Der Fluss riecht wie gedruckt

Nachreisetourbericht In "Prawda" beschreibt Felicitas Hoppe einen amerikanischen Alp- und Wunschtraum
So riecht beispielsweise der Mississipi: "nach Gil Gott, nach Tom und Huck, nach der Grenze zum Süden des Mittleren Westens, nach dem faulen Geruch von Onkel Toms Hütte, nach Ketten, Peitschen und Ku-Kux-Klan..."
So riecht beispielsweise der Mississipi: "nach Gil Gott, nach Tom und Huck, nach der Grenze zum Süden des Mittleren Westens, nach dem faulen Geruch von Onkel Toms Hütte, nach Ketten, Peitschen und Ku-Kux-Klan..."

Foto: Mario Tama/Getty Images

Bis zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg konnten Deutsche dort rundum reisen und nach Hause berichten, wobei sie meist von amerikanischen Deutschen zu Deutschamerikanern weitergereicht wurden und deren Perspektiven übernahmen. Selbst ein Colin Ross konnte so als Nazi-Propagandist unbehelligt seine Tour machen. Heutige Berichtreisende literatischer Provenienz pflegen meist den Goethe-Instituten und German Departments entlang zu ziehen. Felicita Hoppe macht da keine Ausnahme – oder doch: denn zuvörderst reist sie die Stationen nach, die Ilja Ilf und Jewgeni Petrow vor achtzig Jahren im Auftrag der Sowjetpropaganda unternommen hatten. Geführt von einem amerikanischen Ehepaar durchquerten sie das Land, das der Sowjetunion als technologisches Vorbild galt, um auf der Suche nach Wolkenkratzern festzustellen, dass die USA mehrheitlich eingeschossig und deren Bewohner im Denken ebenso flach waren.

Zur deutschen Erstausgabe hatte Felicitas Hoppe 2011 ein feines Vorwort vorausgeschickt, um 2015 selbst ihnen nachzuspüren. Nun also ihr Nachreisetourbericht. Schon der Titel Prawda ist ein Warnzeichen. Eher nämlich ist es eine quasimusikalische Phantasie über einen Bericht. Denn Hoppe hat ja einen ganz eigenen Stil, eine ganz eigene Sicht auf die Welt, die romantisch universalpoetischer ist als es irgend Reportage erlaubte. Fragt darin der „Dichterpraktikant“: „Was hört ihr lieber? Ein Märchen oder eine wahre Begebenheit? Eine wahre Begebenheit, rief Ann Adams sofort. Ein Märchen, rief ich.“ Im Zweifelsfall lieber Märchen. Andererseits: „Ich versuchte, einfach nur mitzuschreiben, was die Welt da draußen zu bieten hat“. Die erwähnte Ann Adams ist eine der „schrecklichen Vier“, mit denen Hoppe reist, eine bunte Truppe, den Bremer Stadtmusikanten ähnlicher als einem Expeditionscorps. Deren Schilderungen sind Kabinettstückchen für sich.

