Immer mal wieder, wenn die deutsche Gegenwartsliteratur am Pranger steht, wird der Ruf nach einer neuen Gruppe 47 laut. Und meist ebenso schnell wird Kartellbildung und Networking à la Andersch und Richter, Enzensberger, Grass und Co. abgelehnt. Nun gibt es Gelegenheit zu sehen, was die Gruppe 47 eigentlich war. Dass sie keine, wie der unsägliche Anwurf eines CDU-Mannes damals lautete, neue Reichsschrifttumskammer darstellte, geht klar – aber war sie tatsächlich einmal ‚die‘ deutsche Literatur?
So hundeäugig treu er auf Fotos dreinzublicken pflegte, Hans Werner Richter, Organisator der Betriebsausflüge der deutschen Literatur vor Klagenfurt, Herbergsvater der Unbehausten und Strippenzieher des altbundesdeutschen Literaturnetzwerks, war ebenso eitel wie seine Kollegen. Nur verdrückter und verdrängter dabei. Liest man seine gerade erschienenen Tagebucheintragungen 1966 bis 1972, tritt einem ziemlich oft und ödend sein Stolz auf die vielen Fernsehsendungen, mehr aber noch auf sein Werk, die Gruppe 47, entgegen.
Prestige und Geld
Dabei ist die Gruppe zu dem Zeitpunkt dabei, nurmehr Geschichte zu sein. Richter hatte bis dahin schon mehrere Kippmomente in deren Dynamik erlebt: schon früh in den Fünfzigern die Dominanz der „Formalisten“, die „von den Universitäten kamen“ über die meist autodidaktischen „Realisten“, dazu die Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in der Kritik – 1958 waren geschätzte acht von zehn Anwesenden „Manager“, Rezensenten und Verlagsleute. Unter deren Dominanz verschwand die ursprüngliche Kritik der Autoren untereinander nahezu vollständig. Die Zeit des Herumprobierens, hatte Joachim Kaiser damals geschrieben, sei vorbei. Nun ging es um Prestige und Geld. Der sichtbare Bruch mit allem, was Richter bis dahin durchzuhalten versuchte, kam 1966 in Princeton. Nicht nur weil Peter Handke dort seinen spektakulären Auftritt hatte, sondern weil andere sich politisch manifestierten, Hans Magnus Enzensberger in avantgardistischer Exaltiertheit zur „Revolution“ überlief. Ihm warf Richter vor, was man ihm selbst angehängt hatte: Cliquenbildung, dazu „unerträglichen Hochmut“. Sein Tagebuch ist hier voller Invektiven. Reich-Ranicki ein „Schwätzer“, Jens ein „Feigling“, Walser ein „gefährdeter Psychopath“, der bei Schreibkrisen politisch werde, Böll ein „Mitläufer der Gewalttätigen“, der „gegen die Geldwirtschaft“ sei, aber das Geld liebe und sich in Rußland feiern lasse, Enzensberger ein „internationaler Abenteurer und literarischer Playboy“, „Harlekin am Hof der Schein-Revolutionäre“ und so fort.
Hier kam Zweierlei zusammen: einmal die Sorge des Ex-Kommunisten, die Linke werde sich wieder, wie in der Weimarer Republik, zersplittern und verfeinden, aber eben auch die Enttäuschung darüber, dass ihm nun auch dieses Werk, die Gruppe, entglitt. Richter konnte nicht verwinden, dass sein eigenes literarisches Schaffen schon längst nicht mehr wahrgenommen wurde.
Das war einmal anders gewesen. 1952 zum Beispiel hatte er den von internationalen Verlegern gestifteten René-Schickele-Preis für seinen zweiten Roman Sie fielen aus Gottes Hand erhalten. Vergeben von einer renommierten Jury, zu der Thomas Mann und Hermann Kesten gehörten. Allerdings hatte Richter damals den umtriebigen Kesten noch sehr umworben; bald darauf wurde der dann zum blindwütigen Verfolger der Gruppe.
Streit gab es ohnehin ständig und weit über die vorgesehene, offene Kritik hinaus. Richter war zweifellos landserhaft hemdsärmelig, Paul Celans pathetischen Singsang jedoch mit Goebbels zu vergleichen, war entschieden mehr als nur das. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger macht in seiner bei der DVA veröffentlichten Geschichte der Gruppe plausibel, dass das gleichwohl kein Antisemitismus, sondern ästhetische Beschränktheit Richters in Sachen moderner Lyrik war. Richter selbst hat den Ausfall bedauert. Das hielt ihn nicht ab, Vigoleis Thelen abzukanzeln, man brauche „dieses Emigrantendeutsch“ nicht. Wahrscheinlich hat sich Richter unter der Anfangsbesetzung in den Jahren unmittelbar seit 1947 am wohlsten gefühlt – mit Leuten, die durchaus zweifelhafte Nazikarrieren aufzuweisen hatten, aber für Ernährung, Honorare und Preisgeld sorgten.
Helmut Böttiger erzählt die Geschichte der Gruppe noch einmal, aber sein Buch ist mehr als nur eins unter den zahlreich vorhandenen. Es basiert auf einem breiten, zum Teil noch nicht herangezogenen Materialfundus, es ist sehr gut geschrieben und strukturiert, erweitert sich zudem zu einer ganz eigenen, plastischen Literaturgeschichte der alten Bundesrepublik. Er gibt kleine Panoramen des jeweiligen Betriebsstands, liefert biografische Miniaturen der Protagonisten Aichinger, Andersch, Bachmann, Celan, Eich, Höllerer und so fort. Auch wenn die hin und wieder beiseite mäandrieren, sind sie doch stets informativ. Um ein klares Urteil ist der profilierte Kritiker ohnehin nicht verlegen.
Adenauerzeit
Worauf man gerne verzichtet hätte, sind unnötige Nickeleien gegen andere, die nicht seiner Meinung sind, vor allem das nun wirklich abgelutschte Mantra von der muffigen, miefigen, stickigen, spießigen, restaurativen und reaktionären Adenauerzeit, in der die Gruppe das kleine gallische Dorf gewesen ist. Dabei liefert Böttiger selbst Gegenbeweise. Zu welcher Zeit hätte es davor und danach eine so lebhafte, mit harten Bandagen kämpfende Kritik gegeben, nicht nur innerhalb der Gruppe, sondern auch im Betrieb drum herum? Ja, es gab das christsäuselnde Existenzial-Gewäsch, es gab die reaktionärsten und hinterhältigsten Stimmen, aber man konnte dagegen die seine ohne Blatt vor dem Mund erheben. Wenn Böttiger am Ende seines beeindruckenden Durchgangs angesichts der heutigen Eventisierung des Betriebs nostalgisch zurückblickt, so hat er in dem Punkt recht: Angesichts der Bataillen, die sich die Autoren damals untereinander lieferten – bei gleichzeitiger Betriebsnudelei –, wirkt die heutige Situation wie der Pace-Kindergarten auf Friedwald-Ausflug. Aber was wäre besser, wenn es anders wäre?
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