Am Morgen des 5. Januar begann der Account @rahaf84427714 zu tweeten. „Ich bin die Frau, die aus Kuwait nach Thailand geflohen ist. Mein Leben steht auf dem Spiel.“
Der Account war neu und hatte keine Follower. Doch fünf Stunden lang setzte er Tweet um Tweet ab. Bald war klar: Es waren die verzweifelten Hilferufe einer jungen Frau aus Saudi Arabien, die im Flughafen von Bangkok festsaß. Die 18-jährige Rahaf Mohammed al-Qunun befand sich auf der Flucht vor der Gewalt und Unfreiheit in ihrer Familie. Ihr Ziel war Australien, wo eine Freundin wohnt, die ebenfalls aus Saudi Arabien stammt. Dort wollte Rahaf Asyl beantragen.
Doch in Thailand nahmen die Behörden ihr den Pass ab. Rahaf drohte die Rückführung nach Saudi Arabien. „Meine Familie wird mich töten“, schrieb die junge Frau verzweifelt. Der lange Arm der saudischen Behörden, da war sie sich sicher, hatte sie in Thailand erreicht. Das einzige, was ihr jetzt noch blieb, war ihr Handy.
Rahafs Tweets verhallten nicht ungehört. Menschenrechtsgruppen setzten sich für sie ein, internationale Medien berichteten über den Fall, und westliche Botschaften übten Druck aus. Doch was sie letztlich rettete, war Twitter. Ohne die App hätte die in einem Hotelzimmer im Flughafen von Bangkok isolierte Frau nie eine globale Öffentlichkeit erreicht.
Hunderttausende wurden Zeugen, wie sie die Tür ihres Zimmers mit Möbeln verbarrikadierte, als der geplante Abschiebeflug näher rückte. Eine Million Menschen hörten ihre Erklärung: „Ich verlasse mein Zimmer nicht, bevor ich nicht einen Vertreter der UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR gesehen habe. Ich will Asyl.“
Der Hasthtag #SaveRahaf verbreitete sich weltweit mit Solidaritätsbekundungen auf Arabisch und Englisch. Oft waren diese Nachrichten begleitet von Referenzen an Hashtag-Kampagnen der letzten Jahre: #endmaleguardianship oder #stopenslavingsaudiwomen, zum Beispiel, Kampagnen gegen die gesetzliche Entmündigung von saudischen Frauen, denen keine anderen Mittel als anonyme social-media-posts blieben, um gegen ihre Unterdrückung zu protestieren.
Liberalisierung von Oben
In den letzten Jahren hat es in Saudi Arabien zögerliche Fortschritte bei Frauenrechten gegeben. Konfrontiert mit wirtschaftlicher Stagnation und schmelzenden Finanzreserven, muss sich der saudische Staat modernisieren. Vor allem sollen mehr Saudis – und eben auch Frauen – einer normalen Arbeit nachgehen, statt von Ölrenten, staatlicher Wohlfahrt oder ausländischen Arbeitsmigranten versorgt zu werden. Frauen dürfen jetzt Auto fahren, eigene Gewerbe anmelden, und langsam öffnet sich für sie auch der Arbeitsmarkt.
Doch das zentralste Instrument der patriarchalen Macht wurde nicht angetastet: Als gesetzliche Vormunde kontrollieren Väter, Onkel, oder Brüder fast jede Entscheidung 'ihrer' Frauen, von der Aufnahme eines Studiums bis hin zu ihrem Aufenthaltsort. Der Staat setzt die Macht der Männer durch: Läuft eine Frau davon, oder versucht gar, das Land zu verlassen, kann sie bei der Polizei gemeldet werden.
