Nicht nur bei Lottospielern und Kindern, auch geschichtsschreibend beliebt ist das schöne Spiel "Was wäre, wenn". Vor allem natürlich über Hitler und das "Dritte Reich". Für den Herbst ist nun sogar ein Thriller angekündigt, in dem Rosa Luxemburg 1919 nicht ermordet und Revolutionsführerin wird. Hier und jetzt aber USA 1940: "Lindy kam mit seinem berühmten Flugzeug aus dem Himmel herabgeflogen, und schon war alles wieder wie 1927" - als nämlich die Massen den Atlantiküberquerer Lindbergh umjubelten. Darum wird nicht - wie in der realen Geschichte - Franklin D. Roosevelt, sondern der charismatische Fliegerheld Präsident, weil er verspricht, die USA aus dem europäischen Krieg herauszuhalten, den Roosevelt für unumgänglich hält. Für Herman Roth beginnt damit die Faschisierung seines Landes. Der siebenjährige Phil hat einen Alptraum: In seinem heißgeliebten Briefmarkenalbum sind die Landschaften des Nationalpark-Satzes von 1934 mit einem Hakenkreuz überdruckt.
So beginnt Philip Roths Roman Verschwörung gegen Amerika, dessen amerikanisches Original im letzten Herbst große publizistische Aufmerksamkeit - auch hierzulande - erfuhr. Die amerikanische Ausgabe zeigte auf dem Titel eine Briefmarke mit dem Yosemite Valley, überdruckt mit einem Hakenkreuz. Die englischsprachige Export-Ausgabe für Deutschland trug stattdessen ein Andreaskreuz. So nun auch die deutsche Übersetzung, bei der überdies das Braun des Original-Einbands, das zwischen SA-Pack und Pack-Papier changierte, nun kräftig nach Rot verschoben ist. Vielleicht ist solche Markt-Rücksicht auch Vorsicht, gab es doch bereits illustre Fehlinformationen: Der ansonsten zuverlässige Lorenz Jäger hatte in der FAZ verbreitet, des kleinen Phil Roths Mutter werde Opfer eines Pogroms und der große Philip Roth habe in seinem Roman die Faschisierung der USA damit erklärt, dass die Nazis Lindberghs seinerzeit entführtes Baby als Geisel hielten und ihn so auf ihre Linie pressten. Darauf hat sich offenbar Rudolf Schröck gestützt und in seiner - etwas flauschigen - Geschichte von des realen Lindbergh Doppelleben (besser: Viererleben) im Dienste an Lindberghs deutscher Nachkommenschaft heftig gegen einen rufmordenden Roth gewettert, für den Lindbergh als "faschistisches Abziehbild herhalten musste." Musste er aber gar nicht.
Richtig ist, dass der populäre Lindbergh seinerzeit für "America First", die breite Bewegung gegen den Kriegseintritt, auftrat und deshalb von Roosevelt und den Briten als Nazi-Freund attackiert wurde. Er sollte "unamerikanisch", als Verschwörer gegen die USA erscheinen. Der selbst als "unamerikanisch" verhörte Brecht zum Beispiel hat auf die Kampagne hin aus seinem Stück über den Ozeanflug Lindberghs Namen nachträglich getilgt. Nach allem, was man weiß, war Lindbergh, auch wenn er einige jüdische Freunde hatte, antisemitisch eingestellt. Er hegte Sympathien für die Fliegernation des "Dritten Reichs" und hatte das Verdienstkreuz Deutscher Adler, das er vom Oberflieger Göring 1938 erhielt, trotz einschlägiger Pressekampagne nicht zurückgegeben. Seine aktive Unterstützung Deutschlands beschränkte sich jedoch wohl mehr auf die Zeit nach 1945, auf seine Privatinitiative zur Erhöhung der Geburtenzahl.
In einem großen Essay zur Ehrenrettung Lindberghs hatte Gore Vidal 1998 in Times Litery Supplement auch an die Denunziationskampagne erinnert. Da Roth mit Vidal privat verfehdet ist, vermuteten einige Kritiker prompt, der Roman sei gegen den Essay geschrieben worden. Andere hingegen sahen darin ein brisantes politisches Motiv, nämlich dem - nicht ganz so heldischen - Flieger Bush und dessen "Homeland Security" den Spiegel vorzuhalten: Ihr Verschwörer gegen Amerika. Damit wären wir in etwa auf dem derzeitigen Stand der Gerüchte und Informationen um den Roman.
