Devotionen

Berlin Buch Das ist wie aus dem Weltraum hergekommen, fern und fremd, ein Fund vom Basler Flohmarkt: Ein gezeichnetes und gedichtetes Album mit dem Titel Lied ...

Das ist wie aus dem Weltraum hergekommen, fern und fremd, ein Fund vom Basler Flohmarkt: Ein gezeichnetes und gedichtetes Album mit dem Titel Lied der Arbeit. In Dankbarkeit "unserem verehrten Chef", Herrn Reginald Fritsch gewidmet, handelt es launig vom Büroalltag einer ominösen A.G. im zerstörten Nachkriegs-Berlin um 1947/48. Es zeugt von den einschlägigen Provisorien und Ruinen, aber auch den Stereotypen der Angestelltenkultur - von Überstunden bis zur Chefverehrung. Eine eigentümliche Atmosphäre aus Aufgedrehtheit und Devotion. Der Herausgeber nennt die Lokalität: Bismarckstraße 113. Um was es sich bei der A.G. handelte, wird nicht klar. Ich habe mich über die spärlichen Informationen zu den so anrührenden Zeitreisebildern geärgert und selbst zu recherchieren versucht - mit wenig Erfolg: Bis November 1939 saß da eine Frankona Rück- und Mitversicherungs Aktien-Gesellschaft, 1953 wurde das Grundstück von der Frankona an die Shell verkauft. Bleibt also nur, dieses eigenartige Büchlein symptomatisch zu nehmen: fürs Provisorische jener Jahre und fürs Anonymat der Angestelltenexistenz.

Inge Horstmann: Das ›Lied von der Arbeit‹ oder ein Tag im Dienst der A.G.. Bürokultur im kriegszerstörten Berlin. Limmat, Zürich 2005, 72 S., 12 EUR


Die Lage sieht ganz anders aus, wenn es sich um den Schöpfer von Godot handelt, um Becketts Berlin. Erika Tophoven hat gemeinsam mit ihrem Mann Elmar über 30 Jahre lang das Werk Becketts ins Deutsche übersetzt. Es nimmt nicht wunder, dass der Band über Becketts Berlin-Aufenthalt im Winterhalbjahr 1936/37 der gleichen sorgfältigen Devotion entstammt. Ein Glanzstück in zweifacher Hinsicht: Es zeigt den Dichter als jungen Mann, der sich als Dreißigjähriger für seine inskünftige Karriere begierig Material anfrisst, dabei selbst so asketisch hager bleibt, wie ein Dichter in jenen Jahren nun einmal zu sein hat. Und es gibt ein atmosphärisch dichtes Tableau der Zeit im Nazi-Deutschland nach der Olympiade und vor der 700-Jahr-Feier Berlins. Doppelt: Im minutiösen Text mit den Beobachtungen zum Alltag und zur Kunst - Beckett als kritischer Museumstiger. Rembrandts Jakob beispielsweise ist ihm ein "metaphysical boneslicker". Dazu die vielfältigen Fotos, Gemäldereproduktionen, Postkarten, Zeitungsausrisse und -annoncen. Alles wohlangelegt.

