Einmal habe ich Wolfgang Koeppen getroffen, 1982. Anlass war ein Interview, das ich, zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Karl Prümm, mit ihm führen wollte. Vorausgegangen waren Querelen um die Wiederauflage von Koeppens zweitem Roman Die Mauer schwankt von 1935, 1939 noch einmal erschienen unter dem Titel Die Pflicht, wovon Koeppen angeblich nichts wusste. Später stellte sich heraus, dass er den Titel selbst vorgeschlagen hatte. Karl Prümm hatte dazu im Schreibheft einen kritischen Aufsatz geschrieben, in den allerdings ein fataler Übertragungsfehler geraten war. Statt "nationalistisch" war nun "nationalsozialistisch" zu lesen. Fritz J. Raddatz, wie üblich halbinformiert, hatte Prümm damit zum Kronzeugen eines Rundumschlags gegen in den Nationalsozialismus verstrickte Autoren wie Koeppen gemacht. Koeppen war tief verletzt. Norbert Wehr, der sonst so skrupulöse Herausgeber des Schreibhefts, wiederum war tief unglücklich über sein Missgeschick und die fatalen Folgen. Ein Interview sollte Koeppen die Gelegenheit geben, seine Sicht der Dinge darzulegen.
Koeppen empfing uns nicht in seiner Wohnung, sondern in einem kleinen, kärglich möblierten Apartement. In einem Versteck, wie er es nannte. Zwei Krimis auf einem Klappbett, eine Schreibmaschine, daneben ein paar Blätter und eine Zeitung. Er bot uns einen einfachen Rotwein an und grummelte darüber, dass die Kapseln jetzt aus Plastik seien. (Den abgeschnittenen Deckel habe ich jahrelang aufgehoben. Irgendwann ist er verlorengegangen.) Koeppen war überaus freundlich, ging auf alle Fragen ein. Erschwerend aber war, dass er nahezu alle halbe Stunde einen Anruf bekam. Er stand dann immer auf, murmelte: "Eine Störung", ging nach nebenan, lauschte offenbar eine Weile, um dann - mal begütigend, mal ärgerlicher - zu sagen, dass er jetzt bei einem Interview sei. Nein, junge Damen seien nicht unter den Anrufern. Wir ahnten, dass da Frau Marion anrief. Danach war es stets schwierig, wieder ins Gespräch zu finden. (Einmal, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, kam allerdings ein Anruf, bei dem er so charmierend aufgekratzt war, dass es sich wohl doch um eine solche junge Dame handeln mochte).
Am Ende kam er auch auf seinen ausstehenden Roman zu sprechen: "Er spielt in der Gegenwart. Aber er hat auch keine Hemmungen, eine Szene aus der Vergangenheit mit hineinzumischen, als ob sie heute morgen passiert sei." Der Roman käme wohl endgültig im Herbst. Das sei ja die günstigste Zeit. Das gehe heute alles ganz schnell, es gäbe Druckstraßen, habe Unseld ihm gesagt, die machten das von einem Tag auf den anderen. Unheimlich. Er wolle das nicht entscheiden müssen. Jeden Monat so viele Bücher - und dann warte Unseld ausgerechnet auf seinen, Koeppens Roman! Das Interview hatte zwar allerlei Kolorit aus der Zeit vor 1945, aber keine Sensationen zutage gebracht. Wie auch? Koeppen war ein Virtuose der Umgarnung und sanften Ablenkung. Und nachdem er unsere Bearbeitung der Transkription selbst noch einmal überarbeitet hatte, war es vollends geglättet. Immerhin glaubte ich nun, Koeppens Zuversicht im Ohr, ebenfalls fest daran, dass der neue Koeppen, wenn vielleicht nicht im Herbst, so doch im Frühjahr darauf bestimmt käme.
Daran erinnerte ich mich jetzt wieder, als ich den Briefwechsel zwischen Unseld und Koeppen las. Von außen besehen war ja kaum zu glauben, dass ein so beschlagener und gewiefter Verleger über 30 Jahre getreulich an den neuen Koeppen glauben sollte - so getreulich, dass er ihm nie gram wurde, sondern ihn alimentierte, um sich bis zum Schluss - noch im letzten Brief vom August 1995 - anzuhören: "... ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht."
Natürlich war Unseld irgendwann dazu übergegangen, die gemeinsame Fiktion nobel aufrecht zu erhalten, so, wie Koeppen wohl umgekehrt glaubte, ihm das fortwährende Versprechen schuldig zu sein. Man muss ihn bewundern, den Verleger, der 1959 einmal guten Mutes gewesen war, Koeppen vom Goverts Verlag zu übernehmen und aus seiner Schreibkrise zu befreien. Der dann Jahr für Jahr geduldig die Vertragsprobleme hinnahm wie die nachdrückliche Versicherung: "Ich bin es also, der den Roman schreiben will, der ihn jetzt schreiben will, der ihn im Herbst herausbringen möchte", so im Mai 1961. 1972 konnte Unseld dann endlich den Generalvertrag unterzeichnen und bekam bei dieser Gelegenheit feierlich das Du seines Autors angeboten. Und zu seinem 65. Geburtstag, 1989, war von Koeppen zu lesen: "Du sollst neunzig werden [...] mein Freund und Hüter meiner Bücher, wenn ich längst begraben bin. Doch treibe ich es in meiner Phantasie noch in mindestens zwei Romanen."
