Frau und Metapher

Berlin Buch Kolumne

Zunächst ein Nachtrag - aus 2004. Breitseite Berlin heißt das Buch und verspricht literarische Streifzüge. Es hält sich dann aber recht mittig: Friedrichstraße, Potsdamer und Alexanderplatz, Prenzlauer Berg, Oranienburger und Hackescher Markt, Friedrichshain, Kreuzberg, Savignyplatz und Kurfürstendamm. Literarisch? Franz Hessel - natürlich! Cees Nooteboom - dito. Auch Peter Schneider und das royale Tristesse-Quintett vom Adlon. (Erinnern wir uns noch?) Thomas Brasch und Hans Fallada, Jürgen Fuchs und Walter Mehring, kurz und gut: ziemlich viel kommt vor. En passant oder im Porträt. Den Streifzügen könnte man gern folgen wollen, auch wenn das Inspirierteste an ihnen die Zitate sind - wäre da nicht der Quängelton gegenüber der Gegenwart: Ist es schon öde, noch und noch einmal mehr die Vergangenheit zu überhöhen, so ist es oberöde, das auf Kosten des Gegenwärtigen zu tun.

Holger Tegtmeyer: Breitseite Berlin. Literarische Streifzüge, Patmos, Düsseldorf und Zürich 2004, 256 S., 19,90 EUR


Ach ja, die Vergangenheit. Zum Beispiel die der Achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Als es noch Mongolenhorden im Zoologischen Garten gab. Heinrich Hart, Manifestant des Naturalismus, hat 1883/84 Briefe aus Berlin nach Breslau geschrieben - ein Jahrzwölft vor Alfred Kerr. Auch wenn er bei weitem nicht die Pointiertheit seines Nachfolgers erreicht, so ist es doch lesenswert - im Gegenwartsvergleich. Berlin ist keine Hochburg des Karnevals und an den Theatern ist allerlei auszusetzen. Schriftsteller nennen sich so, weil es kein Gesetz gibt, das es ihnen verbietet. Nein, es stimmt nicht, dass die bildende Kunst nur wegen der "Propaganda" floriert. Im Parlament werden die Redner nur von ihren Freunden angehört. Gibt´s ´ne Sensation, gibt´s "Völkerwanderungen" des Berliners - und immer ärgern sich die Wirte über das Wetter. Was sich geändert hat: Der Antisemitismus äußert sich nicht mehr öffentlich, wie seinerzeit der Hofprediger Stoecker und Seinesgleichen es taten. Und auch das ist so nicht mehr: "Berlin ist mehr als eine Stadt geworden; wie London den Begriff Geschäft, Paris den Begriff Genuss, so vertritt Berlin den Begriff Kraft." Dafür gibt es eine kräftige Einführung des Herausgebers in die damalige Zeit.

Heinrich Hart: Mongolenhorden im zoologischen Garten. Berliner Briefe, Aufbau, Berlin 2005, 238 S., 7,95 EUR


Und noch einmal Vergangenheit. Die Vergangenheit. Man wundert sich, dass dies Buch erst jetzt kommt: Hitlers Berlin. Als er 1916 sich in Beelitz von einer Oberschenkelverwundung erholte, hat der "Obergefreite" einen Abstecher zur Nationalgalerie gemacht. 1917 wurde er von einem Kameraden zum Urlaub am Prenzlauer Berg eingeladen. Da hat er weitere Museen besucht und den Verkehr bewundert. Danach war Berlin für ihn die Dolchstoß-Metropole und Zentrum jüdischer Macht. Goebbels musste das für ihn erobern. Und dann begann er, zusammen mit Albert Speer, es zu zerstören, um "Germania" Platz zu machen. Der für 1950 prognostizierten Vollendung kamen der Bombenkrieg und der Untergang im Bunker zuvor. Gut recherchiert und noch besser geschrieben, ist Hitlers Berlin eine ebenso erhellende wie faszinierende Kulturgeschichte jener Jahre.

Sven Felix Kellerhoff: Hitlers Berlin. Geschichte einer Haßliebe. be:bra, Berlin 2005, 219 S., 19,90 EUR


"Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold." Ernst Jüngers Satz angesichts von Paris hat seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts forschende Damen und forsche Frauen stimuliert. Berlin ist eine Frau. Das kommt angesichts dessen ziemlich spät. Dafür ist Frau Berlin mächtig viele Frauen, ganz abgesehen von den Türkinnen, die inzwischen die Stadt als Vornamen tragen. Reportagen und Porträts der taz-Journalistin Waltraud Schwab. 27 junge und ältere Frauen, Freizeitgören und Lebenskünstlerinnen von Beruf, Managerin und Handelsreisende, Hundefriseurin und Salonière, Märchenerzählerin und Sängerin und sofort und obendrein ein Baum, die Dicke Marie. Eine reichliche Vielfalt, die - sprachlich nicht ganz so bunt wie das Sujet - überzeugend demonstriert, was alles geht, wenn man sich nur bewegt.

Waltraud Schwab: Berlin ist eine Frau. Reportagen und Porträts, Jaron, Berlin 2005, 179 S., 14,90 EUR


Noch ein Nachtrag: "Berlin ist Metapher. Die Frau auch." - erklärt in Jaroslav Rudis aus dem Tschechischen übersetzten Roman Der Himmel unter Berlin Atom, Dichter des Punk-Poems "Ich bin Berlin". Früher, bei Hart nachzulesen, war es das Theater, mit dem Berlin seine Ankömmlinge faszinierte. Heute auch noch ein wenig, mehr aber die Musik. Vor allem die, die man selber machen kann. Punk geht ja immer. Petr Bèm, aus Prag nach Berlin ausgebüchst, trifft Pancho Dirk in der U-Bahn. Beide gründen, zu Ehren der U-Bahn, des Himmels unter Berlin, ihre gleichnamige Band, die mit Atoms Lied einen überzeugenden Erfolg hat - eine veritable Schlägerei. Und dann gibt es zum Beispiel noch Katrin, die auf dem Kühlschrank gefickt werden möchte und deren Orgasmus von Rosmarin berieselt wird. Oder Bertram. Oder Gazella. Und immer wieder die U-Bahn und ihre Selbstmörder, ein paar Klischees und am Ende vielleicht Island. Das ist ein Buch vom vergangenen September, aber auch in diesem Spätsommer noch wunderbar lesbar: in den Anekdoten übersprudelnd und im Gefühl lakonisch, heiter und melancholisch zugleich. Ach ja, unsere Stadt und ihre befreundeten Fremden!

Jaroslav Rudis: Der Himmel unter Berlin. Roman. Rowohlt, Berlin 2004, 175 S.,
16,90 EUR


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