Nachdem Gabriele Zimmer bei ihrer Wahl zur PDS-Vorsitzenden festgestellt hatte, dass man als Linke Deutschland lieben darf, wurden jetzt im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung zwei Studien verfasst, die das Verhältnis der Linken zur Nation analysieren. Die Studie von Erhard Crome setzt mit der Feststellung ein, dass als Reaktion auf die "Pathologien der sich globalisierenden Postmoderne" der Rückzug auf die Nation zu beobachten sei. Der Autor meint, man könne der Frage der Nation nachgehen, ohne das linke Ideal der Gleichheit aus den Augen zu verlieren. Die deutschen Verbrechen der beiden Weltkriege rührten von der "Unfähigkeit" her, "im 19. Jahrhundert auf demokratische Weise die Nation konstituiert zu haben". Mit der Rückbesinnung auf die Nation werde die "Westbindung" nicht in Frage gestellt, vielmehr differenziert. Obwohl "die Herauslösung Deutschlands aus der NATO durchaus denkbar" sei, bleibe die Bindung an westliche Werte bestehen. Wir stellen einen Ausschnitt der Studie zur Debatte.
Auf Potenzstörungen wären wir vorbereitet gewesen, auf Prostata, Zahnersatz, Menopause, auf ein zweites Tschernobyl", schrieb 1990 der Schriftsteller Patrick Süskind, Jahrgang 1949 und so alt wie die Bundesrepublik, zur deutschen Neu-Vereinigung, "bloß nicht auf Deutsch-land-ei-nig-Va-ter-land!".
Die Linken unter diesen Kindern der BRD dachten im Grunde nicht anders. Nation war kein Thema, höchstens das alter Männer an Biertischen oder alter Politiker in Sonntagsreden, aber nicht ihres. Sie teilten die Habermassche Intention, dass höchstens Verfassungspatriotismus angesagt war. Und wer Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung verinnerlicht hatte, der wusste, dass "Kollektiv" etwas Negatives ist, das "dem Einzelnen immer wieder" etwas "antut", dass immer wieder ein "Missverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv" besteht, das nur durch die Distinktion des Einzelnen von Vergemeinschaftung aufzulösen ist. "Kollektiv" konnotiert mit "Führer", also nicht mit Freiheit, und "Nation" mit "Rasse". Von hier aus, von der Negativ-Bewertung des Kollektivbegriffs im Westen bei anhaltend positiver Besetzung im Osten haben dann etliche deutsch-deutsche Missverständnisse - auch unter Linken - nach 1990 ihren Ausgang genommen, von der Bewertung der Kinderkrippen in der DDR bis zum Sprach-Feminismus des großen "I".
Diese Missverständnisse wiederum erleichterten es der konservativen Propaganda, das Geschäft der Total-Denunziation der DDR zu betreiben, um jedwedes Nachdenken in Deutschland über sozialistische Alternativen präventiv zu verunmöglichen.
Die Geringschätzung der Nation war ein Kernpunkt jener eigenartigen Hilflosigkeit der Linken in den Jahren 1989/1990. Allerdings muss man dazu an jene verschlungenen Konstellationen erinnern, die sich nach 1945 für die Linke in Deutschland und ihr Verhältnis zur Nation ergeben hatten.
Zunächst einmal hatte der Gebrauch oder Missbrauch des Wortes Nation in einem eng völkischen wie rassistischen Sinne durch den Nationalsozialismus anscheinend bekräftigt, dass sich dem Ganzen von links nichts Positives abgewinnen ließ. Der Versuch der KPD Thälmanns, die Nation von links zu buchstabieren, war Episode geblieben und konnte nach 1945 angesichts der Naziverbrechen und der deutschen Teilung nicht wieder aufgenommen werden.
