach Deutschland“, schrieb er in der BILD. „Lobby-Arbeit, Geheimnistuerei und wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse“ hätten „bereits jetzt ein Netzwerk geschaffen, dessen Loyalität sich der Kreml zunehmend sicher sein kann.“ Wenn man es da nicht mit der Angst bekommt!
Um Einfluss aus dem Ausland sorgte sich auch Jürgen Trittin – aber aus anderer Richtung. Der ehemalige Umweltminister ist einer der prominentesten Verteidiger der Pipeline, auch wenn er stets betont, dass sie überflüssig wäre, hätte man ausreichend auf erneuerbare Energien gesetzt. Aber er wehrt sich gegen die Rolle der USA. Die Trump-Regierung will die Pipeline verhindern, weil sie Europa als Absatzmarkt für teureres und dreckigeres Flüssiggas aus dem Fracking-Boom erschließen wolle. „Trump will Russland ökonomisch totrüsten“, sagte Trittin dem Tagesspiegel. Deshalb würden europäische Unternehmen, die an Nord Stream beteiligt sind, von den USA „massiv bedroht, auch durch die Androhung von Sanktionen.“
Wer die Pipeline verteidigt, dient der Kreml-Agenda – wirklich?
Gleich wurde zurückgeschossen. „Jürgen Trittin zuverlässig anti-amerikanisch. Überall Verschwörungen witternd. Traurig eigentlich“, schrieb herablassend der Welt-Autor Alan Posener auf Twitter. „Tatsache: niemand braucht Nordstream 2 außer Gazprom, Putin und Schröder.“ Kurz darauf legte er nach: „Trittin, Linkspartei und AfD: Putins nützliche Idioten.“ So schienen die Rollen klar verteilt: Wer die Pipeline verteidigt, dient der Kreml-Agenda und bedient sich dazu antiamerikanischer Ressentiments.
Was dabei unterging, waren die eigentlichen Gründe, aus denen Deutschland an der Pipeline festhielt. Denn es stimmt schlicht nicht, was Posener sagt: Nicht nur Gazprom profitiert von Nord Stream 2, sondern die ganze deutsche und europäische Industrie, die durch die Verbindung nach Russland Zugang zu reichlich billiger Energie erhält. Abgesegnet und politisch in Schutz genommen wurde die Gaspipeline deshalb auch nicht vom herbei fantasierten Triumvirat „Trittin, Linkspartei und AfD“, sondern von der deutschen Regierung, bestehend aus den Parteien SPD und CDU.
Gäbe es wirklich eine einflussreiche pro-russische fünfte Kolonne in Deutschland, man müsste sie vielleicht in der Chemieindustrie suchen. Denn das ist der Wirtschaftssektor, der in Deutschland mit Abstand am meisten Energie verbraucht – und deshalb auch für dieEnergiequelle aus Russland eintritt. So beteiligt sich etwa der Chemiekonzern BASF über seine Tochter Wintershall am Bau von Nordstream 2. „Russland ist für Wintershall die wichtigste Region! Und Russland bleibt für Wintershall die wichtigste Region!“, hatte dessen Vorstandschef vor einem Jahr noch trotzig erklärt.
Trotz aller politischen Konflikte sind die Gasimporte aus Russland so hoch wie nie. Zwar will Deutschland seine Energiequellen diversifizieren, um als Abnehmer eine bessere Position zu haben. Aber wirklich aufhören, russisches Gas zu kaufen – das fordert selbst der härteste Nord Stream-Gegner nicht. Es fordern nicht einmal die Grünen, die Nord Stream 2 ablehnen. Denn russisches Erdgas ist noch relativ umweltfreundlich, vor allem im Vergleich zum US-Fracking-Gas. Vor allem aber würde der Verzicht auf russisches Gas die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen. Und das kann selbst die BILD-Zeitung nicht wollen – „Geld in Putins Kriegskasse“ hin oder her.

