Wolfgang Jacobsen ist einer der souveränsten Kenner der deutschen Filmgeschichte. Nun hat er seine souveräne Kennerschaft an drei deutschen Filmen der 1940er Jahre exerziert: An dem Kriminalfilm Alarm (Herbert B. Fredersdorf, 1941), der hinterrücks „Muster der nationalsozialistischen Justiz und Strafverfolgung weiterreicht“. An Wolfgang Liebeneiners Euthanasie-Film (1941), Ich klage an, den er als die „reine Lehre visueller Propaganda“ vorführt. Und an Die Degenhardts von Werner Klingler (1944) über den Bombenkrieg am Beispiel des zerstörten Lübeck, wozu allerdings die Vorbombenidylle in Stralsund und Lüneburg gedreht werden musste. Da wird Heinrich George als Patriarch Degenhardt 65 und statt befördert ausgemustert. Doch die Bomben geben ihm die Chance zur Rückkehr. Überhaupt tut die Familie alles, was die Nation nun braucht. Kulturpathos dröhnt und dräut, von Hausmusik bis Orgelbrausen. Ein Propagandafilm, „und zwar“, so Goebbels’ Lob, „in einer sehr taktvollen und psychologisch klugen Weise“.
Darum geht es hier: um die gezielte Unaufdringlichkeit und Unterschwelligkeit der filmischen Propaganda. In Zuspitzung einer Sentenz von Alfred Polgar schreibt Jacobsen, die „faschistische Moral“ verstecke sich „immer in Winkeln“. Dort stöbert er sie auf. Was die Filme verschleiernd vermengen, nimmt er auseinander und konterkariert deren Suggestion des großen Ganzen mit seiner (Zeit-)Lupe. Er mikroskopiert vermeintliche Akzidentien, Accessoires, Nebenfiguren und -handlungen auf das hin, was sie über sich hinaus aussagen. Zugleich assoziiert er sie in stupender Kenntnis mit weit über die jeweiligen Filme hinausgehenden Wissensbeständen, die er wiederum raffiniert in die Einzelheiten hineinliest. Sein – zugespitzter – Befund: Nazis können nur den Tod. Emblem dessen ist ihm der „flötenspielende Tod“ des Lübecker Totentanzes in Die Degenhardts – Rattenfängerei und Drohung, die Flötentöne beizubringen.
Das der Reichsfilmkammer ist das wahrhafte Nazi-Reich gewesen. Und ist nicht mit untergegangen. Victor Klemperer, dem wir hellsichtige Tagebucheinsichten in jene Zeit verdanken, war ein leidenschaftlicher Kinogänger. Es beginnt mit dem Anfang des Tonfilms 1929, bis 1938, als Juden das Kinogehen – wie fast alles außer Sterben – verboten war. So konnte er zwar die drei Filme Jacobsens nicht mehr sehen, aber sonst zuvor vieles. Gerne Unterhaltsames und Spannendes jedweder Provenienz.
Nicht verwunderlich, dass er vorrangig Ablenkung suchte. Indes setzte sein kritischer Geist dabei keineswegs aus. Bei den zwei Wahrheiten, die er für sich gelten ließ, Montaignes „Was weiß ich?“ und Renans „Alles ist möglich, auch Gott“, verwundert kaum, dass ihm die Nazi-Welt selbst wie Kino erschien. Ende 1938 ist ihm vollends klar: Es wird keinen Zusammenbruch des Regimes geben. Denn das Ausland bemüht sich allenthalben um Deutschland, und hier sieht er überall nur „Prunk, Vergnüglichkeit, Sattessen und vollkommene Ruhe“. Die Leute stehen vorm Kino Schlange. Er sieht mal wieder einen Krimi: „Verhaftungen während Revuevorstellung sehr beliebt.“
Solch pointierte Beobachtungen beweisen stets neu seinen freien Geist. Nach sieben Jahren können er und seine Frau im vogtländischen Falkenstein Anfang 1945 nochmals ins Kino, bevor sie befreit werden. Wen die Götter lieben, der Mozart-Film von 1942. Danach Wochenschau. Die dort propagandistisch gezeigten, angstmachenden „Verwüstungen“ durch die Russen, schreibt er, „reichten nicht an den Zustand unserer Zimmer nach einer Gestapo-Haussuchung heran“.