Zum anderen war auch der Versuch der Sozialdemokraten - in Gestalt von Schumacher wie Grotewohl - gescheitert, das deutsche Interesse gegenüber den Besatzungsmächten zu vertreten. Die deutsche Spaltung war dann - unter Aufsicht der Besatzungsmächte - das gemeinsame Werk von Adenauer und Ulbricht, die sich wechselseitig die Argumente ihrer jeweiligen politischen Existenz lieferten. Drittens hatte die SED ein eigenes Konzept für eine Lösung der deutschen Frage nicht zu realisieren vermocht. Vielmehr diskreditierte die Tatsache, dass "der Sozialismus" auf deutschem Boden die stalinistische Gestalt der DDR angenommen hatte, jedwede sozialistische Alternative in Deutschland überhaupt. Nachdem die KPD bei den Bundestagswahlen 1953 den Wiedereinzug ins Parlament mit 2,2 Prozent deutlich verfehlt hatte, waren alle Versuche, parteipolitisch links von der SPD wirksam zu werden, auf Jahrzehnte zu einem Sektendasein verurteilt.
Schließlich hatten die Linken in der auslaufenden DDR - weder die aus der SED, noch die aus der Systemopposition - wie auch die Linken in der Bundesrepublik (alt) eine Vorstellung von der "deutschen Frage" - geschweige denn deren Lösung. Die jüngeren Generationen im Westen, die nach dem Kriege Geborenen, hatten sich zunehmend mit der real existierenden BRD arrangiert, genossen die Vorzüge behaglichen wirtschaftlichen Daseins und gesicherter Bürgerrechte, zogen die Westbindung nicht in Zweifel und empfanden keinen Mangel in der deutschen Teilung.
Wie kam es nun zur deutschen Neu-Vereinigung im Jahre 1990? Nimmt man die Nation als sozialhistorische Kategorie und nicht als ideologische Schimäre, dann ist auf einer hohen Abstraktionsebene zunächst klar: Wenn die deutsche Teilung Folge und Vollzug des Kalten Krieges auf deutschem Boden war, dann musste dessen Ende die "deutsche Frage" historisch wieder aufs Tapet bringen. Die Frage aber bleibt, ob dies notwendig in Gestalt der deutschen Vereinigung geschehen musste. Allein die Existenz der "Mauer" bewies, dass sich eine eigenständige Nation im Rahmen der DDR eben gerade nicht herausgebildet hatte. Gewiss, die Westdeutschen konnten ohne die DDR leben, die Ostdeutschen hingegen hatten immer hinter die Mauer sehen wollen, hatten dies im Westfernsehen auch stets getan und während der achtziger Jahre, als mehr Privatreisen in die BRD möglich waren, auch direkt tun können. Und siehe: es sah anders aus, als die Propaganda der SED immer suggeriert hatte. Hinzu kam der Zerfallsprozess des Gesellschaftssystems in den Farben der DDR.
Der zweite deutsche Staat hatte sich im Grunde immer zwischen den sowjetischen Interessen einerseits und dem deutschen Kontext andererseits befunden. Seit 1950 war er an den Wirtschaftsverbund RGW, besonders an die Sowjetunion, gebunden. Existenzielle Schwierigkeiten nach 1980 - nicht zuletzt vor dem Hintergrund des ökonomischen Niedergangs der UdSSR, der Krise in Polen, steigender Weltrohölpreise - führten nicht zum Kollaps, weil Milliardenkredite des Westens - zum Teil eingefädelt über Franz-Josef Strauß - dies verhinderten. Das heißt, die eintretende Entkräftung des sowjetischen Imperiums führte bereits unter Honecker zu einer Verstärkung der faktischen Anbindung der DDR an die Bundesrepublik. Nach 1985 hatte sich zudem der SED-Generalsekretär bemüht, Perestroika-Forderungen im eigenen Land gerade nicht zu entsprechen; so wurden vermehrt Medienmeldungen über Probleme und Unruhen in der UdSSR lanciert. Das Resultat bestand jedoch nicht in einer stärkeren Identifikation mit der real existierenden DDR, sondern zu einer Abwendung vom "Sozialismus". Allerdings gab der Verlauf der Perestroika auch kaum Anlass, ein solches Projekt, das ja in der DDR noch gar nicht begonnen hatte, zu unterstützen. Die Ausstrahlung der Vorgänge in der UdSSR auf die DDR ging so Anfang 1989 deutlich zurück. Ein wachsender - zuvor systemtragender Teil der Bevölkerung - wandte sich von der Option einer möglichen Reformierung des "Sozialismus" ab. Das Vorspiel für den Herbst 1989, als der Ruf "Wir sind das Volk!" in die Formel "Wir sind ein Volk!" überging.
