Einsichten eines Snobs

Neuauflage 1969 erschien der Roman „Roter Winter“ zum ersten Mal. Aus ungewohnter Perspektive zeichnete die Feuilletonistin Annemarie Weber ein klares Bild ihrer Zeit
Ausgabe 13/2015

Wie 68 war, haben wir uns von Peter Schneiders Lenz und Uwe Timms Heißer Sommer erzählen lassen. Man hätte es schon 1969 lesen können, in Annemarie Webers Roter Winter. Doch stattdessen las man damals Enzensberger, Handke, Wondratschek, Cleaver, Ginsberg oder Selby, wenn man nicht Habermas, Marcuse oder Sagers und Rillings Buch über die NPD las. Lili Abelssen, die Protagonistin von Webers Roman, las zum Beispiel Marx, Mo, Brecht und Gorki. Als der Roman erschien, las Christa Rotzoll ihn in der Frankfurter Allgemeinen als „Frauenroman“ und der Spiegel als Produkt “eines „eines sehr gediegenen Damenfeuilletons“.

Ja, die 1918 geborene und 1991 gestorbene Annemarie Weber war eine Dame. Ja, sie war eine populäre Feuilletonistin. Erfolgreich auch als Modejournalistin. Zusammen mit Rudolf Lorenzen, ihrem damaligen Mann, war sie eine flamboyante Figur im Westberliner Kulturleben jener Zeit. „Ihre Freundschaft und Großzügigkeit wurden geschätzt. Annemarie Weber und Rudolf Lorenzen inszenierten sich als glückliches Paar in einer offenen Ehe“, erzählt ihr Enkel Robert Weber. Sie waren Teil des radical chic. „Das Paar politisierte sich auch, Bilder von ihrer Beteiligung an Demonstrationen zierten den Flur.“ Und um eben ein solches Paar geht es in Roter Winter. Lili Abelssen, vormalige Lewinsky, hat – wie Annemarie Weber – zwei Söhne. Sie schreibt, makelt Häuser und managt Modenschauen. Ihr Mann Richard ist, wie Rudolf Lorenzen, ein Werbefachmann. Zwischenspiele einer Ehe lautete der Untertitel. Beide haben außereheliche Beziehungen, Lili aber treibt es in Richards wie den eigenen Augen zu weit, indem sie sich nacheinander mit zwei Revoluzzern einlässt, die beide nicht ihr Genre waren.

Bei abendlichen Kartenspielen und reichlich Alkohol erzählt sich das Paar sein Leben um, simulieren sie die denkbar bösesten Wendungen über Trennung hin zum Tod. Gnadenlose verbale Kämpfe wie tiefste Vertrautheit und temporärer Trost in der schließlichen Erschöpfung. Das hebt den Roman durchaus auf die Ebene von Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf?. Doch nicht das ist es, was eine Wiederlektüre empfiehlt. Sondern die ungemein dichte, in ihrer sprachlichen Eleganz weit von tristem Naturalismus entfernte Darstellung des Westberliner 68er-Jahrs, eine, die an Komplexität und Nuanciertheit weit über all die gewohnten Erzählungen hinausgeht. Eben weil es der Blick aus der Perspektive nicht von „68ern“, sondern der aus ihrer routinierten Saturiertheit verlockten, älteren Schickeria ist. Weber wie ihre Figur sind damals 50. Die Abelssens sind adabei und mittendrin. Sie marschieren bei den Demos vorneweg, mit sorgfältig ausgewählter Kleidung. Sie erfinden Slogans, sie protestieren vor dem Axel-Springer-Haus und gegen die Hatz auf Rudi Dutschke.

Sie empören sich über die NPD-Berliner und öffnen ihr großzügiges Haus für Revoluzzerpartys, ziehen durch die einschlägigen Kneipen, kümmern sich um ein kollektives Kinderkino und lassen sich auf die endlosen Klassenkampfdiskussionen ein. Der Spiegel mäkelte seinerzeit allerdings: „Doch die Unruhen der Politik besagen für diesen Roman kaum mehr als, andererseits, die Schönheiten einer mondänen Welt.“ Und so gehöre „Dutschkes Kampf“ wie „etliche Konsum-Feinheiten“ lediglich zur „Bühnenausstattung“. Aber ebendies macht den Roman heute so interessant.