Reinhart von Lucius hatte die nicht zu befürchten. Zwar verweigerte der in Berlin lebende Jurist, aus einer einflussreichen Thüringer Familie stammend, den Eintritt in eine NS-Organisation, kam folglich nicht in den Staatsdienst, konnte aber als Wirtschaftsjurist durchaus auskömmlich arbeiten. Er war offenbar kein Kinogänger, dafür aber so lange wie möglich Theater- und Konzertbesucher. Seine Frau war da längst ins Thüringische evakuiert worden. Die Briefe der beiden, ergänzt um andere aus der Familie, liefern einen anschaulichen Einblick in die Ängste und Nöte des Alltags unter Bomben, Mangel und Hunger. Der scheint sogar übers Jahr 1945 nach der Befreiung noch stärker als vorher gewesen zu sein; zumindest kann man jedoch wieder ins Theater gehen, während die Bürokratie in der geteilten Stadt („Rücksiedlungsgenehmigung“) hier noch absurder wirkt als die der Nazi-Zeit zuvor. Ein beeindruckendes Zeitdokument!
Auch in Wien ging man ’45 sofort wieder ins Theater. Auch dort schossen die Bühnen aus dem Boden, genauer: improvisierten vorzugsweise in Kellern. Hermann Schlösser ist dem nachgegangen, was die Zeitgenossen als „Theaterinflation“ beklagten. Was seinerzeit als „Konjunkturgründungen“ kritisiert wurde, als kommerzielle Spekulation auf den kompensatorischen Drang nach geistigen Genüssen, vor allem aber Vergnügen und Unterhaltung, so zeigt er, stimmte nur zum Teil. Er rekonstruiert, wie etwa Brechts Stücke beliebt waren, bis er im antikommunistischen Furor boykottiert wurde, wie Thornton Wilder und Jean-Paul Sartre rauf und runter inszeniert wurden. Deren Existenzialismus gab den schuldflüchtigen Nachkriegsexistenzen einen Sinn, bis Becketts Nichtsinn kam … Ein höchst sachhaltiger, ebenso informativer wie gut geschriebener Beitrag zur Theatergeschichte der Nachkriegszeit.
Diese Nachkriegszeit war gnädig zu jenen, die sich zuvor schuldig gemacht hatten. So durchweg zu den im propagandistischen Saus und Braus gelebt habenden Damen und Herren vom Film. Man denke nur an Gabriele Tergits berechtigte Verbitterung über die Freisprüche Veit Harlans. An alle die ungeknickt weiterlaufenden Karrieren. Vor allem aber gnädig waren die juristischen Freisprecher zu ihren üblen Kollegen, jenen Roeder, Lautz, Huppenkothen et. al., die Widerständler reihenweise zum Tode verurteilt hatten, aber nach 1945 „anständig“ weiterzumachen gedachten.
Ein emeritierter Juraprofessor aus Bremen hat dieses sittliche Versagen der Justiz vor und nach 1945 anhand der Todesurteile gegen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi rekonstruiert. Sowohl den eiskalten Fanatismus damals wie jene warme Milde nach 1945 gegen die juristischen Handlanger des Mörderregimes – und das in außerordentlicher Dokumentendichte; eine Lektüre, die immer noch fassungslos und zornig macht.
Noch einmal nach Wien. Eingebettet in die Geschichte ihrer Familie, erzählt Karina Urbach von ihrer jüdischen Großmutter Alice. Weil ihr Tunichtgut von Mann durch seine Spielsucht die Familie ruinierte, musste sie die alleine durchzubringen versuchen. Unter anderem mit der Veröffentlichung eines Kochbuchs, das ein großer Erfolg wurde: So kocht man in Wien! Nach dem von den Landsleuten begeistert gefeierten deutschen Einmarsch in die USA entkommen, hielt sie sich mit Kochkursen über Wasser. Nach dem Krieg zurückgekehrt, musste sie erfahren, dass ihr Buch im selben Verlag weiterhin erschien. Nun allerdings unter dem Namen eines Rudolf Rösch. Ersetzt hatte man lediglich allzu jüdisch klingende Rezepttitel. Irgendeine Entschädigung hat sie nie erhalten. Auch dies ein Beitrag zum Thema Fressen und Moral … Immerhin soll nun das Original wieder aufgelegt werden.
Es ist ja leider mitnichten so, dass wir uns zufrieden zurücklehnen können im Bewusstsein, dass das alles nie wieder … Diktaturen, Krieg und Bürgerkrieg. (Was heißt hier eigentlich Bürgerkrieg, wenn stets auswärtige Mächte sich dabei in Stellung bringen?) Will man es noch hören, sehen, lesen? Erstaunlich viele Frauen haben sich darum nicht geschert, weil es ihnen darum ging, die Welt davon abzuhalten, ihre Augen zu verschließen. Martha Gellhorn oder Gerda Taro sind Ikonen dessen, man könnte auch an Erika Mann denken. Erst recht in jüngster Zeit: Marie Colvin (die mit der Augenklappe), die 2012 in Syrien starb, Maria Titizian, die Österreicherin Petra Ramsauer oder die in Afghanistan 2014 erschossene Anja Niedringhaus. Nun ein Buch der Fotojournalistin Julia Leeb. Ihre Reportagen und Erinnerungen datieren aus den Jahren zwischen 2011 und 2017. Die meisten berichten aus Libyen, dazu Ägypten, Kongo, Sudan, Nordkorea, Transnistrien. Das sind nur einige der 80 Länder, die sie bereist haben soll. Nicht immer ging es da um Krieg, wie auch hier, wenn sie 2011 in Ägypten bei der Arabellion dabei ist oder in Nordkorea die Innenansicht einer besonders düsteren Diktatur sucht, worüber sie 2014 ein viel beachtetes Buch schrieb.
Was sie hier vorlegt, ist eine Art von autobiografischer Selbstvergewisserung, entlang exemplarischer Stationen, immer wieder Lebensgefahr und Todesangst, aber auch Begegnung mit Männern und Frauen, Opfern und Tätern, Mutigen und … – Wenn sie die furchtbaren Geschichten erzählte, waren die Gegenüber verstört, wenn sie dabei lächelte – „nicht etwa, weil ich es lustig fand, sondern weil mein Hirn mit dem Erlebten offenbar überfordert war“. Hier kommen ihre eindrucksvollen Fotos hinzu, zwischen surreal wirkenden Landschaften und gezeichneten Gesichtern, Martialischem und Friedlichem, Mördern und Massen. Und in alledem dann eben doch der fromme Wunsch, wie ihn ein Offizier in Transnistrien („Ein Land, das es eigentlich gar nicht gibt.“) auf die Frage äußert, was die Deutschen über sein Land wissen sollten: „Dass auch hier Menschen leben, die auf ihrem Boden normal und friedlich leben wollen.“
Info
Nazis können nicht lieben. Drei Filme aus Deutschland Wolfgang Jacobsen Verbrecher Verlag 2020, 158 S., 16 €
Victor Klemperer: „Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945“ Christian Löser, Nele Holdack (Hrsg.), Aufbau 2020, 363 S., 24 €
„Keine Illusionen irgendwelcher Art…“ Briefe aus Berlin 1943 bis 1948 Robert von Lucius (Hrsg.) Mitteldeutscher Verlag 2020, 152 S., 14 €
Welttheater auf engem Raum. Die Entdeckung der internationalen Moderne auf den Wiener Kellerbühnen der Nachkriegszeit Hermann Schlösser Klever 2020, 212 S., 20 €
Der Tod auf steilem Berge. Die „Standgerichtsprozesse“ gegen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi und die Freisprechung ihrer Mörder Christoph U. Schminck-Gustavus Donat 2020, 384 S., 29,80 €
Das Buch Alice: Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten Karina Urbach Propyläen 2020, 421 S., 25 €
Menschlichkeit in Zeiten der Angst: Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt Julia Leeb Suhrkamp 2021, 235 S., 18 €
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