Anfänglich gibt Unseld noch Rat, empfiehlt Koeppen Max Frischs Trick beim Umgang mit Schreibschwierigkeiten. Selbst die unmissverständlichste Formulierung ist noch nobel: "Du suchst immer nach einer ökonomischen Basis, die nicht die deine ist, und das, lieber Wolfgang, ist eben falsch, weil unrealistisch. Ich habe Dir immer wiederholt: sobald der neue Roman vorliegt, ändert sich auch Deine materielle Situation. [...] Hat Marion recht behalten [...], dass Du dann erst schreiben würdest, wenn Du von nirgendwoher auch nur eine Mark bekämst?" Koeppen bekam weiter Geld von Unseld. Und der weiterhin - unter wechselnden Titeln - keinen neuen Roman von Koeppen. Dafür aber immer mal wieder dramatische Schilderungen der Situation. Danach war Marion seine Situation. "Exzesse, Alkohol, Tabletten, Wahnsinn, Depressionen, Kämpfe, Zerstörung, Flucht, suchen, durchwachte Nächte und Tage. [...] Im Hotel Explosion, Ringkämpfe am Boden um einen Koffer voll Flaschen, Haß, Trostlosigkeit, Gotteshader, Todesverlangen."
So, im Stakkato seiner literarischen Texte, die Begründungen, wenn es wieder einmal nichts geworden war. Oder er verwünschte die Kritiker, die ihn tief verletzt und arbeitsunfähig gemacht hatten. Einmal, 1974, bietet Koeppen auf die ihm eigene kryptische Weise die Um-, ja Neubearbeitung eines alten Manuskripts an. Deutet an, mystifiziert. Es handelt sich um Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, der Bericht eines jüdischen Überlebenden, den Koeppen 1948 so bearbeitet hatte, dass er 1992 unter seinem Namen erschien. Erst eine kritische Ausgabe 2002 konnte zeigen, dass Koeppen dabei kein großer Wurf gelungen war; allzu sehr hatte er sich in seine Mystifikationen verstrickt.
Über alledem bleibt doch auch festzuhalten, wie dabei gleichsam klandestin Koeppens Werk fortgeschrieben wurde - in den Neuauflagen seiner Romane der dreißiger und fünfziger Jahre, jene "Trilogie" der Nachkriegsjahre, die seine Fama begründet, seine Reisebücher nicht zu vergessen. Dazu aber auch alle die Gelegenheitstexte, die Unseld Koeppen nebenher abluchste oder die dieser ihm nicht verweigern mochte - vom Nachwort zu Rumohrs Geist der Kochkunst bis zum Vorwort zu einer Sammlung deutscher Märchen.
Und schließlich Jugend, Kondensat eines stets um die eigene Biografie kreisenden Werks, dem sich der neue, große Roman nicht zugesellen wollte, weil die Mystifikationen, die als Gespinst den Lebensalltag des Autors zusammenhielten, hier nicht taugten. Jugend, dieser intensivste und vielleicht bedeutendste unter den Koeppenschen Texten, zeigt aber auch, wie sehr der Autor laborierte. Der ebenso materialreiche wie klug kommentierte Katalog unter dem Zitat-Titel Ich wurde eine Romanfigur dokumentiert, wie Koeppen schon beim ersten Satz immer wieder neu ansetzte: "Meine Mutter fürchtete die Schlangen", "Deine Mutter fürchtete die Schlangen", "Seine Mutter fürchtete die Schlangen." Als das Büchlein dann tatsächlich da war, beschwerte sich Koeppen umgehend beim Verleger, dass die Münchner Buchhändler es nicht auf dem Tisch der Neuerscheinungen führten.
"Ich bitte um ein Wort...", Der Briefwechsel Wolfgang Koeppen - Siegfried Unseld, Frankfurt a.M., Suhrkamp 2006, 584 Seiten, 24, 80 EUR
"Ich wurde eine Romanfigur". Wolfgang Koeppen 1906 - 1996. Von Hiltrud und Günter Häntzschel, Frankfurt a. M., Suhrkamp 2006, 176 Seiten, zahlr. Abb., 25 EUR
Wolfgang Koeppen: Ich? Porträts von Nomi Baumgartl. Selbstaussagen, ausgew. v. Sybille Brantl, Weitra o. J. (1997), 128 Seiten, zahlr. Abb., 37 EUR
Günter u. Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, 7,90 EUR
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