Absolvieren wir die obligatorischen Zahlen: Den ersten Roman schrieb er pseudonym 1921. Da war Simenon 18 Jahre alt. 1929, als der erste Maigret (Pietr der Lette) unter Simenons Namen herauskam, hatte er bereits an die 200 unter ca. 20 Pseudonymen herausgeschleudert. An die 400 Romane, Erzählungen, Reportagen, autobiografische Bücher wurden es, eine halbe Milliarde mal weltweit verkauft, mindestens 50 Filme, Hunderte TV-Episoden. Die zehntausend Frauen nicht zu vergessen, mit denen er nebenbei geschlafen haben will. Einen „Balzac des 20. Jahrhunderts“, auch „Goethe der schweigenden Mehrheit“ hat man ihn tituliert. Werke, die eine große Wirkung getan, hat Goethe gesagt, könne man nicht mehr kritisieren. Aber lesen. Das Eigentümliche dieser großen Wirkung aber ist von Fall zu Fall das Vergessen.
Gottfried Benn hat Kriminalromane Radiergummis für die Seele genannt. André Gide, der jährlich seine „Simenon-Kur“ praktizierte, indem er ältere Simenons im Pack wieder las, beschwerte sich beim Autor, dass der ihm Das Testament Donadieu vorenthalten habe. Dabei hatte Gide Jahre zuvor brieflich den Roman besonders gerühmt. Ihm ging es nicht anders als dem Autor selbst: Er vergesse seine Romane, sobald sie geschrieben seien. Zurück bleibe nur ihre Atmosphäre. Federico Fellini bekannte, ihm bleibe von der Lektüre stets nur „ein unverwechselbares, sehnsüchtiges Gefühl“. Radierspuren im wohltuenden Vergessen. Es ist wohl die Wirkung eines Verfahrens, das bei weiten Wechseln des Milieus, großer Bandbreite des Personals und der Konfliktkonstellationen auf ein Muster hinauslief: Das saugende, sehnsüchtige Gefühl, von dem Fellini sprach, ist ein elementar religiöses, erscheint gewissermaßen als Epiphanie, Kommunion und Beichte in eins. Verschmolzen, wie der Alltag und die Träume, die aus ihm herausführen sollen.
Dösen in Zerstreutheit
Wir könnten die bekanntesten, die Klassiker nehmen, wie Maigrets Memoiren oder Maigret zögert; nehmen wir lieber den unbekannteren, seinen 45. Fall von 1954, Maigret und die junge Tote. Nachts wird eine junge Frau tot auf der Straße gefunden. Erschlagen. Jungfrau, in einem, wie sich herausstellt, geliehenen Kleid. Maigret rekonstruiert ihr Leben. Es ist wie mit „Fotoplatten, die man in Entwicklerflüssigkeit taucht. (…) Nun hatte sie einen Namen, und ein Bild begann sich abzuzeichnen, zunächst noch schemenhaft.“ Und im Verlauf des Romans naturgemäß immer deutlicher, komplexer. Weniger ihr Leben als das Drumherum. Er löst den Fall, weil er weiß, was man „in keinem Polizeikurs lernt“, nämlich „wie man sich in die Haut eines Mädchens versetzt“. Ein unscheinbares Wesen zwar, aber eins, das ein fantastisches Leben hätte haben können, wenn – hier hängt das schicksalhafte „hätte“ nicht an einer Fahrrad- sondern Handtaschenkette.
Auch wenn Schauplätze wechseln und Maigret es mit allen Schichten der Gesellschaft zu tun hat, löst er Fälle stets in überschaubarem Rahmen, in Provinzstädten oder in relativ geschlossenen Milieus von Paris. Die Maigrets sind keine klassischen Mordrätsel-Kriminalromane wie die von der Insel. Simenon, hat Brecht bemerkt, „verdichtet seine Atmosphäre, bis sie den physikalischen Charakter völlig verliert, die Charaktere werden zu Naturerscheinungen“. Der „Detektiv ahnt statt zu denken“. Brecht nennt sie „aristotelische“ Krimis. Maigret geht intuitiv hermeneutisch vor.
