Heilsamer Segeltörn

Pädagogische Fabulierlust In seinem Roman "Glückseligkeit" erläutert Zülfü Livanelis die Probleme der Türkei im Stil des didaktischen Realismus

Cemal, gerade als Soldat aus den Kämpfen im Kurdengebiet zurückgekommen in das schäbige Heimatdorf am Van-See, wo früher einmal Armenier lebten, bekommt von seinem Vater, einem heiligen Mann mit Anhängern selbst im fernen Istanbul, einen Auftrag: "Das Mädchen ist schuldig - vor Gott und den Menschen. Wenn die läufige Hündin nicht mit dem Schwanz wedelt, rennt ihr auch kein Rüde nach. Du kennst unsere Sitten, daher weißt du auch, dass es deine Aufgabe ist, diese Schande zu tilgen." Cemals Vater selbst hat die siebzehnjährige Nichte Meryem vergewaltigt. Cemal soll sich ihrer in Istanbul entledigen, wie auch immer. "Die kleine Meryem sollte also umgebracht werden, und er war dazu ausersehen, die Tat auszuführen. Das war schon in Ordnung. Es war ja auch keine so große Sache. Was bedeutete schon ein Menschenleben."

So läßt der Erzähler Cemal reagieren. Soll signalisieren: Cemal ist durch den Militärdienst verroht worden. Dumm nur, dass er zuvor als mal sentimental, mal wütend, aber nie so gleichgültig vorgeführt wurde. Fortan wird er jedesmal im letzten Moment vor dem Mord zurückschrecken. Und so wird ganz zum Schluß Meryem, die sich für verflucht und gottverlassen hält, glückselig "ganz sicher, dass Gott endlich auch sie liebte." Waren wir bis zum Mordauftrag schon über eine Achterbahn der Ereignisse und Gefühle geschickt worden, so steht bis zum glücklichen Ende noch die Geisterbahn bevor. Denn Glückseligkeit ist geradezu ein Jahrmarkt türkischen Alltags und türkischer Geschichte. Haben wir zunächst noch die brutale Bigotterie eines unaufgeklärten Lebens in der tiefen Provinz kennengelernt, uns vertraut gemacht mit dem harten Alltag beim Militär, der Brutalität der Kämpfe zwischen Kurden und Armee, bei denen Cemal und sein Freund Memo auf unterschiedlichen Seiten stehen, so begegnen wir später auch noch einer dritten Figur, die für eine gänzlich andere Welt steht - dem liberalen Soziologieprofessor Irfan in Istanbul.

Aus Izmir und aus kleinen Verhältnissen stammend, hat er in Harvard studiert, dort seine Frau - Tochter eines reichen Reeders - kennengelernt, und als Talkmaster in der Fernsehshow seines Schwagers viel Geld verdient. Irfan, der sich von Nikos Kazantzakis bis Sigmund Freud, Nazm Hikmet bis Homer, Joseph Campbell bis Cesare Pavese locker durch die Mythen- und Literarkultur zitiert, steckt in einer existentiellen Krise. "Wir leben in einer nihilistischen Zeit, nicht nur ich, sondern jedermann. Keiner ist mit seinem Leben zufrieden. Alle kriechen unruhig umher, auf der Suche nach einem besseren Leben - freilich ohne zu wissen, worin dieses Leben bestehen soll. Es gibt keine Definition dafür, und so mangelt es der Gesellschaft an Mythen und Idealen."

Während Cemal und Meryem sich auf die Reise nach Istanbul begeben, bekommt der Leser Einblick in weitere gesellschaftliche Verwerfungen und macht dabei Bekanntschaft mit Kommunistenjägern, Aleviten und schwulen Sängern. Cemal muss erfahren, dass sein Bruder keineswegs in Saus und Braus lebt, sondern in einem Slum bei Istanbul. Und Meryem muss mit ansehen, in welche Not Frauen durch eine Abtreibung gestürzt werden. Wir geraten in eine Razzia gegen die Hisbollah und werden mit einem Leben konfrontiert, in dem der Fernseher die Welt ersetzt. Während Cemal von seinem Militärkameraden zur Raison und zusammen mit Meryem ans Meer gebracht wird, hat sich der Professor mit genügend Dollars eingedeckt und ist in seine alte Heimat aufgebrochen. Dort ist freilich nichts mehr so wie früher. Weshalb sich Irfan auf eine heilsame Segeltörn in die Ägäis begibt. Dabei, wir ahnen es längst, trifft er auf Meryem und Cemal und nimmt sie mit an Bord.

Sein Versuch, die zunehmend aufgeweckte Meryem im Schnellkurs zu modernisieren, endet in einer dramatischen Re-Inszenierung ihres Vergewaltigungstraumas, die in jeder Hinsicht kathartische Wirkung hat. Der Professor verliert seine Schneidezähne und geht zurück nach Istanbul, Cemal muß sich der Wahrheit stellen und versucht einen Neustart in Istanbul. Meryem selbst bleibt im Fischerdorf, um in einem Restaurant zu arbeiten. "Das Leben ist manchmal kitschiger als die Klischees der Traumfabrik", heißt es gegen Ende. Wie wahr!

Zülfü Livaneli, Jahrgang 1946, dem Klappentext zufolge einer der bekanntesten Sänger und Filmemacher der Türkei - Orhan Pamuk preist ihn als "unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei" - lässt nichts unversucht, die Traumfabrik zu übertrumpfen. Leider neigt er dabei ständig - wovon die vorstehenden Zitate nur einen schwachen Eindruck geben - zu einem Gestus der Belehrsamkeit, mit aufdringlichen Erläuterungen und redundanten Erklärungen.

Während die von Hollywood inspirierte, gehobene Unterhaltungsliteratur in der Regel auf Dialoge setzt, werden hier die Figuren eher im Stil des didaktischen Realismus wie Puppen geführt, deren Inneres vom Erzähler ständig aufgeklappt und ausgestellt wird. Doch selbst wenn die oft hölzern holpernde Sprache nicht der Übersetzung geschuldet sein sollte, wird man daraus nicht auf das Unvermögen des Autors schließen müssen. Vielmehr scheint sie selbst ein Symptom der diagnostizierten Krisensituation in der Türkei zu sein. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, religiösen, ja, historischen Konflikt- und Verwerfungslinien scheinen derart groß, dass, wer auch nur sie aufzählen will, leicht außer Atem gerät.

So gesehen, verwundert es nicht, dass Livanelis Figuren, die durch die wesentlichen Polaritäten und extremen Konstellationen geführt werden sollen, aus ihrer jeweiligen Situation flugs immer wieder an Erklärungsfäden fortgezogen werden, um in die nächste symptomatische Lage zu geraten. Entschädigt wird man dabei durch reichlich Anekdoten und Märchen, Fabulierlust und anrührende Momente. Als verbindende Klammer dienen die wiederkehrenden Träume der drei Protagonisten, die am Ende zyklisch den Roman beschließen. Aber sie stehen für mehr. Der Professor bezieht sich zwar auf Freuds Bemerkungen zu Witz und Sexualität, wenn er eingangs sagt: "Wäre der gute Professor Sigmund noch am Leben, könnte ihm die Türkei als riesiges Laboratorium zum Beweis seiner Theorie dienen." Aber das lässt sich auch auf die Träume ausdehnen, die Livaneli seine Figuren träumen läßt. So ist sein Roman letztlich selbst ein einziger Traum, ein türkischer Traum mit türkischen Deutungsversuchen.

Zülfü Livaneli Glückseligkeit. Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Wolfgang Riemann. Roman, Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 313 S., 22,90 EUR

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