Im Kreisverkehr

Unterforderungsillusion Wenn wir einen Parkplatz vorm Su­per­markt ansteuern, verhalten wir uns nach vorhersagbaren Mustern. Tom Vanderbilt untersucht, warum und wie wir mit dem Auto verkehren

Titel: Auto. Womit beginnen? Mit den angeblichen Konvois angeblich prämienabgewrackter Autos, die angeblich über das Baltikum tief in den russisch-asiatischen Raum vorstoßen oder angeblich auf dem Containerweg ins Herz der Finsternis unterwegs sind? Oder mit Opel?

Vielleicht mit General Motors. Dessen Vize­präsident ließ in der Krise 1973 verlautbaren: Wer glaube, dass eine Company, die über 65 Jahre gewachsen sei, nicht in der Lage wäre, solche Herausforderungen zu meistern, zweifle an dem gesunden Menschenverstand und verleugne die Geschichte. Und inzwischen ist diese Geschichte ja noch 36 Jahre würdiger geworden!

Vielleicht beginnen wir aber doch lieber mit jener Dame, die in Braunschweig von der Polizei aus dem Verkehr gezogen wurde, weil sie, um ihr neues Auto einzufahren, einen Kreisel mehr als 50-mal umrundete, ohne Anstalten zum Ausfahren zu machen. Sie tat also das freiwillig, was Gerüchten zufolge am Picadilly Circus oder am Arc de Triomphe manche zwangsweise ihren Tank leerfahren ließ.

Mit dem Kreiseln sind wir jedenfalls dem Thema wesentlich näher, das der deutsche Titel von Tom Vanderbilts Buch, Auto, eher tarnt, als dass es dessen Fahrtrichtung anzeigt. Traffic – so das Original. Und eben darum geht es: um den Verkehr. Darum, wie wir mit dem Auto und darin untereinander verkehren.

Metaphysisch aufgekratzt

Nun kommt der Autoverkehr nicht von ungefähr, sondern hat eine lange Vorgeschichte, die unter anderem den Rechts- oder Linksverkehr beeinflusste. Oder die fatale Präferenz für den Individual­verkehr. Überhaupt ist, was Menschen von A nach B bringen soll, in einem derartigen Maß irrational fundiert, dass man – zumal, wenn man Vanderbilts wunder­sames Buch gelesen hat – geradezu so metaphysisch aufgekratzt durch den Verkehr geht wie durch die nicht mehr vorhandene Gottesnatur.

Verkehrswissenschaftler wissen zum Beispiel, dass es verkehrt ist, auf noch mehr Straßen oder Spuren zu setzen, um dem Stau zu entkommen. Dadurch dehnt sich unterm Strich nur die Mobilitätsreichweite aus, der Verkehr wird aber nicht entlastet. So gehört es zu den mirakulösen Gesetzen der Mobilität, dass die Menschen überall auf der Welt, ob auf Fußpfaden im Urwald oder auf Highways der Städteagglomerationen, etwa gleich viel Zeit verausgaben, um dorthin (und zurück) zu kommen, wohin sie zu müssen meinen: etwa eine Stunde und sechs Minuten.

Staus bei Unfällen sind ein Perpetuum Immobile – die Gaffer entschleunigen, ob sie nun die Kollidierten voyeurisieren oder den Paravent beglotzen, der vor Blicken schützen soll. Mysteriöserweise sind ohnehin 90 Prozent der Straßen zu 90 Prozent der Zeit staufrei. Innerstädtisch wiederum wird Stau zu einem erheblichen Maß durch Parkplatzsuch­verkehr verursacht, vor allem, wenn es um kostenloses Parken geht.

Wenn wir einen Parkplatz vorm Su­per­markt ansteuern – Inbegriff von Energievergeudung, ineffizienter Landvernutzung und Umweltsauerei –, verhalten wir uns nach vorhersagbaren Mustern. Anthropologischen Konstanten gewissermaßen.

