Erhard Schütz: Vorsicht vor dem Illustionsgenerator falscher Gewissheiten
Sachlich Richtig Was er alles nicht weiß, erfuhr unser Kolumnist Professor Dr. Schütz bei der Auswahl der Sachbuch-Tipps des Monats. Er lädt uns ein: Lesen und über Wissengrenzen hinauswagen!
„Ist das Böse nackt oder das Nackte böse?“ – Konrad Paul Liessmanns Kolumnen sind wahre Meisterwerke
Foto: IMAGO/agefotostock
Die Märzrevolution 1848 ist nun 175 Jahre her – und füglich gibt es allerlei Büchernes dazu. Am monumentalsten und vom Feuilleton gefeiert, Jörg Bongs Die Flamme der Freiheit (KiWi, 2022). Es gibt aber auch lohnenstwerte Seitenstücke zu besichtigen: Ludwig Reinhard (1805-1877) war einer der Abgeordneten (aus Mecklenburg) der ersten Nationalversammlung. Ein aufrechter Demokrat, der dafür büßen musste. Nach dem Scheitern der Demokratiebewegung wurde er als Schulrektor entlassen und musste von dem leben, was er zuvor schon nebenbei getan hatte: schreiben. Begonnen hat er als wackerer Satiriker in der Tradition Heinrich Heines, überdeutlich im Reisebericht Scherben (1839) etwa oder Schwerin, ein Sommermärchen (1846). 1847 lautete sein Cre
6). 1847 lautete sein Credo, nur solche Dinge zu bringen, „die zu den Fragen der Gegenwart in freundlicher oder feindlicher Beziehung stehen“, ob groß oder klein, „wenn es zugleich das Bild der Zeit widerspiegelt“. 1850 setzte er hinzu, dass gerade in Zeiten der Not Spaß und Spott als „altes gutes Recht verbleiben soll und muß. Es giebt Dinge, die ohne Pfeffer nicht zu genießen sind; und die lachende Verhöhnung ist eine ebenso gute Waffe als der fromme Stoßseufzer verhagelter Petersilien“. Nach der Reichsgründung geriet er, wie so viele der sich treu gebliebenen 48er, in Vergessenheit. Es ist nicht minder wacker, ihn der zu entreißen und ihm ein Denkmal zu setzen. Hartwig Suhrbier hat das getan. Er hat nicht nur Reinhards Biographie rekonstruiert, sondern sein Buch auch mit Reinhards Texten reichlich angereichert. Beides lohnt.Ein erklärender Zeitgenosse ist oft ein Zeitverdrossener. Da ist es nicht die geringste Leistung, die „undankbare Sache“ der Zeitgenossenschaft mit durch Klugheit und Selbstreflexion fundierter ironischer Distanz noch im Ärger zu betreiben, geduldig, wissend, dass sie bedeutet, „sich tastend dem anzunähern, was die Zeit, in der man lebt, ausmachen könnte“. Konrad Paul Liessmann ist solch Zeit- und Zeitungsgenosse. Seine Kolumnen aus den Jahren 2016 bis 2022 für die NZZ, die Kleine Zeitung oder die Wiener Zeitung (die nun das Zeitliche segnen soll), hat er sortiert zusammengestellt, sodass man durch seine die eigene Zeitgenossenschaft prüfen und ihr aufhelfen kann. Lügen, Moraltrompeten, Sozialbeziehungen, Wertewandel, nicht ohne Blick auf Pandemie und Klimawandel – jeweils in vielfältigen, kleinen Denkszenerien vorgeführt.Gleich der erste Text ist ein Musterstück. Nackte Wahrheit überschrieben, denkt er über die biblische Nacktheitsscham nach dem Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. „Ist das Böse nackt oder das Nackte böse?“ – Um bei dem Gedanken zu landen, dass Adam und Eva schlicht sahen, dass sie hässlich waren. Woraus für unsere Gegenwart folgt ... – aber das lese man selbst nach. Das ist bei Liessmann nie Rechthaberei, sondern stets entschiedenes Bedenken, an dem man das seine ausbilden kann.Mehr Wissen, um weniger zu wissenA. C. Grayling, Direktor des New College of the Humanities in Oxford, hat über 30 Bücher zu Themen von Philosophie bis Zeitgeschehen, Geschichte bis Wissenschaftlichkeit geschrieben. Sein jüngst erschienenes, befasst sich mit einer Art Paradox: Wie wir durch immer mehr Wissen immer mehr nicht wissen. Nicht nur, dass wir wissen, dass wir vieles gar nicht wissen, sondern auch, wie durch die Entwicklung von ehedem glaubensbasierten Gewissheiten hin zu wissensgesättigter Ignoranz ein immer differenzierteres Wissen zum Illusionsgenerator falscher Gewissheiten wird. Grayling listet zunächst 12 Probleme der unzureichenden Wissenserzeugung auf. Vom „Nadellochproblem“ über irreführende Analogien und Bilder (Metaphernproblem) bis hin zum Wunsch, zu einem Ergebnis zu kommen (Abschlussproblem), um dann dafür zu plädieren, sich über die Grenzen des eigenen Wissens hinauszuwagen. Sein Buch demonstriert das selbst.Nach den grundsätzlichen Überlegungen geht er drei wahrlich große Gebiete an: Naturwissenschaften, Geschichte und Gehirn/menschlicher Geist. Die kann man als Ein- und Heranführungen, als informative Kompendien der jeweiligen Wissensentwicklungen und jeweils gegenwärtigen Diskussionsstände lesen. Eine nachdrückliche Ermunterung, im ständigen Wissen um die Wissensgrenzen „vorbereitet weiterzugehen“.Nichwissen hin, Wissen her. Müssen ist ein Muss. Aber muss man auch alles über Toiletten wissen müssen? Wenn es so originell und umfassend ist wie hier, wird es selbst zum Muss. Früher meist öffentlich in Gesellschaft, später möglichst privat, allein mit sich. Von Grube bis Nachttopf, Plumpsklo bis Hightech oder Kunstobjekt. Von der Antike bis in alle Welt heute. Öfters auch Kurioses. Aber auch das fügt sich in eine durchaus seriöse und horizonterweiternde Kulturgeschichte, die obendrein durch ihre immensen Abbildungen beeindruckt. Gut für viele Sitzungen!Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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