I. Kaum jemand hat Vorstellungskraft genug, zu erahnen, was und wie viel mehr an menschlichem Leid sich hinter den zugerichteten Bildern verbirgt, die wir vom Krieg erhalten. Arm derjenige, den das nicht rührt und betrübt. Das Moralische, so hoffen wir mit Friedrich Theodor Vischer, versteht sich von selbst. Um das Unmoralische, gar das Amoralische im Namen der Moral zu verstehen, reicht Moral aber nicht aus. Schon gar nicht die, die man derzeit in der Empörung über den neuerlichen Golfkrieg beobachten kann.
Es scheint keine zufällige Koinzidenz, dass der immense Erfolg von Jörg Friedrichs Buch über die Bombardierung der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg der hohen Betroffenheits-Mobilisierung bei den Friedensdemonstrationen unmittelbar vorausging - nicht kausal zwar, aber als Symptom einer mehr diffus selbstmitleidigen Sentimentalität anstelle humanitärer Empathie. Rückgekoppelt mit den massenmedialen Illustrationen zwischen Bild-Zeitung und Fernseh-Dokumentationen, begleitet von besorgten Fragen des Feuilletons nach einer neuen deutschen Opferstilisierung (Teilweise nachzulesen jetzt im Bändchen Ein Volk von Opfern?, Rowohlt Berlin 2003), findet man in Friedrichs Buch das Arrangement zwischen der Peitsche siebenschwänziger Grausamkeitsschocks und dem Zuckerbrot, man habe in dem, was neben den Menschen vernichtet wurde, in der historischen Substanz der Städte, in den Kulturdenkmalen und Bibliotheken etwas Unersetzliches besessen und verloren.
Dass das Verlorene unersetzlich ist, steht außer Zweifel. Die Frage darf indes gestellt werden, wer von den heute Lebenden das als Besitz für sich reklamieren dürfte, wo schon die seinerzeitigen »Deutschen« sich einen Dreck darum geschert hatten, was sie da besaßen und wofür sie Verantwortung gehabt hätten. Einmal ganz von dem abgesehen, was Adorno als Aporie notierte, »wie sehr das Fachwerk zur Konservierung von Muff herhielt, dem Komplement technifizierten Unheils«. Hier aber feiert sich eine tapfer muckernde Opfernostalgie und pocht plötzlich auf die ihr genommene Kultur. (Als Antwort darauf nur einen Satz aus den Erinnerungen des Philosophen Kurt Flasch: »Das wirklich Alte war schutzlos. Erst kamen die Nazis, dann Bomben, dann Planierraupen; zuletzt fielen Heimatfreunde und Kunstfritze entstellend über den Rest her.«) Das Komplement zu diesem späten Gratis-Trotz scheint die Befindlichkeitswallung der Friedensbewegtheit zu sein, ein »joy of grief«, die lustvoll genossene Wehmut über die Wehr- und Hilflosigkeit gegenüber den undurchsichtigen Verhältnissen und ihren finsteren Figuren. Wenn es jungen Menschen abgeht, ist solch´ Weltweh Anlass höchster Besorgnis, ebenso aber, wenn es von einem kerzenschunkelnden, dem Äußeren nach erwachsenen Mittelstand genossen wird. Von daher scheint es nicht unnütz, dem schier identifikatorischen Selbstmitleid ein paar distanziertere, historisch hergeleitete Überlegungen entgegenzuhalten, die zugleich auch das Bild des damaligen Bombenkrieges, das Friedrich aktiviert hat, in eine andere Perspektive rücken können.
II. Der Bombenkrieg wurde von Anfang an als ein ideales Mittel zum Kampf gegen die Zivilbevölkerung angesehen. Nicht zuletzt deshalb waren es die Briten, die sich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer völkerrechtlichen Einschränkung auf unmittelbare Kampfzonen widersetzten, da sie Bombardements von Dörfern und Städten gerne gegen rebellierende Gruppen und Stämme in ihren Kolonien einsetzten. Und es ist nicht ohne bittere historische Ironie, dass sie diese Form des moral oder terror bombing, das dann das Muster für die Bombardierung des Deutschen Reichs abgab, ausgiebig am Irak übten.
Die Militärstrategen damals freilich phantasierten wesentlich weiter: Bombenkrieg der Zukunft wurde durchweg als Gaskrieg vorgestellt, als ein ebenso radikaler wie kurzer Krieg, in dem Massenopfer der Bevölkerung wie vor allem Massenpaniken ins Kalkül gezogen wurden. Alles das, stellte man am Ernstfall dann fest, trat nicht ein. Weder ließ sich der Bombenkrieg als Gaskrieg führen, noch war er kurz, noch führte er zu Panik und Aufständen in der Bevölkerung, noch schließlich waren die Opfer, so viel zu viele es waren, derart massenhaft wie die unter den Soldaten. Ob, unter welchen Umständen und ab welchem Zeitpunkt der Bombenkrieg zu rechtfertigen oder nicht mehr zu rechtfertigen war, ist nach wie vor höchst umstritten. Selbst wenn man so vorsichtig wie John Rawls ist und erst die Bombardierung Dresdens als eindeutig völkerrechtswidrig ansieht, selbst dann kann man den Alliierten den Vorwurf schwerer Kriegsverbrechen nicht ersparen. Und um so verwerflicher müssen die Bombardements der letzten Monate erscheinen, wenn sie offenbar mehr den Zweck der Vervollkommnung der Technik als den einer Verkürzung des Krieges verfolgten. Doch ist das eine Frage, die Briten und US-Amerikaner erst einmal mit sich ausmachen müssen. Hier kann man aus Deutschland, das am Krieg schuld war, schwerlich Schuld im Krieg vorrechnen wollen. Ganz abgesehen von Vergleichen zum Holocaust!
