Richard Fords Protagonisten Dell Parsons verschlägt es nach Kanada, in die Wild- und Ödnis der Provinz Saskatchewan
Foto: Andrew Filer
Wer sich je auf Richard Fords Romane eingelassen hat, auf die geduldigen Vergrößerungen bis hin zu den Härchen in den Poren des Alltags, dennoch verbunden mit der Stimmung des Ganzen, darauf etwa, wie Frank Bascombes banaler Harndrang sich mit der Bedrängnis des Landes verbindet, der will nicht gern davon lassen, auch wenn er immer wieder lange auf die nächste Gelegenheit warten muss.
Jetzt ist der neue Ford da, nicht über Frank Bascombe, ehedem Sportreporter, nun Häusermakler, sondern über Dell Parsons und dessen Familie. Das beginnt so: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.“ Ein starker Anfang, wie in einem Jugendbuch. Dell erzählt v
#228;hlt vom Sommer und Winter 1960. Da sind er und seine Zwillingsschwester 15 Jahre alt, aber er erzählt als reifer Mann, der dem Unglück, das durch den Bankraub seiner Eltern über die beiden kam, doch noch entkam. Der Plan der Eltern hatte „die menschliche Gewohnheit, die meisten Dinge uninteressant zu finden, solange man selbst nichts damit zu tun hatte“, nutzen wollen, setzte mithin auf die eigene Unscheinbarkeit und die Unaufmerksamkeit der anderen. „Meine Eltern begriffen einfach nicht, wie das Leben in kleinen Präriestädten funktioniert, wo keinem das Geringste entgeht.“Unter Menschen, „denen sie nicht zugetraut hatten, Dinge zu bemerken oder mit anderen Dingen zusammenzubringen, die sie sich unbewusst überraschenderweise eben doch eingeprägt hatten“. Diesen Fehler begeht Dell beim Erzählen nicht. So lesen wir, wie Dell nach der Inhaftierung der Eltern seine Schwester aus den Augen verliert, selbst zu einem Dickens’schen Waisenknaben in der Obhut anderer wird. Aber dieser Angelpunkt ist schließlich nur einer, der den unendlich vielen Dingen und Alltagshandlungen, die wahrgenommen und bedacht werden wollen, neue, ebenso unzählige hinzufügt. Hundert Seiten allein für den Weg der Eltern bis zum Wendepunkt, durch des Vaters militärische und kleinkriminelle Karriere, durch der Mutter enttäuschte poetische Ambitionen und den der Kinder durch zahllose Schulen. Vor allem ein Weg durch die amerikanische Provinz. Alles in einer Intensität, die geradezu fiebern macht. Ford versteht es wie kaum ein anderer, den Alltag bedrohlich, das Exorbitante alltäglich erscheinen zu lassen. Zudem gerät man in einen Sog, der einem die Dinge, mit denen man eigentlich nichts zu tun hat, förmlich auf den Leib rücken lässt – durch die Mischung aus erzählter Halbahnung des Jungen und erzählerischer Gelassenheit des Alten. Es ist fast so, als wäre man noch einmal Kind und läse Oliver Twist. Dell, dessen Wunsch es war, ein Leben lang in die Schule gehen zu dürfen, wird aus allem herausgerissen. Ihn verschlägt es nach Kanada, nach Saskatchewan, in eine Wild- und Ödnis. Keine Schule mehr, dafür lernt er Gänsegruben auszuheben, Lockvögel zu installieren, Gänse auszuwaiden, „Spezialwissen“, das ihn zufrieden macht, weil keine anderen Jungen da sind, mit denen er es teilen muss.Meisterloser Zen-Schüler und Beinahe-HiobDoch gerät er dabei in ein anderes Familiengeheimnis, ein noch fataleres als das der Eltern. Beteiligt sind Charley, das etwas monströse ‚Halbblut‘, Florence, die eigenwillige Malerin, und Arthur Remlinger, der faszinierende Exzentriker. Remlinger, der Dell als seinen Sohn ausgibt, wird schließlich zwei Morde begehen, um einen aus jugendlichem Terrorismus zu vertuschen. Und er wird Dell da hineinziehen. Doch der wird, erfahren wir zum Schluss, davonkommen, in Kanada bleiben und tatsächlich lebenslänglich zur Schule gehen, nämlich Lehrer werden, der das alles dann als verheirateter, kinderloser Pensionär erzählt.Es ist die Geschichte eines Beinahe-Hiobs oder meisterlosen Schülers des Zen, dessen pursuit of happiness auf Weltvertrauen ruhte und das Ziel in aufgeschlossener Stoik fand. Durchaus ein american way, ein Wunschweg.Und der Weg Amerikas? Dessen Wunschweg ist Kanada, das ähnliche, doch andere, ein bisschen bessere Amerika. Noch. Denn: „ABTREIBUNG IST MORD. DIE EHE EIN SAKRAMENT. KEINE STEUERN. In Kanada griff das auch um sich – und es kam von der Regierung: der nervöse amerikanische Drang nach etwas anderem. Die unvermeidliche Nordwärtsdrift von allem.“ Wir können hinzufügen: Nicht nur dorthin. Über alledem aber, über dem Glück individuellen Entronnenseins und den Sorgen grassierender Bigotterie, ist das hier ein Wunschweg der Literatur, ein Exemplum dessen, was Literatur besser als alle die anderen Illusionen kann, die religiösen zumal: „Mein zentrales Bild“, räsoniert der gealterte Literaturlehrer Dell, „ist immer ‚eine Grenze überschreiten‘, Anpassung, eine Lebensweise, die nicht funktioniert, in eine überführen, die es tut. Es kann auch darum gehen, eine andere Form der Grenze zu überschreiten und nicht mehr zurückkehren zu können.“ Literatur stellt das dar, macht es erlebbar und vermeidbar zugleich. Auch darin ist Kanada ein großartiger Roman, ein tief humanes Trost- und packend menschliches Abenteuerbuch zugleich.
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