Das Einfordern einer nationalen Solidarität der westdeutschen Bevölkerung qua Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde von einer Mehrheit der DDR-Bürger als Ausweg aus der eigenen, nun prekären Lage gesehen - jedenfalls ließen die Wahlen zur Volkskammer vom 18. März 1990 keine andere Interpretation zu. Der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg merkt dazu an: "Der Ausspruch: Wir sind ein Volk ist eigentlich das Anrufen nationaler Tradition, vielleicht schon Nationalismus." Zugleich betont er, dass diese ostdeutsch akzentuierte Perspektive, im Unterschied zu einer westdeutschen, eher verhaltenen, bis heute nach wie vor unverzichtbar sei, weil die "alimentierte Sonderzone Ost" zu einem Drittel vom Westen ernährt werde. Schon deshalb müsse man jeden Tag anmahnen: Wir sind ein Volk, eine Nation! Auch wenn "ein auf blutsmäßige Abstammung der Deutschen gegründetes Modell der nationalen Gemeinschaft der Deutschen ohne Zukunft" sein dürfte, wurde "nach dem Wegfall der sozialistischen Sicherheiten die ethnische Solidarität zu einer wichtigen Ressource" und konnte "neuerliche Bindungskräfte mobilisieren", schreibt der Autor an anderer Stelle. (s. Dietrich Mühlberg: Kulturelle Differenz als Voraussetzung innerer Stabilität der deutschen Gesellschaft? Berlin 2000)
So wollten die Menschen im Osten 1990 keine "neuen Experimente", sondern "das Bewährte" der BRD, wussten aber nicht, dass es ein solches Experiment - die Überstülpung eines ganzen Staats-, Rechts- und Wirtschaftssystems auf eine völlig anders geartete Gesellschaft, die ihrerseits innerlich nicht wirklich darauf vorbereitet war - noch nie gegeben hatte.
Es handelte sich demzufolge am 3. Oktober 1990, so meine These, nicht um eine "Wiedervereinigung" - dazu lag das Gemeinsame zu weit zurück, waren die inneren Verhältnisse und die generationalen Erfahrungshorizonte in beiden Staaten zu unterschiedlich. Die US-Sozialwissenschaftlerin Joyce Mushaben, die sich seit 15 Jahren mit den politischen Generationen in der westdeutschen Bundesrepublik beziehungsweise in Deutschland beschäftigt, kommt ihrerseits zu der Folgerung: die Vereinigung war eine Angelegenheit der älteren Generation, angefangen mit Willy Brandts Diktum: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", bis zu Kanzler Kohl und Premier de Maizière.
Mushaben schreibt: "Wäre die Wende etwa fünf Jahre später zustande gekommen, hätte es wohl nicht zu einer Wiederherstellung der deutschen Einheit in dieser Form kommen können. Bis dahin hätte man im Osten voraussichtlich eine andere, eher reformorientierte Machtkonstellation vorgefunden (da Honecker selbst schon erkrankt war und viele SED-Mitglieder die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr eingesehen hatten). ... Eines hat die DDR im Laufe ihrer 40-jährigen Existenz geschafft, was in der BRD nie gelungen war, nämlich die Wörter Liebe und Vaterland immer wieder in einem Satz unterzubringen, zum Beispiel in der Wendung Liebe zum sozialistischen Vaterland. Für viele Ostdeutsche ist der Begriff Vaterland positiv besetzt geblieben, auch wenn sein sozialistischer Charakter das Volk 1989 dazu veranlasst hat, andere Facetten dieses Vaterlandsbezuges zu betonen, z.B. Deutschland als einig Vaterland. Westdeutsche Angehörige der Lange-Marsch-Generation (der 68er - E.C.) hatten dagegen - nach schwerwiegenden politischen und persönlichen Auseinandersetzungen darüber, was Deutscher sein nicht heißen darf - Ende der Achtziger gerade eine Entwicklung hin zu einer unverbindlichen, postnationalen (und dennoch ausdrücklich bundesrepublikanischen) Identität vollzogen, mit der sie glaubten, gut leben zu können."
