Ach, Hofgeismar!

Exemplarisch Karl Heinz Götze betreibt Heimatkunde an einem unspektakulären Ort
Ausgabe 37/2017

Als der Protagonist von Michael Kleebergs 1998 erschienenem Roman Ein Garten im Norden nach vielen Jahren in Frankreich – wie der Autor – wieder nach Deutschland zurückkehrte, kehrte er „in eine Fremde zurück, die ich mir als meine Heimat einfach nicht mehr vorstellen konnte“, sodass er sich eine Gegengeschichte zur realen auszudenken begann, die aus Deutschland eine Art zweites Frankreich machen wollte, heiter-zivilisiert statt schwerfällig und vergangenheitsverdüstert. Nun, an die zwanzig Jahre danach, schreibt Karl Heinz Götze über eine Rückkehr aus Frankreich in die deutsche Heimat. Götze, zunächst lange gestrenger Redakteur von Das Argument, dann für Jahrzehnte in Frankreich als Hochschullehrer, zuletzt an der Universität Aix-Marseille als Professor für deutsche Literatur und Zivilisation, ist ein durch höchst lesenswerte Bücher ausgewiesener Kenner Frankreichs, und Traditionslesern des Freitags ein durchaus geläufiger Name.

Am 18. September wird Götze siebzig Jahre alt. Mithin hat er sich in dieser Erkundung, was aus der Heimat wurde, während er lange weg war, selbst ein Geschenk gemacht. Doch auch uns, den Adressaten dieser Heimatkunde, hat er das. Es ist dies ein sehr persönliches Erinnerungsbuch und eine historische und aktuelle Landeskunde zugleich.

Hessisch-Sibirien

Der Ort seiner Rückkehr liegt weder im prosperierenden Süden noch im sich entleerenden Nordosten, sondern irgendwie dazwischen: die ehemalige Kreisstadt Hofgeismar, heute mit Eingemeindungen um die 14.000 Einwohner, am Reinhardswald gelegen, in Nordhessen, auch Hessisch-Sibirien genannt. Ein Landstrich, dem es nicht gut, aber auch nicht schlecht geht. Mittlerer ländlicher Raum. „Hofgeismar ist schmuck, in Hofgeismar gibt es alles, was der Mensch braucht, Pfarrer, Schlachter, Bäcker, Lehrer, Polizisten, Rechtsanwälte, Ärzte und noch einiges mehr, wenn es nottut. Überraschend ist für mich eigentlich nur etwas schwer Greifbares.“ Eine Gemächlichkeit, deren Wahrnehmung nicht aus dem Vergleich mit der Kindheit, sondern aus dem Leben in Großstädten herrührt.

Doch geht es an ebendiesem vermeintlich ruhenden Pol um die Veränderungen des Orts der Kindheit und Jugend. Anders als Didier Eribon hatte er mit seiner Herkunft nicht gebrochen, sondern ist ihr nach und nach entwachsen. So nähert sich denn Götze zunächst auf der Umgehungsstraße, dann im Gang durch die Stadt, Straße für Straße, Haus für Haus einer Kindheit proletarisch-ländlicher Herkunft, registriert zugleich die Stationen der Veränderung am Ort, die ihm – mit Vorsicht – allgemeine deutsche zu sein scheinen. Es geht zwar auch ums Verschwinden, aber mehr noch um die Konservierung all der unterschiedlichen Stufen zwischen Fachwerkumbau, Betonmoderne und Restaurierung zu Idyllenillusionen.

„Auf dem Land aber werden auch die Irrtümer erhalten.“ So wird der Gang durch den Ort zugleich einer durch die Zeitschichten. Götze erinnert sich, wie solche Erinnerungen nun einmal sind, an erste Lektüren, das Personal der Verwandtschaft, an die Spiele im Freien, Sport, Tanzstunde, ebenso wie an Lehrer, die erste, dann abgenabelte Sinnsuche beim CVJM, an das heimische Schweineschlachten (an die nordhessischen Alleinstellungsprodukte Ahle Worscht und Weckewerk), an das Klo auf halber Treppe, an Nutzgarten und Waldgang, an den Umzug von der Mietwohnung ins bescheidene Eigenheim, ans erste Auto und den ersten Fernseher.

Er tut das mit dezenter Freundlichkeit und Distanz zugleich, gibt Anekdotisches, ohne sich darin zu verlieren. Götze rekapituliert einen exemplarischen Weg der Jahrgänge, deren Bildungsaufstieg zwangsläufig zugleich ein Ausstieg aus der Heimat war, ein Weg hinaus, wie weit auch immer. Was nun den großen Reiz des Buches auch für diejenigen ausmacht, die nicht erinnerungsbegehrliche Jahrgangsnahe sind, also für gemeinhin aufgeschlossene Leser, ist die geradezu elegante Weise, mit der er die Erinnerungsdetails nicht nur immer wieder aufs Exemplarische hin prüft, sondern alles das auch ebenso unaufdringlich wie schlüssig mit Fakten, mit Daten und Zahlen untermauert. So entsteht tatsächlich eine erweiterte Heimatkunde, eine Sozial- und Erinnerungsgeschichte der alten Bundesrepublik.

Wegfahren ohne Wehmut

Eingeschlossen die erinnernden Reflexionen darüber, wie mühselig der Weg der Erinnerung von den 1950ern bis heute war, die Erinnerung an ehedem beschwiegene Nazis, Juden und Zwangsarbeiter vor allem. So wird seine eigene Erinnerungsarbeit zu einer moderaten Erfolgsgeschichte eines Landes, an deren Beginn das „Unbehagen“ des in es Hineingeborenen stand, der Hader mit der Adenauerzeit und dem „CDU-Staat“ (Schäfer/Nedelmann). 1993 hatte Götze – prophetisch – über Frankreich geschrieben: „Frankreich ist zuallererst ein zivilisiertes, traditionsgebundenes, ein zum Verrücktwerden ordentliches Land, das in die Turbulenzen immer schnellerer Modernisierung geraten ist.“ Nun sieht er ein Deutschland, das trotz AfD mit den Modernisierungskrisen besser fertig geworden zu sein scheint, eins nicht gerade des Hedonismus, aber einer weltoffeneren Gelassenheit. Und er selbst? Er wird in Aix-en-Provence wohnen bleiben: „Es ist gut, wenn man eine Heimat hat. Es ist gut, wenn man das Glück hat, sich mit ihr aussöhnen zu können. Es ist gut, wenn man ohne Wehmut wieder wegfahren kann.“ Es ist gut, ein solches Buch lesen zu können.

Info

Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war. Eine Rückkehr nach Deutschland Karl Heinz Götze S. Fischer 2017, 315 S., 22 €

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