„Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“

Nachruf Und am Ende dann endlich der Büchnerpreis: Der verstorbene Erzähler und Schriftsteller Peter Kurzeck hatte noch viel vor
 „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“

Foto: Arne Dedert/ dpa

Seinen siebzigsten Geburtstag, begangen am 10. Juni, hatte die Hessische Landesvertretung in Berlin gefeiert. Da war auch davon die Rede, wie die 2011 Verlagschronik von Stroemfeld Peter Kurzecks Vorhaben vorstellte, das ‚alte Jahrhundert‘ in zwölf Bänden zu erzählen. Am Ende, so Kurzeck, sollte dann der Nobelpreis stehen. Nun wird das nichts mehr werden, auch mit dem Büchnerpreis nicht, für den er immer wieder vorgeschlagen wurde. Peter Kurzeck ist mitten in der Arbeit am sechsten Band am 25. November nach kurzer Krankheit in Frankfurt am Main gestorben.

„Peter Kurzeck, Jahrgang 1943, lebt in Frankfurt am Main und in Staufenberg bei Gießen. Nach 21 Jahren Berufsleben (Personalchef und Gelegenheitsarbeiter), Reisen (sogar in die Arktis – aber im Sommer) und Gefängnis legt er hier seinen ersten Roman vor.“ – so 1979 der Klappentext zu Der Nußbaum gegenüber dem Laden in dem du dein Brot kaufst. „Ach“, heißt es einmal darin, „warum muß es denn immer Dialog sein? Laß mich hier mit meinem immerwährenden Schnaps sitzen, mein Zauberglas, das nie leer wird.“

Und es endet bös, mit Überfall und Gefängnis. Sein nächstes Buch, wie alle danach haarscharf an der eigenen Biografie entlang geschrieben, 1982, Das schwarze Buch, zeigte den Weg des Vertreters Merderein in den Suff, mit Auf- und immer tieferen Abschwüngen, in Fahrigkeit und Redseligkeit, durch die Delirien- und Entzugshölle zur Wiedergeburt im Schreibenden, der fortan so schreiben und erzählen wird wie er trank - süchtig und allmächtig. „Wie wenn du einen Abendhimmel sollst leersaufen, so säufst du die Jahre weg und dann steigen sie hoch und du säufst sie wieder und immer nochmal. Und lebst noch, siehst du.“

Englittene Dinge

Über das „ununterbrochene Nichttrinken (dass man pausenlos keinen Alkohol trinkt, Tag und Nacht!)“ – wird 25 Jahre später der Erzähler im Roman Oktober und wer wir selbst sind staunen. Ein Weg, der im Schwarzen Buch erst einmal von einem geradezu unheimlich präsenten Frankfurt zunehmend in Erinnerungen führt, dann zurück aufs Land, in die Kindheit. „Erst war ich der liebe Gott, dann haben sie mich in die Schule geschickt und von da an konnte ich mich nicht mehr um alles kümmern. So sind mir die Dinge entglitten.“ Auf die Suche nach den entglittenen Dingen geht es zwangsläufig zurück, in eben die Kindheit, aufs Land. Kein Frühling, 1987.

Spätestens mit dieser so dichtgewebten, mikroskopisch überscharfen Erinnerung an Staufenberg, an seine Dickworzbauern und Buderusarbeiter, an die Flüchtlinge und Eingesessenen, an Gerät und Getier, Atmosphäre, Klima, Geruch und Farbe der bundesdeutschen Nachkriegsjahre, spätestens da wurde er weithin bekannt.

Liest man noch einmal die Kritiken seiner Bücher, dann ist da von Sog die Rede, von Trance, in die einen Kurzecks Schreiben versetze, von den Schleifen seines Schreibens, vom Sichverlaufen, von Digressionen, – und immer wieder von der Stimme.

Im Ohr

Denn es war ja tatsächlich so, daß wer ihn einmal jenseits seiner unermüdlichen Buchhandlungslesungen hörte – erinnert sei nur an Ein Sommer, der bleibt von 2007 und Unerwartet Marseille von 2012 - diese Stimme, ihren Singsang nie mehr loswurde, die auch im Ohr blieb, wenn man ihn las. Das dieser Stimme so eigentümlich rollende R wurde gern mit dem heimischen mittelhessischen Dialekts in Verbindung gebracht. Er selbst hat darauf insistiert, daß es in seiner Härte das Erbe des böhmischen Flüchtlingskindes war.

Ohnehin hat man immer wieder den mündlichen Ton seiner Texte benannt, alles andere allerdings als der eines naiven Erzählens. Peter Kurzeck brachte in höchster Virtuosität Eigentümlichkeiten des Mündlichen mit den Raffinessen des Schriftlichen zusammen. Wie er Mündliches mit Schriftlichem, Colloquiales mit Literarischem verband, immer beziehungsreicher seine bisherigen Werke vernetzte, wie er sich und seine Leser verstrickte im umstandslos wechselnde Ich und Du und Wir, so wie er im Selbstgespräch war mit sich, den Seinen, uns und allem anderen, ebenso vernetzte er die Orte, ihre Zeiten und die Zeit.

„Der Tag sieht dich an. Jeder Gegenstand, jedes Ding sieht dich wie eine alte Erinnerung an […].“ – „Jedes Ding will benannt und immer wieder benannt sein.“ - hieß es und schrieb es sich schon 1991 in Keiner stirbt, dem unvergleichbaren inneren Roadmovie des Meier Horst zwischen Gießen und Frankfurt. In Vorabend, dem bisher letzten der Bücher zur alten Bundesrepublik findet sich 2011 gleich der Vorsatz: „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“, später noch einmal bekräftigt: „Ich muß die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist.“

Gegenwartskümmerer

Peter Kurzeck war ein notorischer, suchender und süchtiger Erinnerer; er erinnerte bei weitem nicht nostlagisch die „seinerzeitige Gegenwart“. In Kein Frühling mahnte er: „Daß uns die verlorene Zeit nun nicht nachträglich noch zur Idylle mißrät und die Gegenwart, das Leben, in der Mehrzahl bliebe eine Angelegenheit für Statistiker.“ Das zeigt, mit der Vergangenheit ging es ihm um die Gegenwart, seine wie unsere. Mit seinen Erinnerungen war er und bleibt er tatsächlich ein wahrhafter, besorgter und sorgsamer Gegenwartskümmerer.

Wenn Peter Kurzeck erzählte, daß Töchterchen Carina ihn anspornte: „Erzähl Peta!“ - „Erzähl weiter!“, dann nahm er weder sie noch uns als Geisel seines Erzählens, sondern zeigte nur, daß er „zu dem wunderlichen Geschlechte der Autoren“ gehörte, von denen E. T. A. Hoffmann sprach, nämlichen „denen [...] so zu Mute wird, als frage jeder, der in ihre Nähe kommt und nebenher wohl noch die ganze Welt: 'Was ist es denn? Erzählen Sie Liebster?'“

Ein romantischer Gegenwarts-Erzähler? Nun hat Walter Benjamin seinerzeit dekretiert, daß es mit der Kunst zu erzählen zu Ende sei, weil niemand mehr Rat wisse, erzählen aber heiße, Rat zu wissen. In Peter Kurzeck jedoch hatten wir einen der ganz wenigen wahrhaften Erzähler. Wie das? Weil er wußte, daß als bester Rat derer, die keinen Rat wissen, immer noch das Erzählen bleibt. Wie Benjamins Zeitgenosse Bernard von Brentano wußte: „Sagen lassen sich die Leute nichts, aber erzählen alles.“ Was alles hätte er noch zu erzählen gehabt!

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