Ein Schrumpfkopf erzählt

Literatur Jan Koneffke schickt mit feiner Komik ein koloniales Objekt auf Reise durch Welt und Zeit. Das ist groß!
Ausgabe 41/2020

Als der deutsche Weltreisende Richard Katz Ende der 1920er Jahre im Amazonasgebiet einen Tsantsa, also einen Schrumpfkopf kaufte, wusste er, dass das streng verboten war. Denn die Regierung befürchtete zu Recht, dass das Interesse der europäischen Touristen das Morden unter den Indigenen befeuern würde. Allein ein weiblicher Tsantsa war ja schon Beleg dafür! Doch das Interesse am wohl gruseligsten Exotikum bestand da bereits seit dem 19. Jahrhundert. Unzählige Schrumpfköpfe fanden den Weg nach Europa, in private Ausstattungen, Wunderkammern und wissenschaftliche Sammlungen. So hat justament das Pitt Rivers Museum in Oxford beschlossen, über Hundert davon aus seiner Ausstellung zu nehmen. Insofern ist es gar nicht so abwegig, einen Schrumpfkopf ins Zentrum eines Romans über die kolonisierende Welt zu stellen. Singulär freilich ist dieser Tsantsa auch unter seinesgleichen: denn er kann wahrnehmen, denken und sprechen, obwohl ihm doch Hirn und sonstige Voraussetzungen fehlen. Sprechen kann er allerdings erst, als ihm ein Affe den zugenähten Mund öffnet. So kann er später, sehr, sehr viel später seinen Weg von Südamerika nach Europa und dort durch zahllose Länder und Städte, zugleich durch die Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur jüngsten Gegenwart diktieren, die wir nun in den Tsantsa-Memoiren von Jan Koneffke vorliegen haben.

Jan Koneffke hat bisher neben Gedichten hochgelobte Romane geschrieben, die sich an die eigene Familiengeschichte hielten und darin die Zeitgeschichte spiegelten, dabei aber auch alle Züge seiner großen Fabulierkunst zeigten: Eine vergessene Geschichte, Die sieben Leben des Felix Kannmacher, Ein Sonntagskind. Hier begibt er sich nun auf ein wahrlich weites Feld. Doch auch hier, wo es vollends fantastisch zuzugehen scheint, gründet er auf dem Boden seiner Ortserfahrungen, sei es Südamerika, seien es Berlin, Rom, Bukarest oder Wien.

Was der Rationalist nicht rafft

„Sie haben ein Seelenleben und Sie erinnern sich. Reize dringen in Sie ein, mittels Augen und Ohren, die sie geistig empfangen und verarbeiten. Das heißt, Monsieur, Sie sind ein geistiges Wesen. Und um ein geistiges Wesen zu sein, braucht man ein Gehirn, das aus Nervengeflechten, Gewebezellen und funktionellen Bereichen besteht …“ Was der Rationalist nicht raffen kann, das nimmt man davon lesend gebannt hin. Tatsächlich, aller Sinne und des Körpers beraubt, erinnert sich dieser Körperlose in geradezu unheimlich sinnlicher Plastizität und Intensität derart an die Körperlichkeit der Welt ringsum, an Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen und Unmenschen, Gerüche, Geräusche, Farben und Formen, dass das allein schon die Lektüre zum Faszinosum macht. Doch erst die Erlebnisse, die er zu erzählen hat! Sie führen ihn von Caracas aus durch ganz Europa, durch Metropolen wie Rom, Paris, London, ebenso nach Wien und Bukarest, Frankfurt und Berlin, wie Hermannstadt, Kronstadt, Erlangen und Bamberg. Das geht – ganz ohne Wikipedismus, vielmehr in atmosphärisch dichten Episoden – durch Klassizismus, Romantik, Vormärz und Nationalismus. Nach und nach über ein Dutzend Besitzern ausgeliefert, bleibt er deren Willkür oder Fürsorge, Rohheit oder Feingefühl ausgeliefert, wird vorgeführt oder verheimlicht, malträtiert, getreten, beinahe ins Feuer geworfen, jedenfalls bepinkelt. Er, der zwangsweise Asexuelle, dient der sexuellen Selbstbefriedigung. Vor allem aber ist er der Eitelkeit, den Marotten und Gefühlsausbrüchen seiner mit ihm prahlenden oder seine Fähigkeiten schamlos ausnutzenden Besitzern ausgeliefert. Und ist doch meist loyaler Diener, ein „Condottiere of the Pen“. So dichtet er ein Spottlied auf Lola Montez, das seinen Besitzer berühmt, aber auch als Demagogen berüchtigt macht, hält eine flammende Rede in der Paulskirche, wie er späterhin populäre Rocksongs verfasst. Er verhilft seinen Herren zu wissenschaftlichem Renommee, zu Spiel- und Börsenglück. Dabei durchläuft er Wunderkammer, Freakshow, Völkerschau, Zirkus, wissenschaftliche Sammlung ebenso wie Abenteuer-, Schauer-, Tendenz-, Bildungs- und psychologischen Roman. Er bekommt Namen angehängt, gegen die er sich nicht wehren kann – Peewee, Petit Coquin, Hugo, Tato, Fitzko. Schließlich wird er gar, nun schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in Wien, in eine elend lange Psychoanalyse gesteckt. Sein Therapeut schreibt darüber eine Abhandlung, in der er ihm den Namen Melchior gibt. Deren Publikation stürzt den Therapeuten freilich ins Unglück. Denn allzu abenteuerlich erscheint das alles. In dieser Analyse nun begegnet er, der Tsantsa, seinem „Vor-Ich“, das ihn so entsetzt, dass er mit dem partout nichts zu tun haben will. „Meine Herkunft mit Elternhaus, Kindheit und Heimat war nur um den Preis eines Menschen zu haben, der mir in seiner Vermessenheit wesensfremd war. (…) Ich wollte das Ich meines Vorlebens loswerden und schleunigst aus meinem Bewusstsein vertreiben.“ Denn das, was sich zuvor immer wieder andeutete, wird in den Protokollen des Psychiaters Gewissheit: Er ist kein indigener, sondern ein weißer Schrumpfkopf. Der Kopf des Augsburgers Simon Dryander, der als Landsknecht mit den spanischen und deutschen Eroberern wütete, plünderte und missionierte. Zwiefach exzentrisch also und daher untot. Ein anderer Ahasver. Wo der „Ewige Jude“ wegen Blasphemie verdammt war, ist er es, weil er sich gegen Natur und Mitwelt verging. Darum geriet er, zuvor Subjekt der Kolonialisierung, als Objekt in die Welt jener, die durch Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus, Eugenik und so fort entwürdigt, erniedrigt, ausgegrenzt, misshandelt oder getötet wurden und werden. Dabei erscheinen die Zeiten von Aberglauben und Magie um einiges humaner als die der sezierenden Wissenschaften. Dabei verspürt er zwar keinen Schmerz, aber ihm wird klar, dass man ihm nun keine „unheilbringende Wirkung und Macht“ mehr zuschreibt, er nur mehr eine nutzlose, schwache Sache ist. Zumal die Tsantsas inflationär werden, nun auch Frauen und Kinder auf den begierigen Markt kommen.