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Potentiale in Russland locken vor allem die deutsche Wirtschaft
Vertreter eines harten Anti-Russlandkurses tun gerne so, als würden nur die ideologischen Ränder eine Wiederannäherung an Russland fordern, vielleicht gar aus Sympathie mit dem Illiberalismus und alter, anti-westlicher Tradition. Das mag es zwar geben, aber entscheidender scheint doch das offen erklärte, mit Nachdruck vertretene Interesse deutscher Unternehmen. 100 Milliarden Euro haben die Sanktionen der letzten fünf Jahre die deutsche und russische Wirtschaft gekostet, schätzte kürzlich der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft. In einem im Januar veröffentlichen Positionspapier forderte der Wirtschaftsverband einen „Neuanfang“ in den Beziehungen. Und rechnete eindrucksvoll vor, was für geschäftliche Potentiale in Russland locken: von der Modernisierung der russischen Industrie und Landwirtschaft, dem Ausbau des Energiegeschäfts bis hin sogar zur „Ressourcenförderung im Weltraum“ (!) – die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit scheinen unbegrenzt.
Vielleicht wird deshalb die russlandpolitische Debatte in Deutschland seit Jahren so unerbittlichgeführt: weil die Vertreter eines harten Kurses gegen Russland ständig den Druck der deutschen Wirtschaft spüren. Da darf man keine Schwäche zeigen. Die Fokussierung auf „Putins nützliche Idioten“ in Linkspartei und AfD hat angesichts der geballten Macht des deutschen Russlandgeschäftes hingegen fast den Charakter einer Übersprungshandlung. Gute Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wären derart manifest im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands, das man schon einiges an Energie aufwenden – und Panik verbreiten – muss, um einen politischen Kurs zu verteidigen, der dem im Weg steht.
Das hatte auch Angela Merkel erfahren müssen, die das Nord Stream 2-Projekt von ihrer sozialdemokratischen Vorgängerregierung geerbt hatte. Als 2015 in der Ostukraine der Krieg ausbrach und der Widerstand aus verschiedenen EU-Ländern gegen die Pipeline lauter wurde, gab es auch in der Bundesregierung geteilte Meinungen. Aber der Geschäftssinn setzte sich durch. „Die Außenpolitiker sehen Nordstream 2 skeptisch“, beschrieb die ZEIT später lakonisch die Debatte, „doch die Wirtschaftspolitiker, die das Projekt unterstützen, behalten die Oberhand.“
Und die Oberhand behalten sie bis heute. Als Frankreich letzte Woche drohte, Nord Stream 2 die Unterstützung zu entziehen, setzte die Bundesregierung alle Räder in Bewegung, um das zu verhindern. Der SPIEGEL schreibt von „heftigem Druck“, den die aufgescheuchte deutsche Regierung in letzter Minute ausübte. Mit Erfolg: Am Ende stand ein Kompromiss, der die deutschen Interessen größtenteils wahrt. Zwar unterliegt die Pipeline jetzt doch den EU-Gasrichtlinien, aber die Kontrolle darüber immer noch bei Deutschland selbst. Das macht es zwar etwas komplizierter, aber Nord Stream 2 scheint damit endgültig in trockenen Tüchern – falls sich die USA nicht doch noch zu direkten Sanktionen hinreißen lassen.
Deutschland kann in der EU nicht mehr eigenwillig handeln
Jürgen Trittin könnte also aufatmen. Denn seine Forderung, Europa dürfe sich „seine Energiepolitik nicht von den USA diktieren lassen“, scheint damit erfüllt. Dennoch ist die Bundesregierung zuletzt auf die amerikanischen Flüssiggas-Avancen eingegangen, und wird auch in Deutschland den Bau von LNG-Terminals unterstützen, wie CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier bekannt gab. Er veranstaltete am 12. Februar eine Konferenz in Berlin mit dem US-Vize-Energieminister und Vertretern der US-Flüssiggas-Wirtschaft, um die Zukunft des deutschen LNG-Imports zu beraten. Aber einen politischen „Deal“ mit den USA habe es nicht gegeben, betonte Altmaier. Vielmehr sei es einfach in deutschem Interesse, sich an den wachsenden Weltmarkt für Flüssiggas anzuschließen und damit seine Gasquellen zu diversifizieren. „Wir werden weniger Gas aus europäischer Produktion, etwa aus dem Gasfeld in Groningen haben“, erläuterte Altmaier. Und gleichzeitig werde der Gasbedarf steigen – auch vor dem Hintergrund des Kohleausstiegs.