Ja, die Abelssens sind Snobs, das wissen sie selbst. Aber gerade ihre Lebenserfahrung, die einer Kriegsgeneration, und ihre ästhetizistische Mondänität wirken wie ein Katalysator für Sprüche und Widersprüche. Sie vertreten die bürgerlichen Werte von Liberalität, Individualismus, Stil und Bildung als souveräne Resistenz gegenüber den Unterwerfungsgeboten der autoritativen, rechthaberischen und herrschsüchtigen Positionen der Politisierenden.

Nicht dass es keine Verführung dazu gäbe: Der Roman ist grundiert von einer auch erotischen Unterwerfungslust und Demütigungsverlockung. Die beiden angeblichen Revolutionäre, Losch als einer der Tat, Stikker als einer der Worte, sind nicht nur körperlich unattraktiv, sondern auch sonst entschieden unkultivierter als der Ehemann. Lili Abelssen genießt leidend deren Zurückweisungen und Missachtungen, wie sie freilich dann auch von deren banalen Besitzansprüchen und jammernden Liebesschwüren abgestoßen wird. Der Roman ergründet so unter anderem, was damals theoretisierend vorgebracht wurde, die Verquickung von Individual- und Sozialpsychologie. Freilich geht er darin radikal über den billigen Konsens von liberalem Bürger- und linkem Revoluzzertum gegen den „kleinbürgerlichen“ autoritären Charakter, gegen das politisch brisante Duckmäusertum der besorgniserregend erstarkenden NPD-Wähler und der dumpf-reaktionären Proleten-Spießer hinaus. Indem er nämlich die Verquickungen der selbsterklärten Revolutionäre mit dem zeigt, was sie bekämpfen. Eine Einsicht, die den Selbstbeobachtungen und -zweifeln einer bohemistischen Intelligenz entstammt.

Ebenso viel wie die Erregungen der Politik bedeuten daher das eigene Begehren, die Versuche, eine sogenannte liberale, offene Ehe zu führen, die Kinder zu erziehen, Musik, Getränke und Spiele auszuwählen und sich auf alles einzulassen, was über die jeweiligen Einsinnigkeiten einer sei es politisierten, sei es ästhetizistischen Existenz hinausgeht. Die neugierige Offenheit Lili Abelssens, wie die des Romans selbst, lässt die damalige Zeit in einer verdichteten Vielfalt wiedererstehen, wie es ein heutiger, um historische Rekonstruktion bemühter Roman kaum könnte.

Das betrifft nicht einmal zuerst die politischen Vorgänge und Diskussionen mit ihren vielfältigen Protagonisten und Positionen, die Atmosphäre der unentwegten Erregtheiten, die derart wiederauflebt, sondern mehr noch die kulturellen Details und Momentaufnahmen, die man von heute aus nicht mehr als widersprüchlich, sondern als eine bemerkenswerte Vielfalt wiedererinnert. Man nehme nur die anzitierte Musik, die Beatles neben Ravel, Schlager neben Mozarts Klavierkonzert in d-Moll, Yvette Gulbert neben Walzern von Chopin.

Wer wie Lili neben dem politisch Approbierten von Mao bis Brecht einen Roman wie Valentin Katajews Die Defraudanten, 1926 erschienen, liest, worin zwei Sowjetbürger im Suff Staatsgelder unterschlagen und mit denen eine aberwitzige Reise absolvieren, sieht eben auch im bitteren Ernst die burlesken Seiten des Revolutionsgebarens. Man kann diesen Literaturverweis geradezu als einen Schlüssel für Rote Winter selbst nehmen. Freilich ist dieser Roman (allein schon im Wissen um den weiteren Fortgang der Sowjetunion) stärker durchwirkt von der Elegie auf eine bedrohte und an sich selbst scheiternde, dem Geist einzig angemessene Lebensform – und darin wiederum Heinrich Heine nahe, den Lili neben dem politisch verpönten Benn nutzt, um ihr Verhältnis zum schmierigen Sozialrüpel Losch zu kommentieren:

„Ach, die Sterne

Sind am schönsten in Paris,

wenn sie dort des Winterabends

in dem Straßenkoth sich spiegeln.“

Schließlich sind da die unentwegten Kneipengespräche, der permanente Alkohol; Abelssens haben schon deshalb kein Auto, weil sie sonst besoffen fahren müssten. Und in gewisser Weise funktioniert der Roman denn auch nach der alkoholischen Kippfigur: die Realität zu steigern und ihr die Spitzen zu nehmen.

Info

Roter Winter Annemarie Weber Aviva 2015, 352 S., 19,90 € Der vorliegende Text von Erhard Schütz ist eine überarbeitete Fassung des Nachworts zur Neuauflage von Roter Winter

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