Ob Fußgänger an einer Ampel auf Grün warten oder Linksabbieger im Gegenverkehr – nach 30 Sekunden ist die Geduld erschöpft und riskantes Verhalten steigt exponentiell. Ohnehin gibt es so etwas wie Risiko-Homöostase (auch: Peltzman-Effekt), das heißt: Wir richten unser Verhalten am vermeintlichen Risiko aus. So, wie wir intuitiv davon ausgehen, dass mit wachsender Entfernung zum Ausgangsort die Geschwindigkeit der Fortbewegung steigen wird.

Zwischen Spiegelkabinett und Geisterbahn

Sich mit Verkehr zu befassen bedeutet, etwas über menschliche Sinnesfunktion und ihre Grenzen, wie über geradezu erschreckend stabile Verhaltensatavismen erfahren zu müssen. Aber nicht nur. Vanderbilt zeigt zugleich, wie sehr der Verkehr zum Beispiel mit veränderten Arbeitssituationen und Familienverhältnissen zu tun hat. Amerikanischen zumal, die sich bekanntlich viral auszubreiten pflegen.

So ist der Zuwachs an Verkehr in den USA, aber auch in Europa, in hohem Grad Konsumfahrten und Nachwuchstransporten zu diversen Freizeitaktivitäten geschuldet. Ebenso wie dem Umstand, dass man seinen Kaffee bei Starbucks holt – in den USA gibt es inzwischen Starbucks-drive-throughs – und eben Pizza und Hamburger bei den einschlägigen Verdächtigen.

Auto fahren ist die wahrscheinlich komplexeste Alltagstätigkeit, die wir zu meistern haben. Nicht weniger als 1.500 Einzelfähigkeiten sind dazu nötig. Paradoxerweise führt gerade die Automatisierung dieser Komplexität zur Unterforderungsillusion, die uns beispielsweise dazu bringt, unterwegs zu telefonieren, was die Überforderung steigert und das Unfallrisiko erhöht – übrigens ziemlich gleich, ob mit Freisprechanlage oder dem Handy am Ohr!

Vanderbilts Buch über den Verkehr kann man lesen wie einen Rummelplatzbesuch, als permanenten Wechsel zwischen Spiegelkabinett und Geisterbahn. Es hält von der ersten Seite an Anekdoten und Kuriositäten bereit, lächerliche wie gruselige. Munition noch und noch für Kantinen- oder Bargespräche.

Mehr als ein flotter Schlitten

Thematisch wie stilistisch ist es Malcolm Gladwells Bestellern Tipping Point und Blink verwandt, amüsant und lebhaft geschrieben, voller Überraschungen und verblüffender Konklusionen. Doch ist es weitaus mehr als nur so ein flotter Sachbuch-Schlitten mit viel Schnick­schnack und Chrom. Es ist durch alle vermeintlich leichte Unterhaltsamkeit hindurch eine auf umfassender Recherche und unzähligen Expertengesprächen beruhende – allein die Danksagung ist ein Informantenparkplatz, der sich über nicht weniger als sieben Seiten streckt – seriöse und ernst zu nehmende Studie.

Ja, so über das Spektrum von menschlichen Wahrnehmungskapazitäten bis zu Risikoberechnungen, Außenspiegel bis Verkehrszeichen, Pendler- und Kreiselverkehr wird es unter der Hand zum Epos der Gegenwart, zur menschlichen Tragikomödie. Apropos Kreisverkehr: Vanderbilt versucht sich auch an ein paar Auswegen aus der Staugesellschaft. Da wir offenbar nicht ernstlich von den Ameisen lernen können, ist ein Ausweg der Kreisverkehr, kombiniert mit dem Radikalabbau von Verkehrszeichen, nach holländischem Muster.

Ein anderer ist ausgerechnet der Wahnsinnsverkehr von Delhi, wo im Chaos der täglich circa 110 Millionen Verkehrsverstöße die heiligen Kühe als „mentale Rüttelschwellen“ fungieren. Das muss man selber lesen. Aber schließlich auch das noch zum tröstenden Ausblick: „Je besser es der Wirtschaft geht“, so das Expertenwissen, „desto mehr Kilometer werden zurückgelegt und desto länger sind die Staus.“ Warten wir also auf die Krise.

Auto. Warum wir fahren, wie wir fahren und was das über uns sagt Tom Vanderbilt, Hoffmann u. Campe, Hamburg 2009, 480 S., 23

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