Honecker hasste Mundgeruch

Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz beschäftigt sich diesmal in seiner Kolumne mit Lebensläufen, die der Realsozialismus schrieb
Honecker hasste Mundgeruch

Illustration: Otto

Günter Mittag vom ZK war der unangenehmste Esser und Trinker, den Lothar Herzog zu bedienen hatte. Herzog war nämlich „Personenschützer“ und Erich Honeckers Kellner, 22 Jahre lang. Darüber hat er jetzt ein Buch geschrieben. In all den Jahren hat Erich Honecker (EH) ihn wie Luft behandelt, weil der Proletenstaatsoberste keine Diener regieren, aber doch einen persönlichen haben wollte. Seine Säuerlichkeit hat er durch morgendlichen Zitronensaft trainiert, wenn’s süßer sein sollte, musste Langnese-Honig aus dem Westen her. Und Margot rauchte HB. Wer soll da nicht gleich in die Luft gehen? Mit Herzog ziehen wir von Wandlitz nach Drewitz über Hubertusstock und Döllnsee, fliegen staatsbesuchend immer mit in die weite, meist sozialistische oder Dritte Welt, wo – Höhepunkt! – Herzog aus Guinea eine Bananenstaude illegal einführte. Hat den Kindern geschmeckt! Und EH? Einsam, einsam! Aber gern gejagt hat er und gegen Günter Gaus gewonnen: der hatte nur zwei, EH aber 18 Haserln erledigt! Und Mundgeruch hasste EH auch.

Mundgeruch war für Erwin Jöris das Geringste, denn der hatte die Schnauze bald voll. Half ihm aber nicht; er musste mit seiner losen Klappe durch die rotbraune Mühle des Jahrhunderts. 1912 geboren als Prolet in Lichtenberg, KPD-Jugendfunktionär, ’33 abgetaucht, in die Sowjetunion gegangen, dort 1938 vom NKWD als „faschistischer Hetzer“ verschleppt, an die Nazis ausgeliefert, als Soldat nach Russland zurück, Kriegsgefangenschaft in Sibirien, zurück nach Berlin, bei den Genossen angeeckt, von den Russen neuerlich verschleppt und als Agent der Gestapo etc. zu 25 Jahren verurteilt, von denen sechs in Sibirien abgearbeitet, zurückgekommen. Eine gar nicht so seltene Kommunistengeschichte. Eine Zeitzeugengeschichte des Jahrhunderts. Was sie von anderen aus der gewaltigen biografischen Welle unterscheidet – dies ist kein Privatgejammer, sondern von einem versierten Historiker aufgezeichnet und derart materialreich, zugleich so gut strukturiert, dass man eine plastische, komplexe Geschichte des Jahrhunderts erhält, eingespannt zwischen ideologischen Fronten und inhumanen Apparaten. Da sind 520 Seiten nicht zu viel.

Nach Sibirien ist Erika Riemann nicht gekommen, auch wenn es ihr angedroht wurde. Aber acht Jahre in Bautzen, Sachsenhausen und Hoheneck sind kaum weniger menschenunwürdig, vor allem wenn man mit 14 Jahren inhaftiert wird. Keine 64 Gewaltdelikte wie Mehmet, sondern lediglich eine Schleife um Stalins Bart, gemalt mit Lippenstift, trug ihr das ein. Damit sie überhaupt eingesperrt werden konnte, wurde sie von den Sowjetbehörden zwei Jahre älter gemacht. Erika Riemanns Buch darüber ist 2006 zuerst erschienen, nun als Taschenbuch zu haben. Es schildert, was man gedankenlos eine Odyssee zu nennen pflegt, aber hier gibt’s keine Kirke, keine Phäaken, sondern Hunger und Herabwürdigungen, Prügel und psychische Zusammenbrüche. Das ist ebenso beeindruckend dargestellt wie schlimm. Aber damit hört das Buch nicht auf, sondern zeigt, wie ein Leben buchstäblich sich verläuft, das so beginnt und von dem anschließend nicht gesprochen wird. 45 Jahre dauert es, bis Riemann mit sich im Reinen ist. Mit 70 Jahren hat sie das aufgeschrieben. Die Aufmerksamkeit darauf bekam ihr nicht nur gut. Sie wurde von Stefan Raab verhöhnt. Das steht auf einem anderen Blatt, kommt aber auch aus Menschenverachtung.

Noch einmal Zeitzeugen. Doppelt – als Dokumentarfilmer Zeitbegleiter der DDR, nun Rückblickende auf diese Begleitung. Für Filminteressierte eine wahrlich ehrfurchtsgebietende Versammlung. 21 Regie-Autoren, darunter, um wenigstens die zu nennen: Winfried und Barbara Junge (Die Kinder von Golzow), Volker Koepp (Sommergäste bei Majakowski, Wittstock-Serie), Kurt Maetzig oder Konrad Wolf. Das Spektrum des Erzählten ist so groß wie das der Themen und Arbeitsbedingungen, Jahrgänge und Temperamente. Entstanden ist ein bemerkenswertes Kompendium zum Dokumentarfilm der Defa, dessen Ruhm ja nun wahrlich nicht unbegründet war, damit hoffentlich auch ein Stachel gegen das Vergessen. Dazu jedoch ebenso ein Kompendium zu den künstlerischen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR – und damit keineswegs nur für Cineasten interessant!

Honecker privat. Ein Personenschützer berichtet Lothar Herzog Das Neue Berlin 2012, 191 S., 12,95 €

Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat Erwin Jöris, Andreas Petersen marix 2012, 520 S., 24,90 €

Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach Erika Riemann dtv 2012, 254 S., 9,90 €

Das Prinzip Neugier. Defa-Dokumentarfilmer erzählen Ingrid Poss, Christiane Mückenberger, Anne Richter neues leben 2012, 639 S., 29,95 €

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