Die Farben des Kriegs

1914 Kein Medium zeigt das Nebeneinander von Gräuel und Idylle im Ersten Weltkrieg so gut wie die Literatur. Wir stellen die wichtigsten Bücher zu diesem Jubiläumsjahr vor
Ausgabe 33/2014

Beginnen wir mit einem Sachbuch. Den „Großen Krieg“ gibt es nun auch in Farbe, Feldgrau in bunt. Die Fotos haben eine eigentümliche Anmutung zwischen Patina und Künstlichkeit. Selbst die – seltenen – Leichen scheinen zu posieren. „In der Fotografie des Ersten Weltkriegs war eine Grenze zwischen ‚inszeniert‘ und ‚authentisch‘ schwer zu ziehen“, schreibt der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf im bei Metzler erschienenen Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch.

In seinem Kapitel über die Medien des Kriegs skizziert er das Spektrum der damaligen Fotografie von den neuartigen Luftbildaufnahmen zu militärischen Zwecken über die der offiziellen Kriegsfotografen hin zu den unzähligen Schnappschüssen der Soldaten. Hüppauf widmet sich auch dem Film, der damals schon ein prominentes Kriegsmedium war, vor allem aber auch Zeitungen, Plakaten, Briefen und Karten. Seltsamerweise ist vom Buch in diesem Kapitel keine Rede, dabei hat etwa Ullstein zu jener Zeit Büchlein noch und noch über die „Waffentaten unserer Soldaten“ unter die Leute gebracht.

Wer etwas über Literatur erfahren will, findet das im Kapitel „Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis“. An diese etwas prätentiös-nerdige Querschnittsthematisierung muss man sich gewöhnen, um sich die Qualitäten dieses Bandes zu erschließen. Auch daran, dass einige Autoren ein Verhältnis zur Sprache haben wie Fußballer zum Rasen.

Gleichwohl ist das Kulturwissenschaftliche Handbuch von hohem Wert, vor allem auch, weil es als Triptychon mit Ausblick angelegt ist: Vorher, während und danach. Wie Oliver Jahraus und Christian Kirchmeier der Karriere des Schlagworts vom Krieg als „Katastrophe“ nachgehen, ist besonders aufschlussreich. Ein ähnlich dreigeteiltes Modell – Aufbruch in die Moderne, Um-/Einbruch und Entzauberung der Moderne – hat im Übrigen auf der Zeche Zollverein die Ausstellung 1914 – Mitten in Europa gewählt. Der umfassende Katalog ist eine plastische Ergänzung zu dem, was das Handbuch in abstrahierender Strenge entwickelt.

Trotz aller Faszination der Abbildungen und Objekte hat die Literatur aber im Archiv unserer Vorstellungen vom Krieg eine besondere Position. Indiz sind die vielen Wiederauflagen, Sammlungen und neuen Texte zum Jubiläumsmarathon, um die es im Folgenden gehen soll. Einige sind weltbekannt, und können dennoch mit Gewinn neu gelesen werden. Andere wurden eben erst wiederentdeckt – zu Recht – und wieder andere verbinden den Blick ins Archiv ganz kongenial mit dem Heute.

Adoleszenz unter unglücklichen Umständen

Nehmen wir aber zuerst den Goldstandard der Kriegsliteratur: Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Das Buch, erst viel später als Roman betitelt, wurde weltweit und bis heute mit großer Erschütterung als das Buch über den Krieg gelesen. Seiner Faszination konnte Kritik weder von links noch rechts noch von den Fakten her etwas anhaben. Denn im Kern handelt es sich um pure Adoleszenzliteratur, coming of age under unfortunate circumstances, zwischen Rilkes Cornet und der West Side Story. Peergroupliteratur, gegen die Eltern und andere. Kameradengemeinschaft als Ersatz der Muttersymbiose. Narzisstisches Wallen zwischen Fragmentierungsangst und Zerstörungswut einerseits, Allmacht und Alleinheit andererseits. In eben das ist ein Puls zwischen Ruhe und Bewegung, Anspannung und Erschöpfung, Plötzlichkeit und Langeweile, Todesangst und Banalitätenglück kongenial eingeschrieben. Darin hat der Roman den Krieg gründlicher erfasst als Lautmalerisches zu dessen Geräuschen oder Beschreibungen zur Optik der Vernichtung. Nachprüfbar in der neu aufgelegten Erstausgabe, kommentiert vom Remarque-Experten Thomas F. Schneider.

