Als die Nazis den Krieg vorbereiteten, rüsteten sie auch propagandistisch mit Kriegsromanen auf. Doch bald klagten sie, diese seien nun in „einer sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Fülle“ vorhanden. Wiewohl nicht propagandistisch, sondern allenfalls durch runde Jubiläumszahlen herbeigerufen, ließe sich das wohl bald auch über Kriegsende- und Wendepunktbücher sagen. Dutzende von Erinnerungen und Anthologien um 2005 wollen noch gelesen werden, nun folgt die nächste Welle. Zudem hat Keith Lowe gerade die anarchischen Jahre 1943 – 1950 dargestellt.
Nun Ian Buruma mit einem Wälzer: ’45. Die Welt am Wendepunkt. Bedrückend und aufregend entwirft er ein Panorama des gesetzesfreien Übergangs vom Krieg in den Nachkrieg in den Krieg: Am V-Day erhoben sich die Algerier gegen die französische Herrschaft, folgte über ein Jahrzehnt blutigster Unterdrückungskrieg; die Freiheitsbewegungen nach der japanischen Kapitulation in den niederländischen Ostindienkolonien wurden unter britischer und US-Assistenz bekämpft; in Vietnam stellten Briten und Franzosen die Kolonialherrschaft gewaltsam wieder her. Buruma hat auch die andere Seite der Welt im Blick. So erfährt man, warum es in Japan keine Kriegsverbrecherprozesse wie in Nürnberg gab. In dem, was Buruma noch einmal für Europa zusammenträgt – Gewalt gegen Peiniger wie Gepeinigte, massenhafte sexuelle Übergriffe der Befreier, Gangster und Schieber, die Hilfsgüter verhökerten, ethnische Säuberungen, die Hitler wollte, nun unter alliierten Vorzeichen … Man kann das hier in seiner Komplexität nicht wiedergeben, wohl aber mit Buruma an das Unwahrscheinliche erinnern, dass daraus ein sich einigendes Europa entstand, aus dessen Rissen nun wieder die alten Dämonen lugen.
Auch Folgendes lässt sich in seiner Facettierung nicht nachzeichnen, der Versuch, die massenhaften Vergewaltigungen zum und nach Kriegsende in Zusammenhängen zu sehen. Zunächst einmal statt der fantastisch behaupteten 1,9 Millionen Opfer allein der Russen realistischere 860.000 aller Alliierten. Nicht nur von den Russen, sondern auch von Amerikanern und Franzosen ist also die Rede. Nicht nur von deutschen Frauen, auch von Polinnen und Französinnen, Zwangsarbeiterinnen und Jüdinnen muss gesprochen werden. Schließlich auch vom langen Schweige- und holprigen Aufarbeitungsweg. Unablässig um objektivierende Abwägung bemüht, wo man nur allzu leicht die Fassung verliert – die schwer erträglichen eingestreuten Dokumente: Erinnerungen, Tagebücher, Polizei- und Priesterberichte –, entfaltet Miriam Gebhardt in Als die Soldaten kamen die komplexe Thematik, die doch darauf hinausläuft: So unterschiedlich der offizielle Umgang, es gab keine nennenswerten Unterschiede im Umgang mit Frauen. (Ein Mysterium aber bleibt einstweilen, warum die Briten offenbar zurückhaltender sein konnten.)
In Champagnerlaune hatte Graham Greene, bereits berühmter Autor, 1924 mit seiner Cousine eine Afrikaexpedition beschlossen. Von Freetown in Sierra Leone ging es durch Französisch-Guinea nach Liberia. Wüste, Wald und Küste. Dutzende Träger, ein Koch, Boys, ein eigener Hofnarr, Chinin und geistige Getränke – und zwei Karten: Die britische zeigte einen weißen Fleck, die amerikanische Kannibalen und allerlei Erfundenes. Man reiste also ohne und unter ständig korrigierten Plänen. Ein Wechsel von günstigen Momenten und viel Öde und Mühsal. Greene kränkelt – schreibt Cousine Barbara ins Tagebuch (Im Hinterland, erschienen 2008).
Greenes eigener, hoch interessanter Bericht von 1936 liegt nun erstmals vollständig (und sehr gut) übersetzt, in der gediegenen Ausgabe Reise ohne Landkarten vor. Eine Reise auch ins eigne dunkle Herz, Stresstest fürs Erwachsensein sollende Ich in der „Welt der Primitiven“. Greene erkennt, dass das alles so einfach nicht ist. Schon, weil die „zivilisierte“ Welt mitmischt. Man hört Josephine Baker, ein Häuptling erweist sich als Whiskykenner, oder ein Colonel befriedet Aufständische durch ein Glas Ovomaltine. Es gibt neben Ratten, Kakerlaken, Ameisen oder Guineawürmern auch Händler, Lumpen, Bürokraten – und sogar Nazis. Da wird der Reisebericht zum Zeitporträt.
Von den deutschen Kolonien war lange, da sie ja lange her waren, ein eher mildexotisch irisierendes Bild in den Köpfen. Das hat sich in den vergangenen Jahren gründlich gewandelt. Und wer dabei den klandestinen Verdacht bekam, nun wollten „wir“ auch hier noch nachträglich Weltmeister des Bösen werden, kann nun die Probe darauf machen. Er wird in Christian Bommarius’ Der gute Deutsche ein solches Maß an roher Stupidität, abgrunddummer Mediokrität und aufgeblasener Selbstherrlichkeit finden, dass ihm graut. Bommarius schildert die in Deutschland wohlweislich verdrängte Geschichte von Manga (Rudolf) Bell, Enkel des Königs, der 1884 den deutschen „Schutzvertrag“ in Kamerun unterzeichnete. „Huren- und Schlemmerleben auf Kosten des deutschen Volkes“ hatte August Bebel den deutschen Kolonialen vorgeworfen; auf Kosten der Kolonisierten aber machten ungeniert Reich und Firmen Kasse. Systematischer Landraub, unter anderem für Kakaogesellschaften, Umsiedlungen und immer wieder Bestialisches. Der noch immer gültige Vertrag – ein Wisch.
Manga Bell hatte Erziehung in Deutschland genossen und war überzeugt von den angeblich deutschen Werten der Treue und Rechtlichkeit. So hatte er ab 1902 einen juristischen wie publizistischen Kampf gegen die immer dreisteren Vertragsbrüche begonnen. Darum beschloss man, ihn per Justizmord umzubringen. Sei es, dass man annahm, im Rauschen der Kriegsbegeisterung ginge das unter, sei es in panischer Erwartung eines englischen Angriffs gegen Kamerun, hat man Manga Bell am 7. August 1914 nach einem absurden Prozess gehenkt und seine Leiche drei Tage öffentlich zur Schau gestellt.
Info
’45: Die Welt am Wendepunkt Ian Buruma Barbara Schaden (Übers.) Hanser 2015, 432 S., 26 €
Als die Soldaten kamen:Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs Miriam Gebhardt Deutsche Verlags-Anstalt 2015, 352 S., 21,99 €
Reise ohne Landkarten Graham Greene Michael Kleeberg (Übers.), Liebeskind 2015, 352 S., 22 €
Der gute Deutsche. Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914 Christian Bommarius Berenberg 2015, 176 S., 20 €
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