Indes kann man festhalten, dass die Alliierten eine Strategie des Schreckens- als Demoralisierungsbombardements gegen die Bevölkerung betrieben, indem man diese als Träger der Arbeits- und Kampfmoral interpretierte, die zu brechen war. Julius Posener, der als Ingenieur der British Army nach Deutschland gekommen war, schrieb von seinen Eindrücken in Köln und im Ruhrgebiet 1945 nach Palästina: »Die Wohnungen der Arbeiter sind zerstört, die Vororte stehen im allgemeinen, und einige Villen sind noch von ihren alten Bewohnern belegt ... Nie habe ich eine Zerstörung gesehen, die mit so großem Recht den Namen tragen könnte: Krieg den Hütten, Friede den Palästen. Man ist versucht, dahinter eine Absicht zu sehen.« Die Absicht war zunächst Demoralisierung, Panik und Aufstand. Das hatte die britische Führung bei deutschen Angriffen für die eigenen Arbeiter, und das hatte die deutsche Führung ebenfalls für die eigene Bevölkerung erwartet. Beides blieb aus. Das war allerspätestens mit dem Feuersturm von Hamburg nicht mehr zu übersehen. So wenig man sich gegen die eigene Führung empörte, so wenig schrie man insgesamt in der Bevölkerung nach Rache und Vergeltung, wie die zahlreichen Zeugnisse aus der Zeit belegen. Nicht einmal den offiziellen Propagandabegriff der Terrorflieger oder Luftgangster nahm man in den Mund.
Das Ausmaß der Zerstörung war unvorstellbar - Lord Solly Zuckerman, ein Gegenspieler von Bomber-Harris, dem an den Kolonien geschulten Fanatiker des Flächenbombardements, resignierte im Angesicht von Köln und Berlin vor der Aufgabe, eine Naturgeschichte der Zerstörung zu schreiben. Dennoch ging auch da das Leben in den Trümmern weiter. Und zwar so weiter, dass der Krieg von deutscher Seite aus mit äußerster Anstrengung weitergeführt werden konnte. Die Demoralisierung fand nicht statt, bis zuletzt nicht. Dass die Menschen erst zu der Volksgemeinschaft gebombt worden seien, die sie vorher nur der Propaganda nach waren, hört sich als Pointe gut an, dürfte aber so nicht stimmen. Vielmehr war es die Reduktion aufs Elementare und Instinktive, der schiere Überlebensreflex, aus dem heraus man nicht aufgab, zumal man ohnehin schon alles verloren hatte, was einen zivilisierten, gar kultivierten Menschen ausmachte.
Es war auf beiden Seiten klar, dass aus der Luft allein der Krieg nicht würde entschieden werden. Zum »Feuer«, wie es damals hieß, musste die »Bewegung« kommen, sprich: die Invasion. Sie kam. Selbst wenn man unterstellte, was angesichts der Vorgehensweise und Ziele schwer fällt, dass das Bombardement aus der Luft unmittelbar der Unterstützung der Invasion diente, dann wurde der Krieg eben durch diese Invasion und nichts anderes zu seinem Ende gebracht.
III. Vergleicht man nun dieses historische Szenario mit dem gegenwärtigen, dann will einem das Versprechen des chirurgischen Eingriffskriegs aus der Luft, das precision bombing - einmal ganz davon abgesehen, dass man es auf dem Balkan schon hat studieren können - als eine Mischung aus technologischem Größenwahn und propagandistischer Verlogenheit erscheinen. Aber es ist fest versponnen in dem Kokon von Selbstüberschätzung und frömmelndem Betrug, in dem die Bush-Administration und die Subliminar-Alphabeten, die »Einbeuter« (Brecht) der amerikanischen Medien, sich eingerichtet haben.