Zunächst der Plot: "Wir waren 1940 eine glückliche Familie. Meine Eltern waren kontaktfreudige, gastfreundliche Leute ... ". - erzählt rückblickend Phil Roth über die Zeit 1940 bis 1942, über sein siebtes bis neuntes Lebensjahr. Alle Freunde und Nachbarn in Weequahic, N. J., waren Juden. "Arbeit kennzeichnete und charakterisierte für mich unsere Nachbarn weitaus deutlicher als Religion." Der Vater ist Angestellter einer Versicherung, die Mutter Hausfrau. Phil, leidenschaftlicher Briefmarkensammler wie Roosevelt, hat einen älteren Bruder, Sandy, der hervorragend zeichnet, und einen Vetter, Alvin, der mit im Haushalt lebt. Man verehrt Roosevelt und hört sonntags im Radio Walt Winchell, den beliebten jüdischen Kommentator. Und dann 1940 die Radio-Rede von Lindbergh gegen die, die das Land in den Krieg ziehen wollen: England, die Juden und speziell die Regierung Roosevelt.
Lindbergh wird allenthalben gefeiert; natürlich nicht im Hause Roth, dessen Oberhaupt ohnehin überall Faschisten und Antisemiten wittert. Lindbergh wird Präsident, schließt einen Nichtangriffspakt mit dem Deutschen Reich und empfängt Ribbentrop. Viel mehr tut Lindbergh im Roman eigentlich nicht. Kein abwegiger Einfall: Ein populärer Medienheld wie er hätte ja tatsächlich jene Früchte ernten können, die Roosevelts New Deal, dem Thomas Mann im Josephs-Roman ein Denkmal setzt, hatte reifen lassen: das Bewusstsein von community und den Stolz auf die nationalen Projekte. Beides - so unlängst Wolfgang Schivelbusch - von den Mitteln und der Propaganda her gar nicht weit entfernt vom Vorkriegs-Italien und -Deutschland. Der Isolationismus, dem zunächst eine überwältigende Mehrheit zuneigte, war ja eine Erfolgsbestätigung der New-Deal-Propaganda. (Wie auch die absolute Mehrheit der Deutschen damals wohl lieber auf den Krieg verzichtet hätte, um an den versprochenen Volkswagen zu kommen ...).
Roth geht in seiner Gegengeschichte weitgehend dokumentarisch vor. So wie er sich bei der erzählten Familie Roth eng an die eigene hält, so auch an die gesellschaftlichen und politischen Umstände; die Politiker, Gangster und Spieler sind die von damals. Auch Lindbergh hat die Rede so gehalten, allerdings ein Jahr später. In einem ausführlichen Anhang, der die realen zeitgeschichtlichen Biographien wiedergibt, ist sie in Gänze abgedruckt. Roth zitiert im Roman daraus: "Wir können nicht zulassen, daß die natürlichen Leidenschaften und Vorurteile anderer Völker unser Land in die Vernichtung führen." In der Verkürzung liest es sich, als ob der Roman-Lindbergh unmittelbar die Juden als fremdes Volk bezeichne. Der Anhang zeigt: So eindeutig ist das nicht. Schlimmeres tut Roth Lindbergh aber nicht an. Er ist hier eher ein argloser Katalysator für die ohnehin vorhandene, bornierte Aggressivität der "weißen" USA. Es sind andere in seiner Regierung, die den Antisemitismus stimulieren. Chaos und die Pogrome brechen erst aus, als Lindbergh wieder einmal einer Rede 1942 davonfliegt und spurlos nach verschwunden bleibt. Am Ende wird dann Roosevelt Lindberghs Nachfolger. Pearl Harbor kommt wie gehabt - und alles geht den bekannten Gang der Geschichte.
Bei der Familie Roth aber ist nichts mehr wie zuvor. Der Weg dahin ist das eigentlich Fesselnde des Romans: Wie sich die zunächst geringfügigen politischen Veränderungen im Alltag einnisten und jene Angst erzeugen, die der erste Satz ankündet: "Angst beherrscht diese Erinnerungen, eine ständige Angst." Gerade weil zunächst nicht klar ist, ob Phils Vater bloß ein notorischer Paranoiker ist und Vetter Alvin ein hysterischer Heißsporn. Alvin verkracht sich mit Vater Roth und geht nach Kanada, um gegen die Nazis zu kämpfen. Als Krüppel kehrt er zurück. Phil, der mit dem Verbitterten nun das Zimmer teilt, wird lernen, ihm den Beinstumpf zu versorgen. Phil (und den Lesern) bleibt da nichts erspart. Sandy kommt durch eine Art Kinderlandverschickung ins tiefe Kentucky. Der städtische Schmächtling kehrt als kraftstrotzend Landbegeisterter heim und wird - dank Tante Evelyn, die mit Rabbi Bengelsdorf, dem Berater Lindberghs, liiert ist - zum Propagandisten einer Zurück-aufs-Land-Organisation der Regierung.
