Beim Anblick des Genagelten

AUF TRINKSTÄRKE VERDÜNNT In Frank Goosens Ruhrgebiets-Roman "liegen lernen" ist mehr von Adoleszenz als vom Ruhrgebiet die Rede

Früher, lange vor unserer Zeit, soll es einmal eine Generation gegeben haben, in der auf Familienfesten die Männer notorisch die nächste Gelegenheit ergriffen, um vom "Kriech" zu erzählen. Sehr zum Leidwesen der anwesenden Frauen und Nachkommen sollen es immer wieder dieselben Geschichten gewesen sein.

Heute ist das anders. Da gibt es solche Feste kaum noch. Und wenn die Männer etwas erzählen wollen, dann tun sie es in Büchern. Da berichten sie dann, welche Platten sie gehört haben und in welchen Filmen sie waren. Und das klingt mindestens so nostalgisch und exotisch wie Mars-la-Tour oder El Alamein. Jedoch nicht so düster. Aber man kann daran ermessen, wo sie groß geworden sind und welchen peer groups sie sich zugerechnet haben. Außerdem aber gibt es dann noch Geschichten von Weibern, vom Saufen, manchmal auch von Autos. Auch das ist netter als damals, wo, wer von Weibern erzählte, offenbarte, dass er ein Drecksack oder in der Etappe war.

Kurz, wir haben es zivilisatorisch doch recht weit gebracht. Denn statt von Agonie ist nun von Adoleszenz, statt von Geschichte endlich von Milieu und Verhaltensweisen die Rede. Und selbst die folgen nicht mehr dem Pathos von Verhaltenslehren, treiben keine Typologie, sondern kultivieren nur mehr die Zufälle und Opportunitäten der Geschmäcker. Und die sind, bekanntlich, verschieden. Zum Beispiel wenn man in den achtziger Jahren in der DDR aufgewachsen ist oder im Ruhrgebiet.

"Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester." So beginnt (und so geht weiter) zum Beispiel ein Roman aus der Zeit als der ‚Kohlenpott' noch das Freilichtmuseum der alten Bundesrepublik war. Er ist 1997 erschienen, heißt - Musik - Peggy Sue und stammt von Wolfgang Welt, Jg. 1952. Leander Haußmann hat dazu ein Vorwort geschrieben, denn er war vorübergehend am Bochumer Schauspielhaus beschäftigt, wo Welt auch heute noch Nachtwächter ist.

Ein anderer Roman beginnt so: "Im September 1998 stürzte ein Mann frühmorgens vornüber aus einer im Souterrain gelegenen Kreuzberger Kneipe in eine Pfütze brackigen Regenwassers und fühlte sich nun bereit für einen abschließenden Döner."

Wenngleich er mit einer Kreuzberger Kneipe beginnt und am Ende aus dem Berliner Osten kommt, handelt dieser Roman doch ebenfalls wesentlich in jenem gern Revier genannten Ruhrgebiet von seinerzeit. Der Roman stammt von Frank Goosen, Jahrgang 1966, heißt liegen lernen, liegt in den Buchhandlungen des Ruhrgebiets in großen Stapeln und in Kassennähe, und an ihm ist vor allem bemerkenswert, dass Thomas Brussig bei ihm die Erleuchtung gekommen ist, dass auch westdeutsche Autoren erzählen, deutsche Autoren rühren und wir gelassen auf den nächsten Nick Hornby warten können.

Das ist schön. Schön ist auch, dass Brussig das so sieht. Und von Adoleszenz, um darauf zurückzukommen, versteht der etwas! Vom Ruhrgebiet freilich weniger.

Wer also lesen will, zu welcher Literatur man im Ruhrgebiet fähig ist, der sollte Wolfgang Welt lesen oder Michael Klaus, der überhaupt zu wenig gelesen wird. Oder die ersten Romane von Ralf Rothmann. Bei Frank Goosen ist das Ruhrgebiet hingegen eher auf Trinkstärke verdünnt. Dafür ist aber, wie man früher gesagt hätte, echter Stilwille unverkennbar. Denn hier wird in höherem Auftrag geschrieben, ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Das merkt man schon an den Credits zu Beginn: Robert Gernhardt, dem der Titel sich verdankt. Die alte Rechtschreibung, in der das Buch gesetzt ist. Und Barclay James Harvest, die die Vorlage für ein wirklich schickes Cover liefern.