Überhaupt war Trittins Vorwurf, es ginge bei dem Streit um Nord Stream vor allem um Druck aus den USA, zu kurz gegriffen. Der wichtigste Widerstand gegen die Pipeline kam von je her aus der EU selbst. Vor allem die baltischen Staaten, Polen und die Slowakei lehnten das Projekt vehement ab, weil sie weniger abhängig von russischen Energieimporten sein wollen. Wollte Frankreich also vielleicht einen Kompromiss erzwingen, der nicht ganz so viel böses Blut in der EU fließen lassen würde wie ein deutscher Alleingang?
Über das Motiv von Frankreichs Kehrtwende wurde viel spekuliert. War Paris kurzzeitig vor dem amerikanischen Druck eingeknickt, wie Trittin kolportierte? Oder hat Frankreich doch einfach andere Energieinteressen als Deutschland? So ist etwa einerseits die französische Firma Engie an Nord Stream 2 beteiligt, aber der größte französische Energiekonzern, Total, hat eine substantielle Beteiligung am russischen Gaskonzern Novatek – dem wichtigsten Konkurrenten des Energieriesen Gazprom, der Nord Stream beliefert. Statt auf Pipelines setzen Total und Novatek auf Flüssiggas, das sie per Schiff aus der russischen Arktis in die ganze Welt exportieren wollen.
Was auch immer Frankreich aber mit dem Gaskompromiss bezweckt haben mag, vor allem hat Macron unter Beweis gestellt, dass Deutschland in der EU nicht eigenwillig handeln kann. Angesichts der Zurückhaltung, mit der Deutschland im letzten Jahr auf die französischen Initiativen zur Vertiefung der EU reagiert hat, war das ein deutlicher Schuss vor den deutschen Bug.
Vielleicht gab es ja sogar einen direkten Tauschhandel. Ist Deutschland in einer anderen Frage auf Frankreich zugegangen, um Nord Stream zu retten? Nur zwei Tage vor der EU-Abstimmung über die Pipeline, als die Bundesregierung Medienberichten zufolge bereits von Frankreichs drohendem Nein wusste, gab Deutschland jedenfalls im EU-Rat überraschend seinen Widerstand gegen die von Frankreich propagierte kontroverse EU-Urheberrechtsrichtlinie auf. „Die deutsche Regierung verrät kleine Unternehmen, und die schlimmsten Teile der EU-Urheberrechtsrichtlinie kommen zurück – nur noch schlimmer als vorher“, kommentierte Cory Doctorow von der Bürgerrechts-NGO Electronic Frontier Foundation. Ein großes Drama wie um Nord Stream gab es um diese Entscheidung nicht, dabei hat sie für die Zukunft des Internets ernste Folgen.

Foto: Carsten Koall/Getty Images
Fader Nachgeschmack
Ob Frankreich mit seinem kleinen Aufstand gegen Nord Stream 2 die Gräben in der EU geschlossen hat, bleibt derweil zweifelhaft. Bei vielen hinterließ der deutsch-französische Deal einen faden Nachgeschmack. „Es wäre eine Chance gewesen, das Projekt zu beeinflussen und für die EU besser verdaulich zu machen“, kommentierte die Deutschlandexpertin Justyna Gotkowska vom polnischen Think Tank OSW. „Stattdessen gab es ein zynisches Interessenspiel zwischen Deutschland und Frankreich. Ich fürchte mich vor der EU nach dem Brexit. Das deutsch-französische Tandem wird die Spaltungen nur vertiefen.“
Keine Rolle bei dem Deal in Brüssel spielte die ukrainische Regierung. Sie ist am ernstesten von den Folgen des Pipelinebaus betroffen und hat Nord Stream 2 immer abgelehnt. Aber ohne mächtige Fürsprecher hat Kiew in Europa nichts zu sagen. In Europa kaum zur Kenntnis genommen, ist am vergangenen Dienstag das Minsker Abkommen, das einst Frieden in der Ukraine schaffen sollte, vier Jahre alt geworden. An seine Umsetzung glaubt heute niemand mehr.
Wenn man bedenkt, dass die ukrainische Regierung von westlicher Finanzhilfe abhängig ist, und auf der anderen Seite der Russland die separatistischen Kämpfer finanziert, was ohne die Einnahmen aus dem Energieverkauf langfristig nicht bezahlbar wäre, dann ist es tatsächlich Geld aus Europa, das auf beiden Seiten der Front die Kampfverbände aufrecht erhält. Aber an diesen Widerspruch hat sich Europa nach fast fünf Jahren Krieg längst gewöhnt.
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