Reflexhaft müsste jetzt Ernst Jünger heranzitiert werden, der Remarque dafür verachtete, dass der etwas, das im Kriege doch selbstverständlich sei, ins Zentrum gestellt habe: das Leiden. Von ihm und über ihn ist letzthin so viel erschienen, dass wir uns mit dem Verweis auf das rundum informative und solide Ernst-Jünger-Handbuch begnügen können. Unbedingt nennen muss man hingegen Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt „Schlump“. Von ihm selbst erzählt. 1928 anonym erschienen, weiß man heute, dass hinter ihm der Lehrer Hans Herbert Grimm steckte. Das ist eine eigene, spannende Geschichte. Der Titel deutet ja auf das Muster des Schelmenromans, ein wenig könnte man sich an Hašeks Schwejk erinnert fühlen, der jetzt als Švejk in einer nagelneuen und kongenialen Übersetzung zu haben ist. Schlump ist deutscher – weniger schlitzohrig als fatalistisch. Er geht durch Ausbildung, Etappe und Front wie durch eine komprimierte Welt Grimmscher Märchen. Eine Wiederentdeckung, die zu lesen sich lohnt!

„Der Krieg – das sind unsere Eltern“

Folgt ein Schwenk zu dem, was man Heimatfront nannte und was man nicht nur für die Literatur in der Wirkung eher unterschätzt hat. Das intelligenteste, höchst sarkastische und analytisch schärfste Buch dazu ist zweifellos Siegfried Kracauers Ginster. Von ihm selbst geschrieben. 1928 anonym erschienen, schildert es aus der Perspektive eines Untauglichen, der als „U-Boot“ unter den befremdlich Heimischen sich bewegt, Jubelrausch, Spionagehysterie, Kasernenleben, Bürokratie und Gefallenenkult, Mängel- und Ersatzwirtschaft. Die gemischten Gefühle derer, die zu jung waren, eingezogen zu werden, diese Jahre aber als entscheidende erlebten, findet man in Ernst Glaesers Jahrgang 1902, ebenfalls von 1928 und anfänglich fast so erfolgreich wie Remarque, der sich übrigens von Glaeser hat inspirieren lassen. Auch dies ein Adoleszenzroman, vom „Ringen der Jugend“ – um Liebe. Weil aber die Erwachsenen daraus ein „Geheimnis“ machten, verkehrten sie die in Hass und Krieg. Von daher das Motto, das ein junger Franzose ausspricht: „Der Krieg – das sind unsere Eltern.“

Trotz solch nachhaltiger, starker Einzelstücke gibt es intuitiv den Wunsch, angesichts der Vielfalt (und mehr noch Massenhaftigkeit), das alles in möglichst vielen Schattierungen und Facettierungen aus dem unmittelbaren Erleben heraus erzählt zu bekommen. Man braucht sich ja nur klar zu machen, wie viel gleich in den ersten Kriegstagen und nicht endend an Liedern und Gedichten produziert wurde. Der große Theaterkritiker Julius Bab hat seinerzeit geschätzt, dass im August 1914 täglich rund 50.000 Gedichte entstanden seien. Das war übertrieben, sicher ist indes, dass die Zeitungsredaktionen mit Lyrischem überschwemmt wurden. Bab selbst hat von 1914 bis 1919 immerhin zwölf Hefte mit über 500 Gedichten herausgegeben. Ebenso häufig waren Tagebücher. Kaum eins ist so prominent wie das Jüngers, das unter dem Titel In Stahlgewittern an die Öffentlichkeit gelangte. Eine Auswahl aus 190 damaligen Tagebüchern aus dem Deutschen Tagebucharchiv dokumentiert nun aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Professionen die Verborgene Chronik 1914. Eine in der überwiegenden Alltäglichkeit im Ungeheuerlichen abgründige Collage. Weitere Bände sollen folgen. Tagebucheinträge findet man auch in der Sammlung Krieg – von allen Seiten von Wilhelm Krull, die eher die bekannteren Autoren jedweder Couleur, von Walter Flex bis Egon Erwin Kisch, Manfred von Richthofen bis Fritz von Unruh, heranzieht, um den Krieg zwischen Frontbericht und Kriegsgefangenschaft, nationalem Rausch und Friedensappell in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit ahnbar zu machen.