Am Ende zitiert Mushaben die grüne Politikerin Antje Vollmer, die 1991 - auch unter ausdrücklichem Verweis auf das Generationen-Problem - geschrieben hat: "Diese alten Männer haben es gut gemeint mit uns. Sie haben eine freie und demokratische Republik aufgebaut. Sie haben eine freie und kritische Presse ermöglicht. Sie haben sogar eine politische Opposition geschaffen, die sich als regierungsfähig erwiesen hat. Jetzt wollen sie uns einen letzten Gefallen tun, 45 Jahre nach dem Kriegsende wollen sie uns Deutschland zurückgeben, und nicht mal ein nationalistisches. Nein, einfach ein zivilisiertes Land." (s. Joyce Mushaben: Ost-West-Identitäten: Generationen zwischen Wende und Wandel, in: Berliner Debatte Initial, Heft 3/2001).
Max Weber hatte in seiner vielzitierten Antrittsvorlesung 1895 in Freiburg in offen imperialistischer Manier gesagt: "Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit wegen besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte."
Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt die deutsche Vereinigung von 1990 mit der von 1871, ist das Einzige, was übereinstimmt, die Kostspieligkeit. Alles andere ist anders. Das Jahr 1990 wurde nicht Ausgangspunkt für irgend etwas, schon gar nicht für eine eigene deutsche Weltmachtpolitik. Es ist Abschluss, im engeren Sinne des Wendeprozesses in der DDR, der deutschen Teilung, der Zweistaatlichkeit, des Kalten Krieges, der Nachkriegsgeschichte, im weiteren Sinne des spezifischen deutschen Nationenbildungsprozesses. Nation und parlamentarische Verfasstheit, Schutz der Menschen- und Bürgerrechte sind in eins gesetzt. Der Reichsgedanke gehört der Vergangenheit an. Mit dem veränderten Staatsbürgerschaftsrecht beginnt sich auch hier die Waage zugunsten der Staatsbürgernation zu neigen. Das Land hat klare, festgeschriebene Grenzen. War die Vereinigung von 1871 Resultat preußisch-deutscher Kriege, erfolgte die Vereinigung 1990 nach dem friedlichen Abtreten des europäischen Kommunismus von der Bühne der Weltgeschichte. Die Vereinigung erfolgte mit Zustimmung der europäischen Nachbarn und eingebettet in eine europäische Struktur, die mit der EU eine feste, dauerhafte Grundlage hat. Die politische Linke in Deutschland stand diesem Entwicklungsprozess eher skeptisch bis kritisch gegenüber, der von Teilen der ostdeutschen Bürgerschaft und der regierenden, konservativen politischen Klasse Westdeutschlands realisiert wurde.
Die neu-vereinigte deutsche Nation ist seither die unhintergehbare Grundlage jedweden politischen Handelns in Deutschland.
Dr. habil Erhard Crome arbeitet als Politik- und Sozialwissenschaftler in Berlin und Potsdam für die Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik mbH. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Politik und Gesellschaft in Osteuropa und zur Geschichte der DDR.
Der vollständige Text der Studie kann im Internet unter www.rosaluxemburgstiftung.de/Aktuell/index.htm - Titel: Die Linke und die Nation nachgelesen werden.
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