Es kam der Morgen

Dreirat Vom Wahnsinnsbuch bis zur Dutzendware: In seiner Kruzezensionskolumne Dreirat stellt Erhard Schütz Neuerscheinungen vor

In satzgirlandischer Wiederholungsmanie Thomas Bernhard nicht unähnlich, im ideologiekritischen Furor wie Elfriede Jelinek, an kaltem Grausen Jonathan Littell überlegen - so ließe sich Gisela Elsners Roman Fliegeralarm" target="_blank">Fliegeralarmplakatieren. Ein im wahrsten Sinne Wahnsinnsbuch. Fünfjährige spielen darin nicht nur, sie sind der Nationalsozialismus. Während ihre Eltern opportunistisch, feige, nörgelnd und neurotisch durchs Ende des „Dritten Reichs“ zu kommen suchen, indem sie sich in den Kellern vor den Bomben weg ducken, wird den Kindern der Bombenalarm zur Fanfare und die Ruinenwelt zum NS-Paradies. Sie wissen zwar weder was ein JUDE ist wie FICKEN geht, aber genau in den kindlichen Spekulationen darüber überbieten sie den damals real gewordenen Wahn. Es erzählt die fünfjährige Lisa, wie sie mit ihrem ebenso alten MANN und dessen SS-MÄNNERN, mit ihrem kleineren Bruder und Gabi Glotterthal, der medizinischen Ideologin des Unternehmens, sich in den Ruinen Nürnbergs so einrichten wie die Nazis sich für ihre östlichen Erbhöfen erträumten. Ein KZ hat man auch, fehlen nur die Insassen. Der Sohn eines abgeholten Kommunisten wird, weil KOMMUNISTEN und JUDEN dasselbe sind, ihr Opfer. Das alles ist aus der Perspektive naiver Kindergrausamkeit erzählt, dass einem der konsequente Aberwitz immer wieder den Atem verschlägt. Kein Wunder, dass der Roman der Autorin, die bald darauf Suizid beging, 1989, als er erschien, nicht reüssierte. Nun gibt es eine zweite Chance, zudem ohne die desaströsen Lektoratsmängel der Erstausgabe.
Fliegeralarm. Roman. Gisela Elsner. Verbrecher, Berlin 2009, 288 S., 14,00 E

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Auch dies Buch führt ins „Dritte Reich“. Zugleich aber ist es ein Stück Heimatkunde. Der Autor, Chef einer Werbeagentur, hat in Semlin bei Rathenow einen Mitbewohner von ehedem entdeckt und über ihn ein Buch geschrieben. Axel Rudolph hatte, statt im Ruhrgebietspütt zu bleiben, doch lieber Schriftsteller werden wollen. So kam er nach Berlin und eben nach Semlin. Rudolph schrieb unter seinem Namen und Pseudonymen Kolportageromane, Romane für den Zeitungsabdruck. Der Mann aus Rio, Amor im Pazifik, Diamanten in der Lüderitzbucht - so und so ähnlich die Titel. In Zeitungsverlagen wie dem Schützen-Verlag erschienen sie als Bücher. Gelegentlich schrieb er an Drehbüchern mit. Er war damit ein Dutzendwarenlieferant wie viele andere auch, der damit nicht schlecht verdiente. Ob man ihn deshalb einen „Erfolgsschriftsteller“ nennen kann, sei dahingestellt. Rudolphs Leben wird hier nun im Stil dessen geschildert, was man seinerzeit „Tatsachenroman“ zu nennen pflegte, heute Dokufiktion. Im Stil von: „Der Tag brach an, der Morgen kam, der Vormittag.“ Das tut seiner Vorlage nicht weh. Zumal Rudolphs Leben zwar erwartbar wechselhaft, aber auch nicht gerade exzeptionell ist. Doch! In einem Punkt unterscheidet es sich von dem der Kollegen wie seiner Figuren: Es endete am 30. 10. 1944 unter der Guillotine. Er, der aus seinem naziverachtenden Herzen keine Mördergrube machte, fiel letztlich wegen einer Liebesaffäre in die der Nazis. So bekam er nach 1945 ein Nachleben im antifaschistischen Gedenken vor Ort. Das alles ist hier, ausgiebig recherchiert, zu einem ganz merkwürdigen literarischen Liebhaber-Denkmal geworden.
Groschenroman. Das aufregende Leben des Erfolgsschriftstellers Axel Rudolph. Martin Keune. be:bra, Berlin 2009, 304 S., 19, 90 E

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In Zeiten wo die blöde Kuh durch die dumme Zicke und der rammelnde Stier durch den Pop-Titan abgelöst worden ist, ist höchste Zeit der Kuh zu gedenken, diesem wundersamen Wesen, das zweimal so schwer auf der Erde lastet wie die gesamte Menschheit, und doch von so unendlicher Kuhäugigkeit und milchwarmem Gemüt ist, dass Douglas Adams sie im Restaurant am Ende des Universums auftreten und ihre Steaks anbieten ließ, bereit, sich selbst zu erschießen. Aber keine Sorge, sagt sie dazu, sie mache es human. Dabei wissen wir andererseits seit Jeremy Rifkin wie diese kollektive Kuh uns mit ihren methanhaltigen Rülpsern in die Klimakatastrophe treibt! Nicht zu vergessen die circa 700 Tonnen Kuhkacke, die in Indien den Heizwert von 64 Millionen Tonnen Steinkohle ersetzen. Und so fort. Florian Werners Buch über Leben, Werk und Wirkung der Kuh jedenfalls, dem das alles und noch mehr, so zum Beispiel die Benachrichtigung über die segensreichen Wirkungen des Kuhblasens oder Kühehütens, vermiedenes Schmerzausdrucksverhalten oder die Ähnlichkeit von Milch und Sperma zu verdanken ist, hat ein der wundersamen Kuh angemessenes, wundersames Buch geschrieben. So ganz ohne Wiederkäuen, aber mindestens so vielfältig wie das, was man aus Kühen herstellen kann. Der Verlag nennt es eine „Wunderkammer. Zu recht. Darüber hinaus aber ist es ein einfach verlockend pfiffiges wie gut geschriebenes Buch!
Die Kuh: Leben, Werk und Wirkung" target="_blank">Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung. Florian Werner. Nagel 2009, 235 S., 19, 90 E

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