Erika Tophoven: Becketts Berlin. Nicolai, Berlin 2005, 143 S., 24,90 EUR


Der erste Irrtum dem man dem "Lexikon" über Berliner populäre Irrtümer anheim fällt: dass es sich um Irrtümer handele. Tatsächlich ist´s ein Seitenstück der erfolgreichen Irrtümer-Welle. Es handelt von Irrtümern des Kalibers: Der Steglitzer Kreisel ist ein Kinderspielzeug. Oder: Albrechts Teerofen ist eine Kaschemme in Kohlhasenbrück. Nebbich. Manchmal gibt´s tatsächliche Irrtümer, dann aber solche, an die längst niemand mehr glaubt, dass zum Beispiel der Name Berlin sich von Bär ableite. Immerhin gibt das den beiden Autoren Gelegenheit, sich über den Sumpf auszulassen, von dem Berlin tatsächlich abstammt. Wie überhaupt die Stichwörter eher gleichgültig sind, ob nun Schwaben in Berlin, Seidenproduktion, Milchmädchenrechnung, proletige Berliner, Berliner Luft, Humor und Wasser. Wenigstens zum Verschenken ganz nett ist das Buch dennoch, weil den beiden "Radio-Giganten" Wieprecht und Skuppin hier gelingt, was ihre Moderation bei Radio 1 auszeichnen soll: die Fröhlichkeitsverträglichkeit und Humorerträglichkeit nimmt keinen nachhaltigeren Schaden.

Volker Wieprecht/Robert Skuppin: Berliner populäre Irrtümer. Ein Lexikon. be:bra, Berlin 2005, 240 S., 22 EUR


Ob wir uns Uwe Lehmann-Brauns als fröhlichen Menschen vorstellen dürfen? Der Memoiren-Digest über seine Berliner Jahre jedenfalls ist rührend. Der Jurist, über Jahrzehnte im Berliner Abgeordnetenhaus, ist ein Phänomen - einerseits typischer Vertreter dessen, was die Westberliner CDU weltweit so beliebt gemacht hat, andererseits deren wildes Schaf, immer für eine eigendenkerische Überraschung gut. Einer, der sich in allem, was er tat, mit Leidenschaft engagierte - ob er nun seine ja nicht gerade musisch aufgeschlossene Partei an die Künste oder die Künstler an seine Partei (oder besser: seine Vorstellungen, wie die Partei sein sollte) heranführen wollte. Was gegen ihn sprach, ist in der Vergangenheit hinreichend gesagt worden, was für ihn einnimmt, steht jetzt hier - auch wenn sein Stil nicht gerade wie "Autorenkreis der BRD" wirkt. Oder muss er als dessen zweiter Vorsitzender vielleicht so schreiben? Immerhin, die Anliegen, Ansichten und Anekdoten, die in wie Tagebuchextrakte hereinprasseln, von der Frau des Schwarzkanalers bis zu Monika Maron reichend, von Stolpe bis Jens, Havel bis Weizsäcker und Peter Schneider, und immer wieder über Kunstschaffende der "anderen Seite", Frank Beyer, Albrecht Gehse, Wolfram Scheffler, sie sind gelegentlich amüsant, gelegentlich banal, aber nicht ohne wachsende Nachdenklichkeit zu lesen - und mit Sympathie für einen, der sich so unbekümmert aussetzt.

Uwe Lehmann-Brauns: Die verschmähte Nation. Berliner Begegnungen. Hohenheim, Stuttgart und Leipzig 2005, 238 S., 18 EUR


Das Vorlesungsverzeichnis der Humboldt-Universität hat bei allem Vorbehalt gegenüber seinem Informationswert zweifellos den Vorzug, dank seiner Beliebtheit bei Berlin-Touristen eine Einnahme-Quelle der Universität zu sein. Ob das Buch von Gianluca Falanga ihm den Rang ablaufen wird, ist schon angesichts des Preises fraglich. Immerhin enthält es das Kunststück, die schieren Listen des Vorlesungsverzeichnisses in zusammenhängende Sätze überführt zu haben. Ergänzt wird das um Porträts zur Geschichte von 1810 bis heute, zu Heroen der HU, von Humboldt bis Havemann, und "Ideen, die die Welt veränderten": von Fichtes Ich-Philosophie über Kochs Tuberkel zu Einsteins Relativität. Die Texte sind so dosiert, dass man sie selbst im 100er Bus jeweils zwischen zwei Schlaglöchern oder zwei Ellenbogenstößen bequem lesen kann.

Gianluca Falanga: Die Humboldt-Universität. Berlin-Story, Berlin 2005, 238 S., 19,80 EUR


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