Mut für die Zukunft

Das alles beruht auf der deutsch-österreichischen Perspektive. Für einen Krieg, der ein – europäisch angezettelter – Weltkrieg war, ist das unbefriedigend. Was Christopher Clark mit Die Schlafwandler historiografisch unternommen hat, liefert die Sammlung Über den Feldern als eine beeindruckende, hausbuchartige Kompilation aus 15 Ländern und Sprachen. Mit einer Ausnahme, einem Auszug aus Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, sind es allesamt Erzählungen, in solcher Vielfalt der Perspektiven und Formen, dass hier tatsächlich ein Weltkrieg der Weltliteratur vorliegt!

Einen ganz anderen Weg geht der kleine, aber höchst findige Elektrische Verlag: Damals erschienene Texte – Novellen, Reportagen, Feuilletons, Erzählungen – gibt er in schmalen, sorgsam gemachten und kommentierten, sehr preiswerten Bändchen heraus. Bisher sind das unter anderem Victor Auburtin, Theodor Lessing, Karl Kautsky oder Eduard von Keyserling. Explizit erwähnt sei Leonid Andrejews Das Joch des Krieges, 1918 erschienen als das fingierte Tagebuch des braven Buchhalters Illia Petrowitsch Dementjew in St. Petersburg, der nicht mehr eingezogen wird und zunächst von sich sagt: „Inmitten des allgemeinen Unglücks bin ich ein gewissenlos glücklicher Mensch!“ Er ist gegen den Krieg, aber wenn schon, dann lieber auf der Seite der Sieger. Sein Sohn fällt, seine Frau arbeitet im Lazarett, er selbst wird arbeitslos – und der Krieg „verschlingt das Geld wie die Schweine Apfelsinen“!

Damit zur Gegenwart und zwei ganz dringlichen Empfehlungen: Wer einen langen literarischen Atem und Lust auf europäische Vielfalt hat, dem sei ein Sonderband der Zeitschrift die horen ans Herz gelegt. Das Netzwerk der Literaturhäuser hat 23 junge europäische Autorinnen und Autoren dazu bewegt, sich von den Zeitungen vom Juli und August 1914 aus ihren Heimatorten anregen zu lassen. Die so entstandenen Erzählungen und Essays, mal konventioneller, mal geistsprühend, wie etwa der von Marcel Beyer, machen nicht nur einmal mehr nachdenklich über den damaligen kollektiven Irrsinn, sondern auch ein wenig Mut für die unmittelbare Zukunft.

Diejenigen, die meinen, so viel Zeit einfach nicht zu haben, mögen zu Jean Echenoz’ 125 kurzen Seiten mit dem noch kürzeren Titel 14 greifen. Sie destillieren die Essenz des Ersten Weltkriegs, dicht, klar und stark, Idyllik wie Gräuel. Keine große Oper, dafür viele kleine Szenen, in denen von Fliegern bis Grabenschweinen, sogar die Tierwelt von Pferd bis Floh, so gut wie alles auftritt. Gleichwohl bleibt Platz für eine anrührende Liebesgeschichte: Blanche bringt 1915 ein uneheliches Kind zur Welt. Charles, den mutmaßlichen Vater, haben die Deutschen da bereits letal vom Himmel geholt. Sein Bruder Anthime verliert den rechten Arm, gewinnt aber die Zuversicht zurück – und Blanche. Ein höchst bewegendes Büchlein!

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