In Maigrets erste Untersuchung (1949) nannte er das den Beruf eines „Schicksalsflickers“, der „sich in das Leben aller Menschen, in die Haut aller Menschen versetzen konnte“, eine Fähigkeit, die Menschen „von innen zu sehen“. So lösen sich die Fälle oft durch einen Zustand trancehaft autosuggestiver Bewusstheit, der zum Beispiel in Fieber- oder Tagträumen erreicht wird, ersatzweise auch alkoholisiert oder in Zerstreutheit dösend.
Und die Verbrechen? Direkt oder auf Umwegen streben die Täter danach, erkannt und erlöst zu werden. „Denn er wollte, dass sich das Schicksal um ihn kümmert; er hatte alles getan, um es dazu zu nötigen, und von früh bis spät fuhr er damit fort, es herauszufordern“ – heißt es in Der Schnee war schmutzig (1948). Darum geht es, um die Tat, das Böse, das eine Erlösung ist – aus der Banalität, der Unscheinbarkeit, der Langeweile oder dem Überdruss. Jähe, schmerzliche Wahrnehmung der Fragwürdigkeit des bisherigen Lebens, Eingeständnisse von Einsamkeit, Leere und Fremdheit, kulminierend in Akten des Ausbruchs – dies alles wird immer wieder durchgespielt, in wechselnden Konstellationen, veränderten Generations- und Geschlechterbeziehungen. Ausgehend von einer allgemeinen Erfahrung der Massenhaftigkeit, Austauschbarkeit und Monotonie, stellt Simenon die Einsamkeit, Verlorenheit und Fremdheit des Einzelnen in der Masse dar, um dann aus dem Unscheinbaren, vermeintlich Normalen jäh psychisch inszenierte Katastrophen hervorbrechen zu lassen, die für den Augenblick ihrer Dauer, das Schicksal des Einzelnen unverwechselbar machen – und im weiteren Verlauf allgemeingültig.
Schicksalsstudien
Nach und nach wollen der Kampa Verlag und Hoffmann & Campe alle Bücher Georges Simenons in überarbeiteten oder neuen Übersetzungen herausbringen. Auch die „Non-Maigrets“, die Bücher also, die Simenon als „richtige“ Romane betrachtete, die aber zu seinem Leidwesen auch unter Krimis rubriziert wurden, auch wenn es sich bei ihnen eher um Schicksalsstudien handelt. Hier besprochen werden:
Maigret und die junge Tote Rainer Moritz (Übers.), Kampa 2018,210 S., 14,90 €
Maigrets Memoiren Hansjürgen Wille/Barbara Klau (Übers.),Kampa 2018, 192 S., 14,90 €
Maigret zögert Hansjürgen Wille/Barbara Klau (Übers.), Kampa 2018, 224 S., 14,90 €
Das Haus am Kanal Ursula Vogel (Übers.), Karl-Heinz Ott (Nachwort), Hoffmann & Campe 2018,200 S., 19,90 €
Die Schwarze von Panama Ursula Vogel (Übers.), Michael Kleeberg (Nachwort) Hoffmann & Campe 2018, 200 S., 19,90 €
Der Schnee war schmutzig Kristian Wachinger (Übers.), Daniel Kehlmann (Nachwort) Kampa 2018, 320 S., 22,90 €
Das, was landläufig oft als „sinnlos“ bezeichnet wird, verleiht der Banalität des Alltagslebens temporären Sinn: Betrug, Treuebruch, Verrat und Verlassen, Mord sind Anlass, einem bis dato unbemerkten, unscheinbaren Leben – des Täters wie des Opfers –nachzufragen und rekonstruierend Sinn und Bedeutung zu verleihen. „Die Welt änderte sich, Paris änderte sich, alles änderte sich“ (Maigret und der faule Dieb, 1961) – so rekurrieren die Romane auf unsere Wahrnehmung einer sich unablässig ändernden Welt, in denen Maigret wiederum die „gute alte Bürgermoral“ vertritt (Maigret und der Weinhändler, 1969). Im Grunde aber ändert sich nichts: „Der Mensch ändert sich nicht.“