„Wo war mein Platz in der Welt, wenn nicht in dieser Ansammlung schauriger Wesen, die von einem Landstrich zum anderen reisten?“ – hatte er sich gefragt, ehe er von seinem „Vor-Ich“ erfuhr. Zwar findet er in der jüdischen Familie Merunka humanere Aufnahme als zuvor, ja, für deren Tochter Betty, die mit ihm aufwächst, wird er zum Partner in einer geradezu symbiotischen Beziehung wechselseitigen Verstehens, aber durch Zufall wie Zeitläufte gerät er nun auf die entgegengesetzte Seite, wird Teil der Sammlung eines SS-Manns. Zu deren nicht weniger als 200 Schrumpfköpfen kommen dann schaurigerweise noch solche, die frisch im KZ eigens hergestellt worden waren.

1945 zur Stasi, 1990 befreit

Nach 1945 geht sein Schicksal weiter: Er kommt über den NKWD in die Hände der Stasi, die ihn zu Spionagezwecken benutzen will. Doch, belehrt ein Major, ein sprechender Schrumpfkopf „steht im Widerspruch zu den Maximen und Prinzipien des wissenschaftlichen Materialismus“. Freilich hat der persönliche Interessen, war er doch zuvor Kamerad des SS-Manns gewesen. So landet der Tsantsa hinter Stahlwänden in der Asservatenkammer. Erst im Januar 1990 wird er daraus befreit. Nun wird er zum Talisman eines DDR-Bohemiens. Später muss er noch eine Auktion überstehen, um schlussendlich, das kann man ruhig verraten, wieder in Bettys Familie in Wien zu landen. Deren Urenkel wird seine Geschichte, ergänzt um eben den Bericht des Analytikers und Auszüge aus Bettys Tagebuch – mithin die beiden einzigen Außensichten auf ihn –, aufschreiben. So wie wir es nun zum Nachlesen vorliegen haben.

Diese Welt aus Neugier und Grausamkeit, Wissensdrang und Triebverblendung ist mit starker Drastik und immer wieder feiner Komik erzählt. Der identitären Eindeutigkeitseinfalt setzt sie eine schier unendliche Vielfalt und Ambiguität entgegen. In überbordendem Einfallsreichtum, stets gebändigt durch kenntnisreiche Präzision, entsteht so eine ungemein episoden- und facettenreiche Geschichte der äußeren und inneren Kolonialisierung, der Displazierung, Objektivierung und Verdinglichung, gegen deren Übermacht vielleicht am Ende nur die Hoffnung der Literatur besteht. Es wäre das die Auskunft nämlich, die Ahasver bei Wilhelm Hauff auf die Frage, wie lange es denn noch zur erlösenden Ewigkeit sei, von Satan erhält: „Es will Abend werden.“

Dieser Tsantsa kann nicht, wie es das Oxforder Museum gerade unternimmt, zurückgegeben werden, an wen auch immer. Er wird füglich bei denen bleiben, die seine Geschichte gelesen haben. Dafür sieht man auch gern nach, dass das Buch kein Lesebändchen hat.

Info

Die Tsantsa-Memoiren Jan Koneffke Galiani 2020, 557 S., 24 €

€ 4,95 statt € 14,00 pro Monat

nur heute am Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden