Hampels Parabel oder Die wahrhafte Wiederkehr des Erzählens

GESCHICHTE EINES MENSCHEN ALS MENSCHENGESCHICHTE Michael Kumpfmüllers Debüt-Roman "Hampels Fluchten"

An einem Dienstag im März ging Heinrich bei Herleshausen-Wartha über die Grenze. Das glaubt einem ja auf Anhieb keiner, dass ein Dreißigjähriger im Frühjahr neunzehnhundertzweiundsechzig mit nichts als einem Rucksack voll Wäsche und einer Flasche Whisky über die Grenze geht und an Frau und Kinder nicht denkt und erklärt, er möchte ein Bürger werden der Deutschen Demokratischen Republik in ihrem dreizehnten Jahr, und warum das so ist, muß in allen Einzelheiten vorläufig niemand erfahren." So beginnt ein Roman, der fast fünfhundert Seiten braucht, um das Leben von Heinrich Hampel zu erzählen, geboren am 25. August 1931 und gestorben am 25. September 1988, gewesen im Dritten Reich, in der SBZ, in der Sowjetunion, in Südafrika, in der Bundesrepublik und schließlich geblieben in der DDR, wohin er nur ein paar Monate nach dem Mauerbau gegangen war - ein Projektemacher, Organisator, Bettenverkäufer, Lebensmittelfahrer, Volksbuchhändler, mehrfacher Knastbruder und schließlicher Fahrstuhlführer in der Universitätsfrauenklinik. Aber da ist ihm schon gar nicht mehr zu helfen gewesen, wie zuvor und vielleicht von Anfang an nicht, ihm dem Frauenhelden. "Hampel, was für ein lustiger Name", doch keine lustige Person, sondern ein bedauernswerter, trauriger Pikaro. Warum und wie er so wurde, was er durchmachte durch all die deutsche Geschichte hindurch und wegen ihr, die sein Leben bestimmte, aber seine Wahrnehmung doch höchstens punktuell berührte, als ob Völker fern in der Türkei aufeinanderschlügen, das erzählt sein Roman so, daß man ihn nicht mehr loswird, so wie Heinrich Hampel den Sog zu den Frauen, in den Alkohol und zur Verschwendung nie mehr loswurde.

Heinrich Hampel geht in die DDR, weil er gerade in Regensburg mit einem Bettenhaus in Konkurs gegangen ist. Er lässt Wohnung, Wagen, Freundin und Familie zurück, aber dann, mehr dem verhörenden Offizier zuliebe als aus eigenem Wunsch, bringt er die Familie dazu, nachzukommen. Das Vaterhaus in Jena ist vergeben. Man wohnt beengt zur Miete. Heinrich will sich bessern. Er macht krumme Geschäfte mit Russen, säuft, hat Weibergeschichten und immer mehr Schulden. Er kommt zum erstenmal in den Knast, Gera. Leipzig und Bautzen werden folgen, denn Heinrichs Lebensschraube dreht sich unablässig nach unten, bis zum Verfall in Alkoholismus, Diabetes und Demenz. Zugleich erzählt der Roman dagegen zurück, nach vorn, das heißt. in die Vergangenheit, als alles noch offener schien, als alles immer noch einmal anders kam und neu beginnen mochte. Der Aufenthalt in Südafrika, beim Onkel auf der Spargelfarm, die Affäre mit der Tante, deren schlimmster Fehler vielleicht war, dass es dazu so recht gar nicht kam, die Flucht aus Jena in den Westen, die Zwangsumsiedlung der Familie in die Nähe von Moskau, um beim Wiederaufbau einer Glasfabrik mitzuhelfen, die Liebe zu Ljusja, die Kindheit im Dritten Reich, Stalingrad und der erste Erguss, die Bomben auf Jena. Und durch alles das hindurch, wie ein ständiger Doppelstrich, die haushälterische Buchführung über die Weiber neben dem zügellosen Verschwenden, Verschenken, Schuldenmachen und Saufen.

Der Roman läßt sich als Parabel lesen: Seine Linie beginnt im Wendepunkt vom Westen nach Osten, in dem Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart noch dicht beieinander liegen. Dann schreitet er in der einen Richtung der Linie immer weiter auf die Gegenwart, Heinrichs Zukunft fort, auf der anderen, im jeweils nächsten Kapitel, führt er immer weiter in die Vergangenheit zurück - bis am Ende - am weitesten voneinander entfernt und zugleich auf einer Höhe - das Ende und der Anfang von 1945 stehen, parallel zu Heinrichs körperlicher und geistiger Auflösung im Zeitpunkt der nahenden Auflösung der DDR. Auch darin ist er parablisch.