„Ich liebe das Leben und meine Arbeit, und ich bin sehr ehrgeizig, aber meine Familie hindert mich daran, zu leben“, erklärte Rahaf Mohammed der Nachrichtenagentur Reuters. „Ich war monatelang zuhause eingesperrt. Sie drohen mir, mich zu töten und verboten mir, weiter zur Schule zu gehen.“
Besonders bedrohlich im Fall Rahaf war, dass ihr Vater ein hoher Regierungsbeamter ist. „So jemand kann seine Familie behandeln, wie er will, völlig straflos“, erklärte Phil Robertson von Human Rights Watch im Gespräch mit dem kanadischen Rundfunk CBC. Der Menschenrechtsaktivist stand mit Rahaf per Messenger im Kontakt. „Sie hat deutlich ausgedrückt, dass sie unglücklich mit dem Islam ist, dass sie keine Hijab tragen will“, erklärte er. „Ihr Leben wurde in allen Bereichen von konservativen Männern kontrolliert. Immer wieder betonte sie, dass sie getötet werden würde, sollte man sie zurück nach Saudi Arabien schicken.“
#SaveDinaAli
Rahafs Flucht ähnelt einem Fall von 2017, der tragisch endete. Die damals 24-jährige Dina Ali Lasloom wollte einer Zwangsverheiratung durch die Flucht nach Australien entgehen. Bei einem Zwischenstop in Manila wurde sie festgesetzt. Auch ihr Schicksal ist nur dank der sozialen Medien öffentlich geworden. Im Flughafen sprach sie die Kanadierin Meagan Khan an, die ihr half, Videos ins Internet zu laden. „Wenn meine Familie kommt, bringen sie mich um“, sagte sie in einem von ihnen. Doch obwohl auch der Hashtag #SaveDinaAli weltweit verbreitet wurde, kam jede Hilfe zu spät. Ihre Onkel reisten nach Manila, um sie zu holen. Human Rights Watch dokumentierte, was danach geschah: Ein Zeuge hörte Schreie aus ihrem Zimmer. Gefesselt und geknebelt wurde Dina Lasloom zum Flieger nach Riad gebracht. Was dort mit ihr geschah, ist unbekannt. Unterstützer aus dem Ausland haben den Kontakt zu ihr verloren.
„Laslooms gescheiterter Fluchtversuch war nicht vergeblich“, kommentierte damals die Historikern Moudhy Al-Rashid, die jetzt in Großbritannien lebt, auf Sisterhood, einem Onlinemagazin für muslimischstämmige Frauen. „Jedes mal, wenn eine Frau versucht, aus Saudi Arabien zu fliehen, erfährt die Welt mehr über das Vormundschaftssystem und seine Auswirkungen.“
Die internationale Aufmerksamkeit kann mächtig sein. Um die Wirtschaft zu öffnen, wirbt die saudische Regierung um ausländische Investoren und Geschäftspartner und ist damit abhängiger von der öffentlichen Meinung im Westen. Die Empörung über die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober zeigte, wie verwundbar Saudi Arabiens noch glänzende Beziehungen zum Westen zumindest sein könnten.
Wie wichtig der saudischen Regierung ihr Image ist, lässt sich schon daraus ablesen, wie viel sie in Lobby- und PR-Arbeit investiert. Auch das ist im Zuge des Khashoggi-Falles ins Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit gedrungen. PR-Firmen und ehemalige Politiker, die jahrelang die Anliegen der Golfdiktatur vertreten hatten, sahen sich auf einmal öffentlich als Handlanger eines Terrorregimes entblößt, in Deutschland etwa die einflussreiche Berliner Lobbyfirma WMP Eurocom, die ihren Vertrag mit der saudischen Regierung im November kündigte.
Vision 2030 – Das Saudi Arabien von morgen
Ein Beispiel dafür, wie subtil Saudi Arabien versucht, auf die ausländischen Öffentlichkeiten, Einfluss zu nehmen, ist der Medienkonzern Vice. Das hippe Lifestyle-Magazin hat sich in den letzten Jahren als globales journalistisches Medium neu erfunden, unter anderem mit ambitionierten Auslandsreportagen. Auch über Saudi Arabien berichtete Vice in der Vergangenheit, etwa über die schlechten Lebensbedingungen von Arbeitsmigranten auf saudischen Großbaustellen oder über die illegale Drogen- und Party-Szene in der saudischen Stadt Jeddah. Las man aber die englischsprachige Vice-Ausgabe in den letzten zwei Jahren, zeigte sich Saudi Arabien von einer anderen Seite. Die Reporter von Vice beschrieben das Königreich als ein Land, das sich „rasant modernisiert“, mit einer im Untergrund florierenden „progressiven Kreativ-Bewegung“ und Frauen, die trotz aller Hindernisse ihren Weg gehen. Saudi Arabien wurde von Vice oft dargestellt, wie es die Regierung gerne selbst tut: dynamisch, jung, modern, und auf dem Sprung ins 21. Jahrhundert.