Man weiß, bestärkt durch Vietnam, aber auch durch Afghanistan, das unterschiedslose Massenbombardement hat keinerlei militärischen Nutzen, aber bringt immensen moralischen Schaden (Für den Bush-Amerikaner übersetzt: Image-Schaden). Also gibt es diese Art von Bombenkrieg fortan nicht mehr. Man weiß allerdings ebenso, dass weder der Zustand der Technik noch gar der des Personals es erlauben, auch nur annähernd auf eben diese Präzision zu hoffen. Und so kommt es zur Eskalation von zunächst stillschweigend Hingenommenem, dann hektischen Dementis und faulen Entschuldigungen, zunehmend nervös aktionistischer Beschleunigung und Massierung, wovon der klandestine, aber dann doch offenbare Einsatz von - geächteten - cluster bombs ein schlagendes Beispiel ist, zur fatalistischen Wurstigkeit gegenüber der immer unübersehbareren Diskrepanz von Versprechen und Realität, schließlich zur Überführung in Routine. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man vorhersagen, dass das eben nicht korrigiert, sondern weiterbetrieben und schließlich in eine Form nahe dem unterschiedslosen Terrorbombardement überführt werden wird. Die Metaphorik scheint dem schon voraus. Statt von chirurgischem Eingriff konnte man jüngst von einer Chemotherapie lesen, die man dem Irak angedeihen lassen müsse.
Auch hier gibt es ein historisches Vorbild - ausgerechnet die Bombenkriegsführung der deutschen Luftwaffe. Diese versuchte nämlich zunächst nicht nur, sich möglichst strikt im Rahmen des Völkerrechts zu bewegen, sondern konzentrierte sich auch technisch nahezu gänzlich auf das Präzisionsbombardement im Sturzflug. Gleichwohl gab es Guernica. Gleichwohl steigerte sich das über Warschau und Rotterdam hin zu dem, was Hitler dann zynisch gegenüber Menschen wie Kulturdenkmälern das »Baedeker-Bomben« nannte. Und so fort.
Den Alliierten damals standen keine für den Guerilla-Kampf trainierten Truppen gegenüber. Der Volkssturm war »Menschenmaterial«, der Wehrwolf eine Fiktion. Im Irak dürfte es, wenn nicht Wundersames geschieht, einen Guerilla-Kampf um Bagdad, überhaupt um die Städte, und so weiter im Land geben. Das Bombardement wird dann weitergehen - wie in Grosny auch. Militärisch-industrielle Routine.
IV. Und was, wenn alles doch zu Ende gebracht sein sollte? Dann wird das Ende kein Ende sein. Denn anders als damals nach der Niederwerfung von Deutschland und Japan gibt es ein weit über die Welt ausgebreitetes Netz terroristischer Stellvertretung, das auch dann noch im Namen dessen, wofür Saddam Hussein nicht stand, aber was er geschickt propagandistisch instrumentalisiert hat, im Namen der arabischen Welt und des Islam, sich einzumischen versuchen wird.
In Deutschland ist den Menschen im Bombenkrieg der Nazismus buchstäblich am eigenen Leibe exorziert worden. Sie sind durch ihr Leben in Todesangst, Trümmern, Dreck, Fäkalien und Verwesung jenseits irgendeiner Fähigkeit zur Reflexion ihrer Schuldverstrickung, selbst unter die Schwelle von Scham reduziert worden. Das hat sie willig gemacht. Beobachter damals stellten immer wieder entsetzt oder angeekelt die völlig schuld- und schamfreie Gefügigkeit fest. In den Aufzeichnungen von Deutschen konturiert sich das im Schreckbild vom »Massenmenschen«, metaphorisch in der Rede von Ameisen und Termiten. Hinzu kam jenes Schwanken zwischen Apathie und Euphorie, wie man es auch an Erdbebenopfern beobachtet hat. Das alles überführt in die Selbstbetäubung durch die Arbeitshektik des Wiederaufbaus. »Die Menschen waren«, so hat es Nossack damals formuliert, »einfach ohne Mittelpunkt.« Als »Verlust der Mitte« hat das Hans Sedlmayr für die moderne Kunst behauptet. Der Titel wurde zur Selbstcharakteristik für alle Situationen. Und gegen diesen Verlust der Mitte hielt man sich an das, woran auch Sedlmayr sich angesichts der verlorenen Opportunität des Nationalsozialismus nun hielt, an Glauben und Kirchen. Woran man sich im Irak »nach dem Krieg« halten wird, steht zu befürchten, wird kaum so geläutert und gutwillig sein wie jene damals.
V. Wie auch immer, der gegenwärtige Krieg war vielleicht vermeidbar. Jetzt ist er es längst nicht mehr. Und er wird es auch für die nicht sein, die in weltloser Wehleidigkeit auf ihrem Pazifismus dahintreiben wie seinerzeit auf der Welle vom »Waldsterben«. Wer wirklich den Frieden im Sinn hat, wird sich vor der Wankelmütigkeit solcher Wallungen in acht nehmen müssen. Vor allem, wenn es gilt, sich auf die künftigen Ausstreuungen des Krieges einzustellen, die Deutschland schwerlich verschonen werden, trotz des Abwehrzaubers der vielen Friedensrunen. Wenn zum Beispiel selbsternannte Rächer des Irak den sie heiligenden Terrorkrieg auch hierzulande führen würden - wie pazifistisch blieben alle die Friedensfreunde dann?
Erhard Schütz ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin
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