Dass einer wie Hampel, ein, wie er von der sozialistischen Vormundschaft tituliert wird, "Lumpenproletarier" und "Kleinbürger", ein Tunichtgut und Taugenichts, übertüchtig Untüchtiger, Schmarotzer und Betrüger, einen nicht mehr los lässt, dass man, nachdem man durchs Buch, das sich ohnehin eher in einem Sog liest, längst durch ist, sich immer noch mit diesem Hampel beschäftigt, sich bei der Frage ertappt: Was wird er wohl jetzt wieder, was wird er sonst noch gemacht haben, das verdankt sich der faszinierenden Erzählkraft seines Autors. Hampels Fluchten ist ein so gänzlich anderes Buch als das, was derzeit von den Comptoirgehilfen des In/Out-Gewerbes, aus den Boudoirs der Pippi von Langstrumpfs und aus Herrenabenden der Internats-Rentiers verlautet. Hampels Fluchten ist ein Roman aus einer anderen, fast vergessenen, aber nie vergehenden Welt, aus der des Epischen. Es ist ein großer Roman, dürfte man schlicht sagen, wenn das nicht nach Reich-Ranicki klänge. Und obwohl Georg Lukács an ihm seine Freude gehabt hätte: Ein ungemein beeindruckender, nachhaltiger, lange wirkender Roman! Denn er erzählt zwar die Geschichte eines Deutschen durch den Kernteil der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hindurch, aber er vermeidet, was alle die Schulfunk- und Zeitungstitelseiten-Romane zusammengeraffter Zeitgeschichte à la Günter Grass und Peter Schneider, um die besten zu nennen, so medioker macht. Er vertraut nämlich darauf, dass das Leben der Figur die Geschichte trägt, dass es keiner eingebauten Kalenderblätter und Leitartikel bedarf, um an Geschichte zu erinnern, dass vielmehr Rücknahme, Auslassung, Andeutung - Pendants von Verdrängung und Ausblendung von Geschichte - Historie im Leben der Figuren präsent machen. Gerade deshalb läuft deutsche Geschichte unablässig in Heinrichs Geschichte mit. Und Heinrichs Geschichte ist nicht: Erstens, zweitens, drittens und deswegen oder trotzdem. Sondern: Und dann und dann und dabei zugleich ein vor und zurück, hin und her. Der Roman saugt in seine Geschichte hinein. Er erzählt hautnah und wie von weither - und da will man ja hin. Ständig fragt man sich, woher dieser Ton bekannt sein mag, wo einem eine solch unabweisbare Melodie des Erzählens schon einmal begegnet ist - Theodor Plievier, Lion Feuchtwanger, Joseph Roth, Knut Hamsun, Georges Simenon, Charles de Coster? Etwas vom alten Fontane? Aber vielleicht doch mehr ›Russisches‹, Lesskow zum Beispiel? Ist es der Duktus von Hebels Unverhofftem Wiedersehen? Oder von allem einiges? Es ist nicht wirklich auszumachen, denn dieser Ton ist so originär wie immer schon da gewesen. Wie man das zuletzt vielleicht auf ähnliche Weise bei Peter Kurzeck gelesen hat. Es ist der Ton, in dem die Geschichte eines Menschen zur Menschengeschichte wird.

Warum Heinrich ständig andere Frauen hat, obwohl seine Rosa für ihn da ist, das zu ergründen, vertraut der Autor seinen Lesern ebenso an, wie er ihnen zu wissen zutraut, warum sein Führungsoffizier Harms zu dem zunehmend unzuverlässigen, unergiebigen Heinrich bis zum Ende ein familiales, fürsorgliches Verhältnis unterhält. Anders als die geschichtserklärenden Einredner vertraut Kumpfmüller darauf, dass seine Leser über Lebenserfahrung verfügen. Und darum genügt, dass er einfach nur erzählen muß, was der Adoleszente in Rußland erlebte, darum reicht völlig aus, den Wunsch der Mutter, ihr Zweitgeborener möchte eine Henriette gewesen sein, wie nebenbei zu erwähnen.

Hampels Fluchten sind eher Ausweichbewegungen auf der Stelle. Er ist so erwartungsvoll wie reaktiv. Irgend etwas wird noch kommen, es wird schon gut gehen, wieder besser werden. Er ahnt, was die Frauen wünschen, geht auf sie ein und doch von ihnen weg. Er gibt sich im Knast sogar dem Kumpel Karl hin - eine der delikatesten Passagen des Romans, der mit einer wohltuenden Dezens sinnlich vom Sexuellen erzählt -, aber er ist nicht sein Freund. Hampel schenkt unablässig, aber erfüllt nicht einen Wunsch. Ausgerechnet in der Mangelwirtschaft der DDR lebt er seine Ökonomie der Verschwendung - und enthüllt so die Aporie der sozialen Fürsorge bei materieller Vertröstung.

Im Schluß, im Dialog von Vater und Tochter, steckt ein Schlüssel zu alledem, für Hampel, wie für seine Leser: "Man müßte noch einmal von vorne anfangen können, sagte sie.

Ja, fangen wir noch einmal von vorne an.

Am besten gleich morgen, sagte sie.

Ja, morgen wäre ihm eigentlich ganz recht."

So endet die ganz besondere, nicht wiederholbare Geschichte und so beginnt sie immer wieder neu, die condition humaine.

Nachbemerkung:

Es scheint unglaublich, dass ein Autor des Jahrgangs 1961, der neben einer Dissertation über Stalingrad bisher nur kurze Texte, Skizzen, Impressionen, Porträts und Reportagen geschrieben hat, auf Anhieb einer solchen epischen Konstruktion und Sprache mächtig ist. Aber es ist vielleicht dann doch nicht so verwunderlich: Die Konstruktion kommt aus einer selbstreflexiven Geschichtswissenschaft, Sprache und Figuren sind durch die Reportage hindurchgegangen, dem Verpuppungsort des Realismus und des Epischen.

In alledem lässt der Roman sich auch nicht gegen "den Betrieb" ausspielen. Er wird unabhängig davon bestehen, aber entstanden ist er nicht unabhängig. Animiert worden zum Roman ist Kumpfmüller nämlich durch einen Agenten, der eine seiner Reportagen gelesen hatte. Beginnen konnte er ihn dank eines Stipendiums. Seinen Verlags-Kontrakt erhielt er beim Wettbewerb um den Döblin-Preis. Der beachtliche Vorschuß schließlich ermöglichte ihm, den Roman fertigzustellen.

Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten. Roman, Verlag Kiepenheuer, Köln 2000, 494 S., 39,90 DM

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