Laut spricht die Tat

Literatur Guillaume Paoli hat ein Buch über die Gelbwesten geschrieben. Sind sie eine rechte Rotte? Er weiß es besser
Ausgabe 04/2020

Dem Phänomen der Gelbwesten in Frankreich sind schnell einige Buchveröffentlichungen gefolgt, die versuchen, das plötzliche Aufflammen der Aufstände einzuordnen, zu bewerten und zu erforschen. Guillaume Paoli, gebürtiger Korse, der seit drei Jahrzehnten in Berlin lebt, hat nun auch ein Buch beigesteuert. Nach eigener Aussage hat er sich ausschließlich auf französische Quellen bezogen, die er allerdings nicht mit Fußnoten belegt, um dadurch den Textfluss nicht zu belasten. Stattdessen konstatiert er etwas pauschal, dass er sich allen Faktencheckern, die an den Nachweisen interessiert seien, zur Verfügung stellen werde. Das ist natürlich schade, denn Leserinnen und Leser würden sich möglicherweise schon gerne ein eigenes Bild von der Quellenlage machen, ein Anhang, in dem die wichtigsten Quellen aufgelistet werden, hätte es auch getan.

Es schwelt weiter

Das ist aber schon das Einzige, was den Wert des Buches schmälert. Nicht nur die genuin französische Perspektive macht dessen Lektüre lohnend, auch Paolis locker-nonchalanter Stil, gewürzt mit bisweilen bissiger Ironie. Ihm geht es nicht nur um die Gelbwesten, mit deren Aufbegehren er unzweideutig sympathisiert. Vielmehr sieht er diese Proteste – angesichts der neo-liberalen Ausrichtung der westlichen Industriegesellschaften – als quasi exemplarisch an.

Sein Vorgehen ist, trotz aller stilistischer Freiheiten, ziemlich systematisch. Er beschreibt zunächst die Aktionen der „Gilets Jaunes“ vor dem Hintergrund der sozialen Situation in Frankreich, die sich durch Macrons deregulierende Maßnahmen sukzessive verschärft hat. Hernach widmet er sich den Forderungen der Protestierenden, um in einem Exkurs den Aufstieg Macrons als typischen Angehörigen der französischen Elite zu beschreiben, gefolgt von einigen Erwägungen zur Krise des Repräsentationssystems. Der Autor schließt mit einem Ausblick auf die mögliche Zukunft der Gelbwesten-Bewegung und einem Nachwort für die deutschen Leser*innen.

Am Anfang also steht die Diagnose, dass der Wohlfahrtsstaat, der einst eingeführt wurde, um den Widerspruch zwischen Proletariat und Kapital zu entschärfen, nun Stück für Stück demontiert werde, wo die Arbeiterklasse als politischer Faktor weggefallen, die von ihr ausgehende Gefahr gebannt scheint. Diese Entwicklung, die mit dem neoliberalen Umbau der Wirtschaft einherging, ist inzwischen vielen Menschen in Europa geläufig. Sie hat soziale Verwerfungen mit sich gebracht. Viele leben in einer beständigen Prekarität. Eine kleine Veränderung, herbeigeführt durch die Politik, kann ihre Existenz massiv bedrohen. Als somit die Gelbwesten am 8. Dezember 2018 zum Marsch auf das Élysée“ bliesen, war die Regierung, Paoli zufolge, regelrecht in Panik begriffen: „Für einen Augenblick wähnte sich die französische Elite verloren. Dann bildete sie sich ein, das Strohfeuer sei gelöscht und die Normalität wiederhergestellt. Von beiden Fehleinschätzungen ist sie nun abgekommen.“

Denn zwar ist der Staat nicht gestürzt, er war einem Zusammenbruch vermutlich nicht annähernd so nah wie im Pariser Mai, aber die Gefahr, die von der sozialen Ungleichheit ausgeht, schwelt nicht nur in Frankreich weiter. Auch das Phänomen der Gelbwesten hat sich bislang noch nicht erledigt, wenngleich die Bewegung an Kraft einzubüßen scheint. Paoli analysiert, wie sinnfällig dieser Volksaufstand vonstattenging – schon in der Wahl seiner Symbole: Die gelben Warnwesten, die zum Zeichen der Rebellen wurden, dienen im Straßenverkehr der erhöhten Sichtbarkeit (im Amtsfranzösisch „gilet de haute visibilité“). Nun machen sie die zum Zeichen, die sonst keine Stimme und kein Gesicht haben, die amorphe Masse, die unter dem ökonomischen Auseinanderdriften der Gesellschaft unmittelbar leidet.

Der letzte Rest der Allmende

Den Ausschlag gab eine Erhöhung der Benzinpreise, was inzwischen auch in anderen Ländern der Welt zu Aufständen führte. Das grün-liberale Establishment habe dafür kaum Verständnis, Autos und Benzinverbrauch gelten dort ohnehin als Problem. Für Berufspendler kann eine solche Verteuerung allerdings existenzgefährdend sein. Dass die streikenden Gelbwesten sich Verkehrskreisel für ihre Proteste aussuchten, war nur folgerichtig, denn sie „spiegeln die Zersplitterung des Territoriums in monofunktionale Zonen wider: links das Gewerbegebiet, rechts der Großsupermarkt, geradeaus die Stadt, wobei wenig später der nächste Kreisel die Fahrenden je nach sozialer Zugehörigkeit zwischen Plattenbausiedlung, Einfamilienhaus-Vorstadt und City-Zentrum verteilt“. Verkehrskreisel als soziale Verteilungssysteme. Die Besetzung der Verkehrskreisel bemächtigt sich der „einzigen frei verfügbaren Commons“, der „letzten Krümel der Allmende“ im Mobilitätsnetz.

Paoli betont das Spontane, Anarchische, Ungesteuerte dieser Proteste. Den hierzulande immer wieder aufgegriffenen Mutmaßungen, die Aufstände seien rechtspopulistisch unterwandert, widerspricht er entschieden. Angebliche Wortführer aus dem rechten Kontext hätten sich die Bewegung zunutze machen wollen, die führerlose Masse der Aufbegehrenden habe dem aber stets explizit widersprochen. Verheerender für die Gelbwesten sei vor allem die Anbiederung der „Diskurslinken“ gewesen. Kollektivierungsversuche der Gelbwesten, die eigenen Anliegen weiterzutragen, seien nicht zuletzt durch deren Einfluss stagniert: „Um auf die Direktdemokratie zurückzukommen: Häufigster Grund für ihr Scheitern ist die Ermattung der meisten zugunsten einer worttrunkenen Minderheit.“ Generell zeige sich in den Gelbwesten-Protesten nicht so sehr eine Diskrepanz zwischen rechts und links als vielmehr zwischen Wort und Tat. Über die weiteren Aussichten der Gilets Jaunes äußert Paoli sich eher skeptisch, doch immerhin bliebe ihnen die Erfahrung der Rebellion, die Möglichkeit des Aufstands, etwas, das sie nie vergäßen.

Info

Soziale Gelbsucht Guillaume Paoli Matthes & Seitz 2019, 161 S., 15 €

Von Enno Stahl erschien 2019 der Roman Sanierungsgebiete im Verbrecher Verlag

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