Diese Berichte waren keine Unwahrheiten. Aber mutmaßlich waren sie auch ein Ergebnis des Medienmanagements der Golfdiktatur, die nicht nur die eigene Presse kontrolliert, sondern in der Vergangenheit oft ausländischen Journalisten nur schwer Zugang zum Königreich für Vor-Ort-Berichte gewährte. Einen als Reportage vermarkteten Film-Beitrag über saudischen Kamelsport produzierte VICE direkt für einen der saudischen Regierung nahestehenden Medienkonzern. Drei weitere Filme über Großevents in Saudi Arabien waren in Planung.
Das Regime hat zwar in den letzten Jahren vorsichtig gewisse soziale Zwänge gelockert. So darf etwa ein Teil der Jugend jetzt Entertainmentveranstaltungen wie Kinofilme oder Technoparties besuchen. Doch die politische Unterdrückung ist nur noch schlimmer geworden. Reformen dürfen nur von oben kommen.
Als im Sommer 2018 das Fahrverbot für Frauen fiel, wurden gleichzeitig zahlreiche Aktivistinnen verhaftet, die sich jahrelang unter großem persönlichem Risiko für Frauenrechte eingesetzt hatten. Regierungstreue Medien diffamierten sie als Verräterinnen, die dem Königreich schaden wollten. Laut Amnesty International werden die Frauen in Haft gefoltert.
Twitter - im Schutz der Anonymität
In diesem Klima der Einschüchterung können Twitter-Kampagnen Mut machen. Twitter ist Öffentlichkeit, und bietet gleichzeitig den Schutz der Anonymität. „Viele äußern ihre Opposition, aber sie tun das in ständiger Angst“, sagt die Studentin Dina aus Riad. „Man ist sich nie sicher, ob man verhaftet werden könnte. Ich habe schon mehrere meiner Twitter Accounts gelöscht, weil ich mich bedroht fühlte.“ Trotzdem habe das Internet in Saudi Arabien eine revolutionierende Wirkung gehabt. „Die Öffentlichkeit hat sich rasend schnell gewandelt. Menschen glaubten früher immer, mit ihren Ansichten alleine zu sein. Dank des Internets merkte man, dass viele Menschen da draußen auch mit den Verhältnissen unzufrieden sind.“
91 Prozent der saudischen Bevölkerung nutzen das Internet. In kaum einem Land im Nahen Osten sind soziale Medien derart weit verbreitet, besonders Facebook und Twitter. Die Gefahr, die darin liegt, hat auch das Regime erkannt. Im Oktober berichtete die New York Times über eine Internetpropaganda-Organisation in Riad. Hunderte Menschen sind dort beschäftigt, um dissidente Stimmen in einer Flut von regimetreuen Kommentaren und Posts untergehen zu lassen. Ob Propaganda gegen den Rivalen in Katar, Hetze gegen Schiiten oder den Iran, oder nur Jubel über Donald Trumps Staatsbesuch: Immer sind Tausende Accounts aktiv, um die regierungstreue Linie zu verbreiten.
Auch Rahaf erhielt nicht nur Unterstützung auf Twitter. Sie wurde angefeindet und beschimpft. Ein Cousin schickte ihr Morddrohungen, schrieb Rahaf. „Was geht hier vor sich? Wollen alle Muslime auf der Welt mich umbringen!?“, fragte sie in einem Tweet.