Aus dem „Tocqueville-Winkel“ betrachtet


Der unvergessliche Michael Rutschky hat vor Jahren erklärt, wie seine und mindestens die Generation danach, zu Amerikanern wurde, selbst als deren Kritiker und Verächter. Hoppe ist eine Freundin Nordamerikas, Kanadas zumal, die nun umgekehrt, im genauen Wortsinn, in einem roten Ford erfährt, dass die Amerikaner alle Italiener, Iren, Juden, Russen – und Deutsche sind. Was sie dabei nachfahrend erfährt, präsentiert sie in einem geradezu irrlichternd verlockenden Buch als eine mythopoetische Eigenwelt, zusammengefügt aus den Welt(an)teilen der Einheimischen, Ansässigen, Vorausgereisten und Vorausträumern – märchenhafter als irgend Realität, realistischer als irgend Reportage zugleich. Weil sie auf virtuose Weise ins Erlebte und Erfahrene alle die Mythen und Narrative verwirbelt, wie sie selbst noch in den aufgeklärtesten Köpfen sedimentiert sein dürften. So riecht beispielsweise der Missisippi: „Er roch nach Gil Gott, nach Tom und Huck, nach der Grenze zum Süden des Mittleren Westens, nach dem faulen Geruch von Onkel Toms Hütte, nach Ketten, Peitschen und Ku-Kux-Klan und nach der zehnten Schlange des Volkes, die bis heute nicht weiß, auf welcher Seite sie steht“. Karl May und Fontanes John Maynard, Dr. Seuss und Lucky Luke, John Steinbeck und Lion Feuchtwanger, Elvis und Bonnie&Clyde, Michael Jackson und Goethe, Henry Ford und die Simpsons, Jeanne d’Arc, zu der Hoppe ja ein besonderes Verhältnis hat, dazu Quentin Tarantino und Tocqueville erscheinen hier eingewoben in das Nordamerika, das sie im Auto aus dem „Tocqueville-Winkel“, nämlich dem Sitz hinter dem Fahrer betrachtet, das der Menschen, bei denen sie wohnt, mit denen sie spricht und reist. Zugleich auf der Nach-Suche zu den ihr Vorgefahrenen, nämlich nach dem ‚wahren Amerika‘ wie dem ‚neuen Menschen‘, nach dem „Paradies“ Amerika, von dem E. E. Kisch sarkastisch schrieb.

Sie besucht die USA als „Museum der Zukunft“, wobei - anders als bei den Vorausgereisten - der Akzent auf Museum liegt. Sie macht dabei ernst mit der Erkenntnis, dass alle Reisenden am Ende nur Nacheisende sind, Epigonen. Solche Epigonoi freilich, die nicht Theben erobern, sondern ein inneres Amerika noch einmal auferstehen lassen. Es ist diese Reise durch Nordamerika, wie der Untertitel signalisiert, zugleich eine „amerikanische Reise“. Hoppe kritisiert nicht, verachtet nicht, sie liebt – und wo nichts Liebenswürdiges zu sagen ist, lässt sie dezent die Misere für sich sprechen. Was sie an der eigenen Biographie wie an historischen Lebensläufen erprobt hat, die Verwebung von Realien und Imaginationen, von Beobachtetem und Fabuliertem, Träumen und Wünschen, das lässt dieses Nordamerika in einem faszinierend schillernden Licht erscheinen, von trügerischer Präzision wie die Messingstadt aus 1001 Nacht. Von geradezu neurotischen Mantras zusammengehalten: „The fear starts here“ oder Permutationen von Tolstois Satz in Anna Karenina: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“, ebenso wie von profanierten Bibelmotiven und Christenformeln.

So erscheinen schließlich die USA – anders als Kanada – wie ein weltkollektives Traumgewebe aus Kitsch und Geist, Freiheit und Borniertheit, Alp- und Wunschtraum, ein Gewebe, das vielleicht selbst Trump nicht wird zerreißen können. Am Ende, in New York, ein wenig melancholisch eingedüstert, doch „das Gesicht nicht zu Boden, sondern gen Himmel gerichtet, wo wir eines Tages garantiert jenen Schatz finden werden, den man bis heute vergeblich sucht.“ Ist es der Nibelungen-Hort? Denn merkwürdigerweise kommt Hoppe ein paarmal unversehns auf die Nibelungen zu sprechen. Die „trinken ihr eigens Blut, um das Feuer der Selbstvernichtung von innen zu löschen.“ Die Nibelungen findet sie in Tarantinos Filmen, auch wenn der abstreitet, sie überhaupt zu kennen. Aber: „Drehbuchschreiber sind Träumer. Sie träumen von Schätzen, Rache und Blutrausch, von Mord und Totschlag, von Friedhöfen, auf denen sich die Geister der rheinischen Nibelungen jede Nacht gegen die Geister der russischen Hunnen erheben.“ Geht dahin die Suche, die nächste Reise?

Prawda. Eine amerikanische Reise. Felicitas Hoppe, S. Fischer 2018, 320 S. 20 €.

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