Frank Bascombe ist wieder da. Nachdem der Sportreporter in Richard Fords gleichnamigem Roman (deutsch: 1989) in seinem darauf folgenden Werk Unabhängigkeitstag 1995 (Freitag 47/1995) zum Immobilienmakler geworden war, makelt er noch immer, aber selbständig und an der Küste von New Jersey, wo er nun auch wohnt. Der Ort Sea-Clift ist fiktiv, doch dank der Postleitzahl kann man´s sich bei Google Earth ebenso genau von oben ansehen wie seine vielen Fahrtrouten verfolgen. Unbedingt wollen alle Ocean Front, Sea Side. Entsprechend ist die Gegend mit endlosen Schachtelhäusern zugepflastert. Selbstverständlich dazwischen jede Menge Prestigeobjekte. Beruflich hat Bascombe also keine Sorgen. Seine Provisionen steigen mit den Immobilienpreisen.
Jenseits der Mitte des neuen Romans, der vom 16. bis 23. November 2000 spielt, in der Woche vor Thanksgiving, dem emotional besonders aufgeladenen Familienfest, zeigt er einem Kunden ein Haus, dessen Fundamente arg angegriffen sind. Clare, der Kunde, hatte seine Frau einer Jüngeren wegen verlassen und war zu ihr zurückkehrt, als er von ihrer multiplen Sklerose erfuhr. Nun will er unbedingt ein Haus am Meer, um es ihr noch so angenehm wie möglich zu machen. Zugleich hat er die unbestimmte Angst, dass "einer eine Bombe" wirft. "Wenn jetzt etwas passiert - eine Bombe, ja-, kann ich dann jemals mein verdammtes Haus verkaufen? Und wenn ich ein neues kaufe, was ist dann?" So reden die Leute um Bascombe herum. "Wir haben Probleme mit unserem Fundament. Nicht, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnten. Wir können weder den Wald noch die Scheißbäume sehen." - sagt Clare.
Die Lage des Landes, der Titel ist so zweideutig wie hier das "Fundament": Sowohl die Lage des Grundstücks (und damit die soziale und psychische Stabilität seines Besitzers) als auch der Zustand der Nation - zu jenem Zeitpunkt, als die Stimmen in Florida noch nicht ausgezählt waren, man also nicht wusste, ob "Dummbeutel" Bush oder "Fettarsch" Gore Präsident werden würde. Alles ist in Latenz, unsicher, in Unrast. Dabei müsste Bascombe in der "Permanenzphase des Lebens" sein, so wie er Erik H. Erikson interpretiert, "der aber insgeheim nicht davon überzeugt war". Bascombe ist inzwischen 55. Er trägt seit Kurzem strahlende Schrotkugeln in sich herum, die seinen Prostatakrebs zerstören sollen. Und seine Frau Sally ist zu ihrem wiederaufgetauchten ersten Mann zurückgekehrt.
Bascombe erlebt allerhand, nichts Spektakuläres, eher Missgeschicke - zum Beispiel als er wie fast immer in der Kantine eines Krankenhauses Mittag essen will, hat es dort gerade ein Bombenattentat gegeben und er gerät in den Fokus der Polizei. Weil er gegen Bush ist, muss er sich in einer Bar prügeln. In einer anderen bemerkt er zu spät, dass er unter Lesben ist, dafür heult er ihnen was vor und pinkelt auf ein Handy im Urinal. (Er muss oft in Bars, weil er oft pinkeln muss.) Die Scheibe seines Autos wird eingeschlagen und der Monteur hat vergessen, ihm zu sagen, wo der Schlüssel liegt. Seine Tochter Clarissa wechselt von einer tollen Freundin zu einem fiesen Mann. Seine erste Frau will plötzlich zu ihm zurück. Am Ende wird er sogar gefährlich in die Brust geschossen.
Aber das alles ist eher Missgeschick als Abenteuer. Ford schickt ihn da hindurch als befände er sich auf der Suche nach dem Gral oder auf dem Heimweg von Troja. Eine Welt voller unverhoffter Geschichten und unterschiedlichster Menschen. Sein Partner Mike Mahoney zum Beispiel ist trotz seines irischen Namens ein waschechter Tibetaner und Buddhist. Frank imaginiert, was der Buddhist über den Kunden und der über den Tibeter wohl denkt. Überhaupt sieht Frank sich und alles ständig von außen. Wie würden Archäologen einer fernen Zukunft unsere Relikte deuten? Wie stünden wir in den Augen von Außerirdischen da? Doch es ist eher Google Earth, was da von oben blickt, denn Gottes Auge. "Gott helfe uns", sagt Clare zu den unsicheren Fundamenten. "Ich glaube kaum, dass er das tun wird, Clare", sagt Frank.
Bascombe beobachtet die andern und erinnert sich, beschreibt, mutmaßt, kommentiert, ja, schwadroniert, ist durchaus belesen, vielseitig interessiert, mit lebendigem Witz und sympathischen Ansichten begabt, sozial und liberal, mit seiner Umwelt fast ebenso beschäftigt wie mit sich selbst. Faszinierend an ihm ist, dass er auf den Trost der Metaphysik und die Segnungen der Transzendenz verzichtet, einfach, weil er darauf nicht bauen kann. Stattdessen versucht er sich schlicht an Stabilisierung des Alltags und persönlicher "Permanenz", die aber ständig auf der Kippe stehen, Quell von Unruhe und eben Missgeschick sind. Doch ist er phantasievoll und illusionslos genug, um daraus nicht Ansprüche an andere ableiten zu wollen.
Am ehesten ist er Ironiker wie Richard Rortys "Ironikerin". In ihm zeigt sich Tragik, wie sie sich so säkular und liberal nur zeigen kann - Ergebnis von Kontingenz. Job, Krankheit, Politik, Familie, Nachbarn, hin und wieder die Macht des Meers spüren. Mehr wird es am Ende nicht gewesen sein, aber bis dahin bleibt stets und immer noch etwas zu tun und zu bedenken. Eben darum wohl ist man so schnell dabei und bleibt als Leser an Bascombes Seite, was immer er gerade tut und denkt.
Hinzu kommt, dass Bascombes Sprache gegenüber dem letzten Roman sarkastischer, ja, frivoler geworden ist, verstärkt noch von der (manchmal zu) frischen Übersetzung Frank Heiberts. Aber so sehr das den Leserblick fesselt: Beinahe siebenhundert Seiten sind einfach arg, arg lang. So ähnelt die Aufmerksamkeitskurve denn am Ende der Kontur von Hängebrücken. Doch gibt es Pilonen genug, um das Ganze zu tragen. Und warum sollten wir nicht ebenfalls schaffen, was die U-Bahn-Leserinnen dieser elend dicken Schwarten bewältigen, auf deren Titeln stets ein schöner Edling im Begriff ist, einer edlen Schönen in den Nacken zu beißen? Schließlich sind wir nicht minder des Trosts bedürftig.
Richard Ford: Die Lage des Landes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, Berlin, Berlin: 2007, 683 S., 24,90 EUR
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