Hommage Titulierungen hat er reichlich eingeheimst: Dandy, Snob, Highbrow, Hans Dampf, Gaukler, Chamäleon, Irrlicht – Jetzt ist Hans Magnus Enzensberger 93-jährig gestorben, er hinterlässt eine literarische und intellektuelle Galaxie
Was nicht alles war er im Laufe seines Lebens? Barmann, Dolmetscher, Schwarzmarkter, germanistischer Doktor, Rundfunkredakteur, Lyriker, Essayist, Herausgeber, Übersetzer, Organisator, Entdecker, Förderer, Anreger. Mindestens. Welche Titel seiner unzähligen, wohl an die siebzig, achtzig Bücher fallen einem ein? Mir zur Lyrik: Verteidigung der Wölfe, Landessprache, Blindenschrift, Mausoleum, Untergang der Titanic, Die Furie des Verschwindens, Leichter als Luft.
Zu den Essays voran Einzelheiten, dann Politik und Verbrechen, Palaver, Ach Europa!,Mittelmaß und Wahn, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Zickzack. Die dokumentarische Prosa von Der kurze Sommer der Anarchie oder Hammerstein. Und hätte er das alles nicht geschrieben, sondern nur das Museum der m
ische Prosa von Der kurze Sommer der Anarchie oder Hammerstein. Und hätte er das alles nicht geschrieben, sondern nur das Museum der modernen Poesie, Kursbuch, TransAtlantik, Die Andere Bibliothek herausgegeben, er hätte allein dadurch seinen festen, unabdingbaren Platz in der Kultur- und Intellektualgeschichte der Bundesrepublik. Doch nicht genug damit, hat er für Kinder und Jugendliche geschrieben, wurde Der Zahlenteufel, seine ganz eigene Einführung in die Mathematik, ein Weltbestseller, veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen Bücher zur deutschen Sprache, zur Lyrik, auch einen Schreibratgeber. Welche Gedichtzeilen fallen zuerst ein (und werden allen Nachrufenden gern zudiensten sein?). Wohl die zum Fliegenden Robert: „Eskapismus ruft ihr mir zu / vorwurfsvoll. /Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! –, /spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte.“ Das stand 1980 in Die Furie des Verschwindens. Da war er längst den in ihren Gesinnungsbahnen Trottenden verdächtig als Seitenwechsler oder Luftikus. Titulierungen derart hat er ohnehin reichlich eingeheimst: Dandy, Snob, Highbrow, Hans Dampf, Gaukler, Chamäleon, Irrlicht, Seiltänzer, Luftwesen. Auch „Herablaßprediger“ oder gar eine „kapriziös-seltene, vielarmige Variante des Tintenfischs“. Hierzulande gilt ja immer noch als ausgemacht, dass Artist und Virtuose nichts gelten. Dabei ist das gar nicht so. Es ist nur so, dass es von denen so wenig gibt. Und Hans Magnus Enzensberger war beides und obendrein ein public intellectual, der es sich leisten konnte, nicht jeder Sau, die durchs Mediendorf getrieben wurde, den Schwanz zu ringeln. Mein Enzensberger-Muster rührt aus den Sechzigern, in geradezu fassungsloser Bewunderung las ich ein Gedicht wie Ins Lesebuch für die Oberstufe („lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:“), die Ode, die bald in die Lesebücher kam; ich las den vernichtenden Essay über die Sprache des Spiegels, der in demselben abgedruckt wurde – freilich ohne die kritischsten Passagen. Was er über die FAZ schrieb, Journalismus als Eiertanz, und was diese zu einer 44-seitigen Gegendarstellung veranlasste, Doppelzüngigkeit, zugleich anmaßend und subaltern, würdevoll und servil, ehrenfest und zynisch“, wollte man gern gelten lassen, weil man ohnehin die Frankfurter Rundschau las – und den Spiegel, den in der Tasche zu haben, damals einen Abiturienten für manche Lehrer noch des Kommunismus verdächtig machte.Hans Magnus Enzensberger war immer einen Schritt vorausAusgerechnet dem diagnostizierte er … augenöffnend – kühl, er desorientiere die Leser, „durch Koketterie mit der eigenen Gewitztheit“. Vom Weiteren her könnte man sagen, hier hat einer die Anderen kristallklar durch sich selbst gesehen. Doch träfe das nur bedingt. Denn ob er scheinbar den Tod der Literatur verkündete und beiher Gedichte schrieb, ob er mit Aplomb von den USA aus ins revolutionäre Cuba reiste, um von den dortigen Zuständen sich genauso entschieden enttäuscht zu zeigen, er tat es auf eigene Faust, eigenes Risiko und aus weltoffenem Eigensinn. Meist war er bei solchen Wendungen einfach nur heller und schneller als die, die sich darüber empörten, um späterhin klandestin ihm nachzufolgen. Naturgemäß war ihm nicht fremd, was Brecht den Intellektuellen nachgesagt hatte, dass sie vom Vorsprung lebten. Er tat es. Und von der Überbietung. So, wenn er in Einzelheiten Adornos und Horkheimers „Kulturindustrie“ mit seinen Ausführungen zur „Bewußtseinsindustrie“ zu toppen suchte. Daneben und darunter aber gab es auch einen Strang, der nicht einfach nur faszinierte, sondern Kontinuität in den Wendungen und Wandlungen bedeutete, ein Gespür fürs Naturgeschichtliche. So waren seine frühen Gedichte nicht nur solche der allfälligen Gesellschafts- oder Konsumkritik, sondern auch solche der Naturbeobachtung oder der überdauernden Dinge. (Das Gedicht Candide endet: „Dämonie? Ist gewöhnlich Dilettantismus, / Katastrophen? Kaffeeklatsch der Geschichte, / überdauert von Tonkrügen, von Profilen, / und von deinen Aprikosen, Candide.“ Oder aus Lachesis lapponica: „(¡Viva! ruft der düstere Vogl: ¡Viva Fidel Castro!) / Was hat Castro damit zu schaffen! (Was hast du damit zu schaffen / mit dem Wollgras, dem Pfeifengras am düsteren Wasser?)“. Am Ende dann: „Laß mich im Unbeschriebenen. […] (Und der düstere Vogel / in meinem Kopf sagt zu sich selber: Er schläft, also / ist er einverstanden.) / Aber ich schlafe nicht.“ Sehr viel später: „Phantasielos und konservativ / halte ich mich an Verheißungen, / die älter sind: Erde zu Erde / und Staub zu Staub.“Nun ist er 93-jährig gestorben. Was ist er im Laufe dieses Lebens nicht gewesen oder geworden? Er ist nicht 97 geworden, wie sein Großvater. Er war kein Erzähler („das Erzählen liegt mir nicht“) und kein Autobiograph („Es gibt Leute, die alles säuberlich auf Flaschen abfüllen und Memoiren daraus machen. Mir ist dieses Verfahren schleierhaft.“) – aber mit allem sonst war er und bleibt er eine eigene literarische und intellektuelle Galaxie.Nachsatz zum Schreiben, den er 1956 schrieb: „Ein Autor, der die Sprache zu einer Äußerung zwingt, übernimmt für das Resultat die Verantwortung, indem er es veröffentlicht. (…) Ja und Nein sind nicht Experimente: sie sind Entscheidungen. Wird ein geometrischer Ort der Kühnheit gesucht? Hier ist er.“