Darauf folgt die Geschichte von Helmut, der mit 16 ELO hasst und Bob Dylans Live at Budokan kauft. So einer kann nicht ganz verloren sein, auch wenn er sich ansonsten ziemlich opportunistisch verhält: "Ich war der drogenabstinente, heterosexuelle Nichtdemonstrierer, die große weiße Hoffnung der Familie, des ganzen Landes."

Helmut, Sohn eines Bahnbeamten, der sich nicht vorstellen kann, wie sein Vater in die dicke Mutter eindringt, gerät an Britta aus einem Bildhauerhaushalt, wo die Erwachsenen sich gern schon mal nackt zeigen und es auch am Tage treiben. Britta bringt ihm bei, dass Krieg Scheiße ist und wie man eine gepflegte Liebesbeziehung aufbaut und Keith Jarrett erträgt. Aber Britta geht erstens in die USA und zweitens hat sie auch mit Helmuts Freund Mücke rumgemacht. Aber das eröffnet ihm der erst später, in Berlin, zur Maueröffnung.

Helmut nämlich ist so eine Art Parzival. Er checkt nicht, was er da an Britta hat. Deshalb muss er nun durch eine Softversion von Polityckis Weiberroman hindurch. Zunächst Gisela, bei der er sogar seinen Stilwillen vergisst und glatt "von der Zielstrebigkeit, mit der ich mein Ziel verfolgt hatte", redet. Gisela, das ist die Zeit der Werner-Comics. Aber einmal bleibt er zu lange bei Barbara im Bett. Doch für Helmut ist ohnehin die Zeit gekommen zu studieren. Geschichte. Das ist natürlich kein Zufall. Denn so kann er später unaufdringliche Bezüge zu seinem Schreiben herstellen: "Wenn man darauf zurückblickte, konnte man das Chaos in den Griff bekommen. Und wenn man darüber schrieb, war alles ganz klar." Vorher aber muss er Gloria kennenlernen, die ihm die wesentliche Erkenntnis beschert, dass es Frauen gibt, die in Beichtstühlen oder "beim Anblick des Genagelten" besonders "scharf" werden. Roberta hingegen ist schon etwas älter, aber hilfreich für die Karriere. "Ich las nur etwas gründlicher und konnte die richtigen Bezüge herstellen." Schon geht's, was Wunder bei solcher Sprachkraft, voran auf der Lebensbahn. Um die etwas zu raffen: Er wird Assistent. Dann kommt noch Tina. Und Berlin kommt auch wieder ins Spiel. Und Britta sieht er wieder. Aber nur temporär. Und dann kommt das, was Kohl, der andere Helmut, immer als "die Gesisste" aussprach. So wird Helmut, nachdem er noch mal so richtig voll durch die Krise geschleift wird, geläutert. Er stellt fest: "Deutschland war ein merkwürdiges Land", wird von Tina abgeholt, kommt sich vor wie Isis (Bob Dylan) und schläft über der Erkenntnis, dass es natürlich ist, sich zu verändern, ein. Ende, auch für uns.

Wenn man das nun mit Michael Kumpfmüllers so viel gescholtenem Roman Hampels Fluchten vergleicht, dann erkennt man den Unterschied zwischen einem Geschichts- und einem Adoleszenzroman. In letzterem erscheint Geschichte so cool nebenher wie ein Musik- oder Filmtitel oder Hanuta-Schokolade, mithin penetrant pathetisch: Wir wissen Bescheid! In ersterem wird sie lakonisch ausgespart, so dass der Leser selber denken darf, statt nur abnicken zu können. Indes, nicht wenig spricht dafür, dass Goosen sich mit seinem Buch dem Literaturverständnis einer noch jüngeren Generation erfolgreich angenähert hat. Denn wenn Benjamin Leberts Crazy-Definition von guter Literatur gilt, daß man bei der hinter jeden Satz ein Häkchen machen könne, dann kann man liegen lernen ziemlich flott abhaken.

Frank Goosen: liegen lernen. Roman. Eichborn- Verlag, Frankfurt am Main 2001, 299 S., 39, 80 DM

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