Das Inferno als Referenzsystem der Gegenwart

Literatur Prof. Erhard Schütz lässt sich von Analysen zum NS-Film, der Modeindustrie und von 700 Jahren Dante-Rezeption inspirieren
Ausgabe 35/2021
Am Bogensee bei Berlin hatte Goebbels einen Landsitz
Am Bogensee bei Berlin hatte Goebbels einen Landsitz

Foto: Jürgen Ritter/Imago

Angesichts der nicht eben wenigen und zudem meist gewichtigen Darstellungen zum NS-Film ist es mutig, ein schmales Bändchen zum Thema vorzulegen. Wolfgang Jacobsen gelingt das bravourös mit anekdotischen, exemplarischen Analysen einzelner Filme, Genres oder Themen, etwa zu den politischen, ökonomischen und technischen Voraussetzungen. Das alles ist prägnant auf den Punkt gebracht und mit feinen Sentenzen kommentiert.

Jacobsen zeigt die Affinität des NS-Films zum Melodram auf – wobei seine Ehrenrettung für Helmut Käutner diskutabel wäre – ebenso wie den Hang zur Musik als emotionales Überwältigungsdirigat oder die Verwendung von Historie als Präskript der Gegenwart. Er vergisst dabei die Entwicklung der Wochenschauen ebenso wenig wie die Führer- und Geniefilme oder die antisemitischen Stimmungsmacher, wobei ihm sowohl überzeugende Analysen von unbekannteren Filmen gelingen als auch tiefgründige Beobachtungen, wie beispielsweise die zur erzieherischen Baummetaphorik. Einzig dem Bergfexen Luis Trenker wird ein c zu viel attestiert, was ihn nahe an Trenck, den Husaren, rückt. Ansonsten ist dies jedenfalls ein wahres Husarenstück und keine Albers’sche Münchauseniade!

Am Bogensee bei Berlin hatte Goebbels einen Landsitz, der wurde, erweitert um zuckerbäckrige Unterkünfte von Stararchitekt Henselmann, zur Jugendhochschule der FDJ, ein Schulungszentrum für internationale Revolutionäre. Zwischen 1961 und 1989 waren das immerhin 3.500. Der profilierte Jugendhistoriker Detlef Siegfried war 1983/84 einer von ihnen. Er ist nun diesem Kapitel der Weltrevolution gründlich nachgegangen, reflektiert auf der Basis ausgiebiger Recherchen die eigenen Erfahrungen und hat zahlreiche andere Teilnehmer befragt, vorwiegend aus Dänemark, da er in Kopenhagen lehrt. Siegfried zeigt die delikaten Spannungen auf zwischen „internationaler Freundschaft“ und nicht gern gesehenen Freund- oder gar Liebschaften, zwischen doktrinär formativem Schulungsanspruch und notgedrungener Flexibilität gegenüber nationalen Eigen- und Besonderheiten – zumal angesichts der ideologischen und pragmatischen Aufsplitterungen des „Weltkommunismus“.

Es stellt sich dabei unter anderem heraus, dass gerade die Internationalität für die je Einzelnen ein großer Reiz, aber auch ein Hemmnis für systematischere Wirkungen war. Die Teilnehmenden machten wenig Erfahrung mit dem Realsozialismus, dafür umso mehr immanente Pluralisierungserfahrungen der sozialistisch-kommunistischen Jugend – als Teil der Counterculture. Was blieb? Unisono für die befragten Einzelnen aus Skandinavien „einmalige“ oder „phantastische“ Erfahrungen – und ganz offenbar eine Karrierebeschleunigung in den diversesten Bereichen. Eine weitere, aber schwierig zu recherchierende Frage wäre, was aus den afrikanischen und südamerikanischen Weltrevolutionär:innen wurde. Und die Anlage am Bogensee gammelt derweil weiter vor sich hin.

Aus ethnologischer Feldforschung hervorgegangen, nüchtern beschreibend, uneifernd und darum umso nachdrücklicher – eins der desillusionierendsten Bücher über eine Illusionsindustrie par exellence, die Modeindustrie. Alles im Namen der Kreativität, die doch nichts andres ist als Zuhälterin des Profits und Komplizin fremdbestimmter Trends. Ein Ausbeutungssystem rundum, nachgetragene Illustration zu Brechts „Einbeutung“, worin alle sich selbst ausbeuten, in einem Sklavenhaltersystem, keineswegs nur in den Fabriken der „Dritten Welt“ und der Zulieferindustrien Chinas. Die meisten arbeiten ohnehin für nichts als die Hoffnung – und meist Illusion –, dazugehören zu dürfen. Insofern ist die Modebranche nicht nur ein Subsystem, sondern das Referenzsystem der Gegenwart.

14. September 1321. Da sind wir doch zum ehrfürchtigen Gedenken 700 Jahre danach recht pünktlich. Und immer noch voll Staunen, wie Dantes Göttliche Komödie seither zum Weltbuch werden und bleiben konnte. Meistens lassen Leser ja schon kurz nach dem Eintritt alle Hoffnung fahren. Natürlich ist rechtzeitig zu dem Anlass viel und bestimmt viel Kluges geschrieben worden. Franziska Meier beschränkt sich auf das Inferno. Das ist ja auch am spannendsten. Sie stellt dar, wie über die Jahrhunderte welche Elemente weiterverarbeitet und damit präsent und populär gehalten wurden. Das reicht von denen, die nach Erscheinen Dante tatsächlich für einen Höllenforscher hielten und gar Berechnungen anstellten, wie lang und breit der Schlund sein müsse, über die späteren Querelen der Bewertung seines – volkstümlichen– Idioms bis hin zu der ganz unwahrscheinlichen Rezeptionsgeschichte in Asien. Nicht zu vergessen Autoren wie Thomas Mann, James Joyce, Ezra Pound oder Dan Brown und überhaupt die Pop-Kultur. Schon gar nicht zu übergehen die spezielle Wirkung auf die in der NS-Zeit Exilierten, die sich in der höllischen Hoffnungslosigkeit spiegelten.

Info

Der Film im Nationalsozialismus Wolfgang Jacobsen edition t+k 2021, 132 S., 19 €

Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961 – 1989 Detlef Siegfried Wallstein 2021, 296 S., 28 €

Das schönste Gewerbe der Welt. Hinter den Kulissen der Modeindustrie Giulia Mensitieri Lena Müller (Übers.), Matthes & Seitz 2021, 335 S., 28 €

Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs Franziska Meier C.H. Beck 2021, 214 S., 26 €

12 Monate für € 126 statt € 168

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