Im Gefolge von Sebastian Haffners postumem Bestseller Geschichte eines Deutschen legte der Hanser Verlag vor einigen Monaten Feuilletons nach, die während der Jahre 1933 bis 1938 in der renommierten, 1934 von den Nazis eingestellten, liberalen Vossischen Zeitung, in deren tief konservativem Gegenstück, der Deutschen Allgemeinen Zeitung, aber auch im Unterhaltungsmagazin Koralle und in den Mode- und Lifestyle-Zeitschriften, wie Die Dame und Die neue Linie erschienen sind, dazu auch einige unveröffentlichte. Als ein "Lesevergnügen, wie man es sonst nur von Kerr und Polgar kennt", werden sie uns angepriesen. Ist Haffner demnach nicht nur der begnadete Polemiker und pointierte Geschichtserzähler, sondern obendrein auch noch Spitzenfeuilletonist?
Nun, man kann zumindest den Feuilletonisten derzeit gut vergleichen. Nachdem die sechs Auswahlbände, die Ulrich Weinzierl unter dem Namen von Marcel Reich-Ranicki bei Rowohlt hatte in den achtziger Jahren herausgeben dürfen, längst vergriffen sind, liegt nun im schweizer Verlag Kein Aber ein Polgar-Lesebuch vor. Harry Rowohlt hat die sechs Bänden komprimiert zu einer Art Best of - as seen by. Tatsächlich zeugt das Lesebuch von hohem Gespür für Spektrum und die Themen Polgars; da sieht man Harry Rowohlt die Ich-Schwadronage des Vorworts gerne nach. Der Bogen reicht zeitlich von Texten aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, wie dem mit seiner wohlfeilen Sozialkritik ein bisschen verlogenen Der verlogene Heurige, über die Berliner Jahre und die des Exils. Sie reicht bis hin zur Episode des unheimlichen Nachrufverfassers, zwei Jahre vor seinem Tod 1955 - mit dem beruhigenden Schlussgedanken, viel zu unberühmt für einen Nachruf in der amerikanischen Presse zu sein. Um so mehr Nachruhm bekam er hier. Aber es ging ihm dabei leider wie Lessing über Klopstock schrieb: "Wer wird nicht einen Klopstock loben?/ Doch wird ihn jeder lesen? - Nein./Wir wollen weniger erhoben,/ Und fleißiger gelesen sein."
Fleißig erhoben, aber recht ungelesen, wiewohl doch soviel lesbarer! Der Band hat wunderbare Stücke zu bieten und dermaßen viele, dass man sie nicht einfach am Stück weglesen kann, so hoch konzentrierte Lebensgeschichten es sind, käme das schnell einer Eiweißvergiftung gleich. Polgars Schriften sind tatsächlich ein Gutteil des von ihm vorgeschlagenen Sammelwerks zu einer Menschheit in Einzeldarstellungen. Dazu gehören nicht nur Menschen, sondern auch die Dinge, die nicht minder, ja, vielleicht belebter als viele von diesen es sind: "Die Lampe erlischt. Und nun werden die Dinge schamlos munter." Mit ihnen, vor allem mit dem, was wir Natur zu nennen pflegen, kann er bis zur Sentimentalität zärtlich sein, ohne dass sein Blick sich dabei trübte, wie umgekehrt er ins Gericht geht mit jenen, deren Menschenwille zum Beispiel im Krieg zum "Höllenreich" wird. Den Satz, nach dem 1. Weltkrieg Staatsmännern und Generalen ins Stammbuch geschrieben, "Verantwortung ohne Sühne, deren Ungeheuerlichkeit der Ungeheuerlichkeit jener entspräche, ist ein leeres Wort.", kann man an die Radunskis, Ackermanns und Essers von heute weiterreichen, von den Bushs, Arafats und Scharons ganz zu schweigen.
Wien und Wald, Sechstagerennen und Grüne Woche, Auto und U-Bahn, Hollywood und Riefenstahl - alles wird ihm zur Lektüre des Lebens. Fröhlich, schreibt er, seien nur die kleinen Kinder. "Dann kommen sie auf den Schwindel, und ihre Züge, die reine Zeichnungen waren, werden Schrift, schießen ineinander zu Chiffren hässlicher Erfahrung. Das Antlitz der Erwachsenen ist schon ganz Text ... fröhlich kann er keinen machen, der ihn richtig liest. Ja, Weltreisende wie ich lernen erkennen, dass das Leben, excepté les enfants, überall Protest gegen das Leben ist."