Phil hat derweil andere Sorgen: Er will den kleinen Seldon Wishnow loswerden, der verzweifelt um seine Zuneigung buhlt. Er schlägt seiner Tante die Wishnows zur Landverschickung vor. Damit wird er seinen Teil zur Katastrophe beitragen. Derweil kommt die Repression schleichend, sozusagen "amerikanisch": Das Programm der Zerstreuung der Juden aus den städtischen Zentren übers platte Land wird von Behörden nicht durchgesetzt, die Firma stellt ihre Mitarbeiter lediglich vor die Alternative: Mittlerer Westen oder Kündigung. Hermann Roth kündigt und schleppt fortan Lasten im Großmarkt. Die Wishnows aber können sich nicht wehren. Selbst wenn es später zu den Pogromen kommt, wird der zeitgeschichtlich reale Horizont kaum überschritten: Was geschieht, unterscheidet sich nicht von der damals alltäglichen Gewalt gegen Schwarze.
Der Antisemitismus, wie ihn zum Beispiel Familie Roth in einem Hotel erfährt, war ebenso real. (Annemarie Schwarzenbach hat damals darüber in die Schweiz berichtet.) Nicht zu vergessen die Kommunisten-Paranoia. Zwar scheut Roth nicht, den Anteil jüdischer Gangster am wohlfeilen Stereotyp des Antisemitismus zu erinnern, seltsamerweise aber ist von den amerikanischen Kommunisten, die als jüdisch gelenkt galten, kein Wort. Dennoch kann man den Roman als intensiv verlebendigte Zeitgeschichte lesen. Ja, es macht gerade das Bestürzende aus, dass Roth kaum etwas erfinden - schon gar nicht: verzerren - muss. Und was er in dokumentarischem Duktus als NS-Propaganda über USA und Juden zitiert, entspricht ohnehin exakt dem deutschen Wahn. (Die Erpressung Lindberghs durch die Nazis - die Roths Roman unterstellte "Erklärung" - ist übrigens tatsächlich als eine von mehreren paranoiden Hypothesen angeführt.)
Gegen Ende wird der politische Strang im Plot zunehmend hastiger abgespult. Wohlmeinend kann man darin die Gewalt-Eskalation gespiegelt sehen, eher aber wirkt es ungeduldig, weil über die Familie inzwischen alles Wesentliche gesagt ist. Die latente Furcht, von der Roth eingangs spricht, bedarf - zumal bei einem Kind - nicht der radikalisierten Politik, um hervorzubrechen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob der Vater sich mit seinem Neffen, wegen dessen Amouren zerstreitet oder weil der unbedingt mit der Waffe kämpfen will. Ob ein begabter jüdischer Junge Reklameplakate für eine Versicherung zeichnet oder für ein antisemitisches Politikprogramm, das macht viel aus. Und es bedarf zwar des Antisemitismus nicht, damit jüdische Kinder wie alle anderen Kinder Angst haben, aber wenn nun ein Zehnjähriger 14 Autostunden von den nächsten Bekannten entfernt in der ländlichen Isolation alleine ist und seine Mutter kommt nicht mehr heim, weil sie dem antisemitischen Mob zum Opfer fiel: Was ist das dann für eine Angst?
Doch Philip Roth insistiert damit nicht auf der exklusiven Angst von Juden. Auch wenn sein Werk seit geraumer Zeit zunehmend das spezifisch Jüdische im "Amerikanischen" und gegen es reflektiert, ist diese Was-wäre-wenn-Geschichte zugleich ein spezifisches Exempel dessen, was rassistischer Wahn und populistisches Machtkalkül überall im Leben der Einzelnen anzurichten vermögen. Selbst hier bringt Roth noch eine weitere Ebene ins Spiel: Unwiderruflich bricht die Politik in die Biographien ein, die Wege der Einzelnen sind deshalb nicht unwiderruflich. Alvin, der Freiheitskämpfer, endet als Gangster-Laffe, Sandy hilft dem Vater, Seldon zu retten und Phil wird einige Wochen lang Seldons "Prothese" sein. Und schließlich noch eine letzte, so insgeheime wie offenbare Utopie: Solange die Mutter da ist, wird alles gut.
Wenn sie ihn läsen, würde Roths Roman wohl auch die Kinder Lindberghs beeindrucken.
Philip Roth: Verschwörung gegen Amerika. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Hanser, München, Wien 2005, 432 S., 24,90 EUR
Rudolf Schröck: Das Doppelleben des Charles A. Lindbergh. Der berühmteste Flugpionier aller Zeiten - seine wahre Geschichte, Heyne, München 2005, 368 S., 19,90 EUR
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