Trotzdem helfen soziale Medien vielen, die Isolation zu durchbrechen. „Vor allem jungen Menschen spüren, dass sie eben nicht in der Minderheit sind. 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 30, und viele von ihnen sind genauso unzufrieden mit dem Status quo, der ihnen das Leben zur Hölle macht, wie man selbst – das zu spüren, erlaubt einem Twitter“, erklärt die Studentin Dina. „Am meisten hat das vielleicht der LGBT-Community geholfen. Natürlich leben die immer noch in der Hölle, aber die Isolation, die sie lange spürten, hat Risse bekommen. Deshalb stört es mich, wenn Leute im Westen so blasiert über Onlineaktivismus herziehen. Für uns ist das der einzige Weg, miteinander zu kommunizieren, ohne unser Leben in Gefahr zu bringen.“
Digitale Doppelleben
Auf Dinas Twitter-Account spielt Politik eine wichtige Rolle, aber auch normale Themen junger Menschen: Sie postet Selfies, Alltagsbetrachtungen oder die absurden Witze, für die sich das Medium so gut eignet. Das Interview führen wir per Sprachnachricht über einen verschlüsselten Messenger. Öffentlich und unter ihrem wahren Namen könnte sie sich nicht äußern. „Auch im Privaten ist man gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Viele in meiner Generation sind ihren Eltern völlig entfremdet. Meine Familie ist nach den Maßstäben Saudi Arabiens sogar liberal, aber trotzdem ist es, als würden sie in einer völlig anderen Welt leben als ich“, erklärt sie. „Sie begreifen zum Beispiel nicht, dass man Freundschaften mit Menschen des anderen Geschlechts haben kann. Der Gedanke ist ihnen einfach fremd. Am besten verheimlicht man den Großteil seines Lebens. Frauen haben heimliche Beziehungen, sie trinken heimlich, haben heimlich Sex, haben heimlich männliche Freunde. Die meisten machen das so. Sicher über 50 Prozent der Bevölkerung tun Dinge, die öffentlich als unmoralisch gelten,“ glaubt sie.
Die feministische Autorin Mona Eltahawy war eine der ersten Userinnen mit viel Reichweite, die Rahaf Mohammeds Anliegen unterstützte. Aus Montreal verbreitete sie die Tweets an ihre 300.000 Follower, und übersetzte ihre Videos ins Englische. Eltahawy lebte als Teenager selbst in Saudi Arabien, eine Erfahrung, die sie „zur Feministin traumatisiert hat“, wie sie es ausdrückt. Sie wurde weltweit bekannt, als sie während des arabischen Frühlings unversöhnlich die Unterdrückung der Frauen in der arabischen Welt anprangerte, gerade weil die bei den Volksaufständen meist keine Rolle spielte. „Nicht nur die offensichtlicheren Tyranneien, die den Mittleren Osten erdrücken, müssen zerschlagen werden, sondern auch das politische und wirtschaftliche System, das die Hälfte der Menschheit wie Tiere behandelt“, schrieb sie 2012 in der Zeitschrift Foreign Policy. Die Misogynie sei „nicht nur ein saudisches Phänomen, eine Kuriosität des Hasses in der reichen, isolierten Wüste. Der islamistische Hass auf Frauen brennt grell in der ganzen Region – jetzt mehr denn je.“
Rahaf wir vorher nicht in die Region zurückkehren. Während sich die 18-jährige in ihrem Hotelzimmer verbarrikadierte, setzte sich das UN-Flüchtlingswerk UNHCR für sie ein. Am Montag Abend kam dann die Entwarnung: Rahaf sei unter Obhut der UN und werde bald in ein sicheres Drittland ausreisen können.
„Rahaf al Qunin wird eine Revolution in Saudi Arabien auslösen“, kommentierte Eltahawy im Überschwang des Triumphes auf ihrem Twitter Account. „Schaut euch an, was in den sozialen Medien gerade passiert. Es gibt so viele Accounts von jungen Saudis, die sagen: 'Rahaf, du hast uns gezeigt, dass wir es schaffen können!“
Der Account @rahaf84427714 ist mittlerweile verschwunden. Rahaf Mohamed al-Qunun habe Morddrohungen erhalten und deshalb ihren Account zeitweise deaktiviert, twitterte eine ihrer Unterstützerinnen. Kurz zuvor, am 9. Januar, schrieb Rahaf Mohammed an ihre nunmehr 130.000 Follower: “Was für ein Glück! Die ganze Welt hat von der Situation der saudischen Frauen erfahren und von der Brutalität und der Unterdrückung der Regierung. Unsere Botschaft ist angekommen... Ich habe es geschafft.” Den letzten Berichten zufolge sollen Australien und Kanada ihr Asyl angeboten haben.
Am Dienstag zirkulierte ein Video im Internet, das einen saudischen Diplomaten bei einer Besprechung mit den thailändischen Behörden zeigt. Er beugt sich zum Übersetzer und scherzt: “Ich wünschte, ihr hättet ihr statt dem Pass das Handy weggenommen.”
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