Als Polgar gehen musste, konnte die Generation Haffners nachrücken, "Nazi-Gewinnler", wie Haffner sich und seinesgleichen später charakterisierte. Was Haffner schreibt, ist nicht Kerr, geschweige denn Polgar. Haffner ist kaum schlechter, indes sehr anders. Das ist nicht Brillanz auf Krawattennadeln sondern aus elektrischen Lüstern; das verwebt sich nicht in Ambivalenzen sondern fintiert schneidig mit Paradoxien. Noch wo Haffner gegen preußische Tugenden der Ordnung, Pünktlichkeit und Zielstrebigkeit für Schlendrian, Faulheit und Saumseligkeit plädiert, tut er das wie ein preußischer Pflichtverteidiger. Man kann seine Feuilletons zwiefach lesen. Zum einen als kluge, gekonnte Causerien über die gute Einrichtung des Alltags und das angenehme Leben. Wo Polgar melancholisch sinniert, hat Haffner Sentenzen parat: "Weißwein ist eine Ermunterung zum Leben; Rotwein ist ein Ersatz für Leben." Zugleich aber sind es besonders nachdrückliche Dokumente jener unheimlich normalen Zeit.
Was man Walsers erinnerter Kindheitsprovinz in Ein springender Brunnen vorgeworfen hat, das komplettiert dieser ehrgeizige junge Mann für die Reichshauptstadt aus der Zeit selbst heraus: Ein NS-Staat scheinbar ohne Nazis. Gewiss, wenn vom Radio die Rede ist, dann "träufelt" es schon mal "ein paar Takte Marschmusik oder ein paar Sätze Goebbels ins Ohr", und ein Text, der bei der Diskussion um Weltanschauung und Geschmack entschieden für letzteren plädiert, wird - ehrenvoll - nicht gedruckt, aber ansonsten sind es zivile und kultivierte Gegenstände, derer sich auch Alfred Polgar hätte annehmen können - die gefühlte Jahreszeit im Oktober, Maskenball und Rauchen, Briefeschreiben und Beschenktwerden, Geld und Kinohelden, Autos und Rheinsberg.
Doch Haffner geht das anders an. "Die meisten Gemeinplätze werden zu Wahrheiten, wenn man sie auf den Kopf stellt." - so charakterisiert er sein Prinzip, vor dem Tribunal der Leserschaft die Unschuld des Inkriminierten zu beweisen: Masken verbergen nicht, sondern verraten, aller Anfang ist leicht und Pünktlichkeit keine Zier. So sehr mit Laune lesbar die Ergebnisse der Umkehrungen sind, so wenig lässt sich übersehen, dass die Klischees nicht angetastet, bloß umgewertet werden. Engländer bleiben kauzig, Amerikaner kindlich. "Viele meinen, an dem Leid und Elend dieser Welt sei die menschliche Härte schuld; ich glaube im Gegenteil, das Schlimmste richtet die menschliche Weichheit an." Der Satz wirkt hoch aktuell. 1934 veröffentlicht, trägt er jedoch mit seiner Härte einen beklemmenden Zeitindex. Mehr noch, die paradoxale Figur führt in den Kern von Haffners späterem Erfolg als Historiker und Kolumnist - doppelt: Möglichst das Gegenteil vom allgemein Hingenommenen zu behaupten und das nicht nur möglichst schneidend zu tun, sondern zugleich idiosynkratisch gegen "alles Knochenlos-Nachiebige, Duldsame und Leichtgerührte", gegen Schwäche - als Lächerlichkeit. Daher wohl sein Überfuror gegen eine tieftraurige Gestalt wie Friedrich Ebert. Von hierher liest man ihn nun anders. Aber es bleiben gleichwohl lesenswerte Texte, selbst "menschlich in dem vieldeutigen Sinne, den das Wort wirklich hat: bös und liebenswürdig zugleich, gefährlich, witzig, klug, frech, scheu und verschmitzt." Nicht alles und immer, aber oft genug.
Alfred Polgar: Das große Lesebuch. Zusammengetragen von Harry Rowohlt, Kain Aber, Zürich 2003, 427 S., 22,80 EUR
Sebastian Haffner: Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933 - 1938, Hanser, München 2004, 397 S., 23,50 EUR
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