Im Puff der Mutter
Nehmen wir Der Schnee war schmutzig. Das scheint in einer anonymen Stadt im Nachkriegsdeutschland unter französischer Besatzung zu handeln, doch erinnern die Atmosphäre, düster und bedrückend, und das Milieu eher an Frankreich unter der Nazi-Besatzung. Frank, seelisch verwahrlost, hängt im Puff seiner Mutter herum, wo er sich gelegentlich der Mädchen bedient. Er mordet vermeintlich ziellos, letztlich, um selbst zu sterben, wiewohl alle ihm zugetan sind. In seiner Selbstfremdheit gehen die sexuellen Verwirrungen der Adoleszenz mit den gesellschaftlichen Wirren eine brisante Mischung ein. Er zeigt im Kino der jungen Sissy, mit „Kükenhaut“ und „Kükenbeinchen“, den Revolver, für dessen Besitz er mordete, befummelt sie, und als er ihre Jungfernschaft feststellt, wird ihm klar, „dass es ihm nicht um sie ging, sondern um ihren Vater“, den stolz verarmten Bürger. Er wird Sissy seinem Verbrecher-Vorbild Kromer anbieten. Kromer gibt ihm beim ersten Einbruch einen Flachmann. Frank gibt ihn unangebrochen zurück, „wobei er ihm tief in die Augen blickt. Hat Kromer verstanden? Dann besucht er Minna in ihrem Bett und schläft so heftig mit ihr, dass ihr angst und bange wird. Sie hat auch verstanden. Alle haben sie verstanden!“ Verständnis, ja, Erlösung, findet er erst, als Sissy und ihr Vater ihn in der Todeszelle besuchen. Daniel Kehlmann charakterisiert die simenonschen Romanfiguren als „träge Seelen“. Der angstlustvolle Weg in die Selbstaufgabe bestimmt auch den, so Michael Kleeberg, „Kolonialroman“ von 1935, Die Schwarze von Panama, in dem ein junges Paar unversehens in den Tropen strandet. Während sie sich aus dem Sumpf zu ziehen versteht, nimmt er sich eine minderjährige Schwarze zur Geliebten, versackt, verlottert, versumpft. Und das tut er nicht in Verzweiflung, sondern fatalistischer Hingabe. Im 1933 erschienenen Das Haus am Kanal geht es zwar nach Flandern, aber nicht minder morastig und sumpfig zu. Die junge Edmée verschlägt es als Waise von Brüssel ins Haus von Verwandten, wo sie fremd bleibt, aber in erwachender Weiblichkeit ihre Cousins in von Simenon faszinierend erzeugter Mischung aus Aufreizung und Abwehr zum Mord treibt, selbst in einer Lust am Untergang.
Hier müsste man wenigstens ein paar Worte zu Simenons seltsamem Frauenbild sagen. Vielleicht so viel: In Die Großmutter (1978) sagt diese: „Eine Frau ist nie ein vollständiges Wesen. (…) Sie ist immer nur Teil von etwas, das es vielleicht gar nicht gibt.“ Man könnte ein Modell erkennen, das Kommissar und Klientel, Autor und Figuren, Leser und Autor aneinander fesselt. Sie wären dann Hälften des platonschen Kugelwesens, die einander suchen und brauchen. Durch Liebe lässt Platon die Getrennten zueinanderstreben. Hier wäre es, glauben wir dem Autor, ihr Surrogat, die Sucht. Denn, so hatte er in einem Interview bekannt: „Und wissen Sie, was Sucht ist? Sie ist die Karikatur der Liebe.“
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